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Interessen als soziale Praxis

Im Dokument Prekäre Privilegien (Seite 55-59)

3 Prekäre Privilegien

4.1 Interessen als soziale Praxis

Der Interessenbegriff dient in der vorliegenden Arbeit als analytische Kategorie um zu unter-suchen, wie Menschen sich im Kontext prekärer Privilegien positionieren. Interessen definiere ich als das Ergebnis subjektiver Abwägungen zwischen den vorgefundenen gesellschaftlichen Bedingungen einerseits und den eigenen Wünschen in Beruf, Familie und anderen Lebensbe-reichen andererseits. Die gesellschaftlichen Bedingungen umfassen dabei nicht nur soziale Strukturen, sondern auch symbolische Repräsentationen. Dieses Verständnis von Interesse be-gründe ich im Folgenden.

Die Bedeutung des Begriffes Interesse hat sich historisch verschoben. Noch bis zur zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird der Begriff in Wörterbüchern als Entschädigung und Zins definiert (Fisch 1982: 311). Der heutige Interessenbegriff ist ein „Produkt moderner Gesell-schaften“ (Lauterbach 2014: 205). Erst mit der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft erhält der Begriff die Bedeutung von „Nutzen, Vorteil, Profit, Gewinn und dient zunehmend als Ter-minus zur Bezeichnung der Gesamtheit dessen, was jemandem nützt“ (Neuendorff 2004: 1339).

Den Beginn der gesellschaftstheoretischen Bedeutung des Interessenbegriffes markiert das Aufkommen des ökonomischen Liberalismus (Koselleck 1982: 352f., 359). Eine Polarisierung zwischen einem bürgerlichen und einem marxistischen Ansatz hat über lange Zeit die sozial-theoretische Debatte zum Interessenbegriff geprägt (Neuendorff 2004). Auf der einen Seite stand ein utilitaristisch-individualistischer Interessenbegriff der bürgerlichen Soziologie. Dem-nach sind Interessen das, was einem Individuum seiner Vernunft Dem-nach politisch, ökonomisch

und sozial nützt (Neuendorff 1973: 100f.). Auf der anderen Seite stand ein marxistisch-struk-turalistischer Interessenbegriff. Nach diesem gelten Individuen als „Personifikation ökonomi-scher Kategorien […], Träger von bestimmten Klassenverhältnissen und Interessen“ (Marx 1962: 16), die im Kapitalismus antagonistisch, das heißt miteinander unvereinbar, sind. Der marxistische Interessenbegriff in der hier zitierten Form sieht Klasseninteressen als wesentliches Merkmal der gesellschaftlichen Position an, während spätere materialistische Theorien auch die Bedeutung anderer Herrschaftsverhältnisse für die Subjektivierung untersuchen.22 Die umfangreiche theoretische Diskussion zwischen einem utilitaristischen und einem materialistischen Ansatz kann im Kontext dieser Arbeit nicht umfassend aufgearbeitet werden. Für die Erarbeitung des Interessenbegriffs der vorliegenden Studie ist als theoretischer Hintergrund die Kenntnis der Kontroverse ausreichend, ob die Interessen aus der Vernunft des einzelnen Menschen entspringen oder ob Interessen von der sozialen Lage der Menschen geformt werden. In Abgrenzung zu dieser Polarisierung untersuche ich in der vorliegenden Arbeit Interessen als das Ergebnis einer sozialen Praxis, die von Individuen und sozialen Bedingungen gleichermaßen beeinflusst wird und die sich folglich nicht theoretisch-deduktiv, sondern nur empirisch untersuchen lässt. Einen solchen konstruktivistischen Interessenbegriff entwickle ich im Folgenden.

Um das Verhältnis von sozialen Bedingungen und individuellem Handeln kritisch untersuchen zu können, gilt es zunächst, verschiedene Bedeutungsebenen des Interessenbegriffes zu unter-scheiden. Hartwig Schuck unterscheidet zwischen manifesten, ethischen und positionellen In-teressen. Positionelle Interessen sind jene, die sich aus der individuellen Position in einem so-zialen Kontext ergeben, wobei sich aus der unmittelbaren soso-zialen Position eines Menschen verschiedene und mitunter gegenläufige positionelle Interessen ergeben können. Ethische Inte-ressen sind jene InteInte-ressen, die sich durch eine kritische Reflexion der gesellschaftlichen Be-dingungen – auch unter Berücksichtigung ihrer möglichen Veränderbarkeit – als gut für ein Individuum erweisen. Sie sind von normativen Überzeugungen, etwa über die menschliche Na-tur und das gute Leben, geprägt. Manifeste Interessen sind jene, die ein Mensch tatsächlich verfolgt (Schuck 2014: 304–309). Mit Schuck betrachte ich manifeste, empirisch zugängliche Interessen als Ergebnis subjektiver Verknüpfungen von positionellen und ethischen Interessen.

