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Bilanz: Bewährungsproben für ein privilegiertes Leben

Im Dokument Prekäre Privilegien (Seite 187-193)

7 Prekäre Privilegien im Alltag junger Ingenieur_innen

7.4 Bilanz: Bewährungsproben für ein privilegiertes Leben

Die empirischen Ergebnisse der vorliegenden Studie basieren auf Interviews mit angestellten Ingenieur_innen im Alter bis 40 Jahre, die seit einigen Jahren im Berufsleben stehen. Die Ana-lyseergebnisse beziehen sich auf Männer und Frauen mit und ohne Migrationshintergrund; des Weiteren auf Alleinstehende, Kinderlose und auf Eltern in heterosexuellen Paarbeziehungen.

Über alleinerziehende Eltern oder Eltern, die nach einer Trennung die Kinder abwechselnd im eignen Haushalt betreuen, und über Eltern in homosexuellen Partnerschaften können aufgrund des Samples keine Aussagen getroffen werden. Die Rolle von psychischen und physischen Be-einträchtigungen war in den Interviews ein so randständiges Thema, dass auch dazu keine ver-allgemeinernden Aussagen getroffen werden können.

Durch die vergleichende Analyse der vier empirisch fundierten Interessentypen konnte gezeigt werden, dass Ingenieur_innen in unterschiedlichen Lebensbereichen und in ihrer alltäglichen Vereinbarungspraxis mit vielfältigen Spannungen zwischen ihren Wünschen und den gesell-schaftlichen Rahmenbedingungen umgehen müssen. Die Analyseperspektive auf soziale Un-gleichheit hat gezeigt, dass hierbei drei Gruppen junger Ingenieur_innen besonders mit ein-schränkenden Bedingungen für die Realisierung eigener Wünsche und Interessen konfrontiert sind – wobei sich die Zugehörigkeit zu den Gruppen selbstverständlich überschneiden kann.

Dies sind erstens berufstätige Eltern, wie die Analyse der Zeitkonflikte zeigt. Es sind zweitens Berufsanfänger_innen, wie die Analyse der überlastenden Anforderungen zeigt. Und es sind drittens Frauen, wie die Analyse von Diskriminierungen zeigt.

Im Spannungsfeld zwischen selbstbestimmtem Leben und Zeitdruck wünschen sich junge In-genieur_innen, vielfältige Interessen verfolgen zu können. Gleichzeitig akzeptieren sie, dass der Beruf die Lebensführung dominiert. Selbstbestimmung wird damit gleichgesetzt, in der ver-bleibenden Zeit eigene Prioritäten zu setzen und sich den vielfältigen Anforderungen anzupas-sen. Soziale Beziehungen jenseits der Kernfamilie werden entgegen der eigenen Wünsche ver-nachlässigt. Dies gilt für Männer und Frauen und für Eltern und Nicht-Eltern gleichermaßen.

Die Menschen, die diesen Verzicht nicht akzeptieren, verzichten stattdessen auf berufliche Ent-wicklungschancen, was damit einhergeht, dass sie sich für eine dauerhafte Reduzierung des Erwerbsumfangs entscheiden. Die sozialen Positionen und außerberuflichen Interessen der be-ruflich Verzichtenden sind heterogen.

Jungen Eltern, die beruflich und familiär hoch engagiert sind, gelingt die Vereinbarung unter-schiedlicher Lebensbereiche durch ein eng kalkuliertes Alltagsmanagement. Sie beschränken sich dabei in der Verfolgung ihrer Interessen auf Beruf und Familie, statt ihren eigentlich viel-fältigen und darüber hinausreichenden Interessen nachzugehen. Diese Anpassung reicht unter beruflich hoch engagierten Müttern bis zur Vernachlässigung von Selbstsorge und Gesundheit.

In diesem durchstrukturierten Alltag wird die Sorgearbeit abgewertet. Die Realisierung der In-teressen, die sich auf das qualitative Familienleben beziehen, wird auf Wochenenden und Ur-laube begrenzt. Diejenigen, die im Gegensatz dazu eine eigensinnig-flexible Balance zwischen verschiedenen Anforderungen und eigenen Interessen realisieren, sind Menschen ohne Kinder oder Väter, deren familiäres Engagement kaum alltagsbezogene Sorgearbeit umfasst, sondern der Ernährerrolle entspricht.

Diejenigen, die egalitäre Partnerschafts- und Elternschaftsideale tatsächlich realisieren, sehen sich mit einer Benachteiligung von Eltern durch das an Vollzeit orientierte berufliche Leis-tungsideal konfrontiert. Es sind überwiegend Mütter, die davon betroffen sind, dass durch eine Reduzierung des Erwerbsumfangs ihre beruflichen Entwicklungschancen eingeschränkt wer-den. Nur in dem Interessentyp, der zugunsten außerberuflicher Interessen auf berufliche Ent-wicklungschancen verzichtet, ist der Verzicht Ausgangspunkt einer Kritik an den gesellschaft-lichen Bedingungen des Zeitmangels.