In der Handlungstheorie ist solch ein konstruktivistischer Interessenbegriff „zu einem grundle-genden Baustein geworden, der zielgerichtetes Handeln erklärt“ (Lauterbach 2014: 206). Um zu analysieren, wie Menschen ihre Handlungsbedingungen subjektiv deuten, beziehe ich mich

22 Beispielhaft sei hier auf materialistische Theorien verwiesen, in denen Geschlecht als eine Vergesellschaf-tungsform betrachtet wird, die gegenüber Klassenverhältnissen eine eigene Geschichte und Funktion im Kon-text sozialer Arbeitsteilung hat (Barrett 1990: 26ff.), außerdem auf Analysen zur ökonomischen Bedeutung von Sexualität (ebd.: 45ff.) und dazu, wie Rassismen feministische und klassenbezogene Solidarität verhin-dern (Joseph 1993). Zur Verwobenheit verschiedener sozialer Ungleichheits- und Herrschaftsverhältnisse vgl.

das Unterkapitel 4.3 zu Intersektionalität.

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auf die Unterscheidung zwischen Bedingungen, Bedeutungen, Gründen und Prämissen, wie sie in der Kritischen Psychologie entwickelt wurde:

„Bedingungen meinen die objektiv-ökonomischen Lebensumstände, Bedeutun-gen verweisen darauf, inwieweit diese BedingunBedeutun-gen Handlungsmöglichkeiten und -behinderungen enthalten, während Prämissen schließlich die Bedeutungs-aspekte meinen, die jeweils die einzelnen Individuen für sich aus ihren jeweiligen Gründen akzentuieren.“ (Markard 2011: 24)

Manifeste Interessen lassen sich dementsprechend als das Resultat der Vermittlung zwischen gesellschaftlichen Gegebenheiten und subjektiven Handlungsgründen und Handlungsprämis-sen definieren.

Auch in der Arbeits- und Industriesoziologie findet ein solcher konstruktivistischer Interessen-begriff Anwendung, ist hier jedoch analytisch begrenzt auf Erwerbsarbeit. Rudi Schmidt und Rainer Trinczek (1999) sowie Ingrid Artus (2008) untersuchen Interaktionsmuster zwischen Betriebsräten und Managements. Ein konstruktivistisch-praxeologischer Interessenbegriff wird von ihnen in Abgrenzung zu einer strukturdeterministischen Auffassung des Handelns von In-teressenvertretungen im Betrieb in Anschlag gebracht. Sie betonen den konstruktiven und in-terpretatorischen Charakter.

„Die Heterogenität und Widersprüchlichkeit von Interessenlagen auf der gesell-schaftlichen Strukturebene macht es unmöglich, im Sinne einer deterministischen Ableitungslogik konkretes Akteurshandeln bestimmen zu wollen. Vielmehr bedarf es auf Seiten der Akteure stets eines konstruktiv-interpretatorischen Aktes der Definition, um die je eigenen individuellen Interessen zu bestimmen.“ (Artus 2008: 70f., vgl. auch Schmidt/Trinczek 1999: 188)

Die individuellen Einstellungen zur Erwerbsarbeit werden auch mit dem Konzept der Interes-senidentität untersucht, welches am Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung in München seit 1999 entwickelt und angewendet wird. Interessenidentität bezeichnet ein „Bewusstsein der Individuen über ihre soziale Stellung“ (Boes 2006: 233). Gemeint ist damit nicht ein objektives, strukturtheoretisches begründbares Wissen, sondern eine subjektive „innere Haltung“ zu sich und den sozialen Verhältnissen (ebd.). Die Konstruktionsleistungen der Individuen stehen im Zentrum:

„Interessenidentitäten sind kein ‚Persönlichkeitsmerkmal‘, sondern ein im so-zialen Prozess beständig zu reproduzierendes Moment der Identität eines Men-schen. Auf der Grundlage ihrer Interessenidentität bilden die Beschäftigten je unterschiedliche Handlungsstrategien zur Durchsetzung ihrer Interessen aus.“

(ebd.)

Interessenidentität legitimiert Handeln und gibt ihm eine Richtung. Sie wird kontextabhängig und in Auseinandersetzung mit der Umwelt gebildet – im erlebten oder vorweggenommenen

Interessengegensatz zu Anderen. Die Position der Subjekte ist Grundlage dieser Aneignung, aber determiniert sie nicht. Vielmehr ist die Herausbildung von Interessenidentitäten ein be-ständiger Prozess in Auseinandersetzungen und in sozialen Beziehungen (ebd.: 232–234).

Diese Sichtweise übernehme ich. Meine Fragestellung geht dabei aber über erwerbsarbeitsbe-zogene Interessen hinaus und bezieht ein, wie Menschen das Verhältnis unterschiedlicher Le-bensbereiche gestalten. Konzeptionell soll das Wechselverhältnis von Individuum und sozialen Bedingungen so in den Blick genommen werden, dass alle Arbeitsbereiche, aber auch alle Ebe-nen der Gesellschaft – in ihrer möglichen Bedeutung für subjektive Konstruktionsprozesse von Interessen – berücksichtigt werden. Dies umfasst auch kollektive Interessenartikulationen, etwa in Diskursen politischer Akteur_innen.

Ein weiterer zentraler Aspekt der Definition des Interessenbegriffs ist die Frage, ob es sich um bewusste oder unbewusste Konstruktionsleistungen handelt. Laut Andreas Boes und Katrin Trinks entsteht Interesse zwar aus Wünschen, diese sind aber nicht zwangsläufig mit Hand-lungszielen verbunden. Wünsche werden erst dann zu Interessen, wenn Menschen sich mit ihnen identifizieren, sich ihnen verpflichtet fühlen oder deren Umsetzung als legitim einfordern (Boes/Trinks 2006: 47). In die gleiche Richtung gehen Stefanie Hürtgen und Stephan Voswinkel. Sie unterscheiden zwischen Ansprüchen und Wünschen. Nicht erfüllte Ansprüche führen zu Empörung und möglicherweise zu Handlungen, während nicht erfüllte Wünsche zu passiver Enttäuschung führen. Ansprüche sind durch Normen legitimiert (Hürtgen/Voswinkel 2012: 58). Auf Interessen angewendet heißt dies: Interessen unterscheiden sich von Wünschen durch ihren Bezug auf Werte und Normen. Dadurch erlangen Interessen eine Begründung und Legitimierung und somit einen Status als etwas, auf dessen Umsetzung ein Anrecht besteht und das von der Gesellschaft oder einer konkreten Institutionen eingefordert wird. Interessen als bewusste Konstruktionen zu verstehen, ist dabei nicht gleichbedeutend mit der Begrenzung auf sprachlich formulierte Begründungen. Interessen sind zwar bewusste und aktive Konstruktio-nen, umfassen aber nicht nur in Gedanken oder Sprache ausgedrückte Positionierungen. Viel-mehr können sie sich auch durch alltägliche Handlungen ausdrücken, die eine „praktische An-eignung der uns umgebenden Welt“ darstellen (Völker 2008: 87f.).

In der deutschsprachigen Arbeits- und Industriesoziologe ist seit einigen Jahren die Debatte virulent, ob betriebliche Arbeitsbeziehungen der Logik der Interessen oder der Logik der An-erkennung folgen (Haipeter/Bromberg/Slomka 2016: 75). Vertreter_innen des AnAn-erkennungs- Anerkennungs-ansatzes deuten Konflikte als Ergebnis von Missachtungserfahrungen, Vertreter_innen des In-teressenansatzes deuten Konflikte als Ausdruck von Machtkämpfen zwischen Kapital und Ar-beit. Beide werden „als entgegengesetzte Orientierungen sozialen Handelns gefasst; Akteure sind demnach entweder strategisch motiviert oder symbolisch und moralisch orientiert“ (ebd.).

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Eine anerkannte These lautet, dass Angestellte die betrieblichen Konflikte als Anerkennungs-fragen erleben, während Arbeiter_innen diese als InteressenAnerkennungs-fragen wahrnehmen. Sozialphilo-sophisch wird diese Frage ähnlich im Hinblick auf soziale Konflikte diskutiert (ebd.). Aktuelle Veröffentlichungen sind auf eine produktive Verbindung beider Konzepte hin orientiert. So schlägt Stephan Voswinkel vor, Interesse und Anerkennung nicht als alternative Konzepte, son-dern als zwei sich ergänzende Perspektiven auf denselben Gegenstand, nämlich Konflikte, zu verstehen – als zwei Skripte, in denen Anliegen und Erfahrungen artikuliert werden können (Voswinkel 2011). Mit meiner Definition von Interessen kann ich mich der vermittelnden Po-sition anschließen. Dabei verstehe ich den Wunsch nach Anerkennung in beruflichen, familiä-ren und andefamiliä-ren Lebensbereichen als eine mögliche Dimension von Interesse.

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