Im Spannungsfeld zwischen beruflichen Herausforderungen und Überlastungen gehen junge Ingenieur_innen einem aus ihrer Sicht befriedigenden Beruf nach. Sie können ihrem Wunsch entsprechend ihr technisches Fachwissen in gesellschaftliche und betriebliche Problemlösun-gen einbrinProblemlösun-gen. Sie erfahren Wertschätzung und Respekt für ihre berufliche Arbeit, und sie können ihre beruflichen Kompetenzen weiterentwickeln. Ihr Erwerbseinkommen gewährt ihnen einen befriedigenden Lebensstandard. Sie streben nicht nach Luxus, sehen sich aber frei von finanziellen Sorgen. Unbefristete und überwiegend tarifvertraglich geregelte Beschäfti-gungsverhältnisse gewähren ihnen eine biografische Planungssicherheit im Hinblick auf den Wohnort und den Lebensstandard. Sie haben die Möglichkeit, die berufliche Arbeitszeit auf die vertraglich vereinbarte Zeit zu begrenzen und die Lage der täglichen Arbeitszeit im Betrieb können sie so weit mitbestimmen, dass sie flexibel auf kurzfristige außerberufliche Terminan-forderungen reagieren können.

Gleichzeitig akzeptieren sie, dass sie insbesondere zu Beginn ihrer beruflichen Laufbahn Über-lastungen ausgesetzt sind, die bis zur Gesundheitsgefährdung führen. Durch eine erfolgreiche Bewältigung solcher Belastungsspitzen erwarten sie, sich für einen zukünftigen Umgang mit den hohen Anforderungen zu bewähren, die an verantwortliche Fachkräfte gestellt werden. Sie lernen ihre Belastungsgrenzen kennen, und einige erarbeiten sich dadurch ein gelingendes Grenzmanagement für die Zukunft. Auch die persönlichen Einschränkungen und Ungewisshei-ten durch befristete Beschäftigungsverhältnisse und Pendeln werden beim Berufseinstieg in der Aussicht auf spätere Privilegien in Kauf genommen.

Es gibt in zwei der drei nicht an Karriere orientierten Typen ein vereinzeltes Engagement in der kollektiven betrieblichen Interessenvertretung. Angesichts der erlebten Überlastungsgefahr ist die Ermöglichung von Grenzziehung ein zentrales Thema dieses Engagements. Das seltene

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kollektive Engagement im Betrieb ist institutionell abgesichert und erfolgt während der betrieb-lichen Arbeitszeit. Die Organisierung etwa in berufbetrieb-lichen Frauennetzwerken oder anderen ge-sellschaftspolitischen Gruppen sind Interessen, für deren Realisierung den jungen Inge-nieur_innen keine Zeit bleibt.

Im Spannungsfeld zwischen Gleichberechtigung und Diskriminierung haben Frauen und Män-ner die gleichen beruflichen Interessen. Sie möchten ihr Fachwissen in betriebliche und gesell-schaftliche Problemlösungen einbringen und sich beruflich weiterentwickeln. Personen die eine Aufstiegskarriere verfolgen, sind in der Minderheit. Frauen haben in der beruflichen Kultur aber einen unsicheren Status im Vergleich zu Männern. Sie sind in der Minderheit und junge Frauen stehen unter besonderem Druck, sich als respektierte Kollegin in den Augen der männ-lichen Kollegen zu bewähren. Dies gelingt ihnen, indem sie Diskriminierungserfahrungen in-dividuell bewältigen und Konflikte mit dem Umfeld vermeiden. Wenn Frauen mit Migrations-hintergrund zusätzlich mit Stereotypen über Migrantinnen konfrontiert sind, verstärkt das ihre Außenseiterinnenposition.

Viele der Interviewten sind Eltern und sie erleben den Alltag mit Kindern als Bereicherung.

Ihre partnerschaftlich-egalitären Vorstellungen und Praxen von Elternschaft und Arbeitsteilung in heterosexuellen Paaren sowie von der Vereinbarung von Elternschaft und Beruf begreifen die jungen Ingenieur_innen als zukunftsweisend und sie grenzen sich von einer älteren Gene-ration ab. Die forschungsleitende Annahme, dass die Wünsche von jungen Ingenieur_innen an die Vereinbarung von Beruf, Familie und anderen Lebensbereichen in Konflikt mit den beruf-lichen Anforderungen stehen, hat sich hier als fruchtbar erwiesen. Vor dem Hintergrund einer zeitextensiven beruflichen Arbeitskultur, in der berufliche Entwicklungsmöglichkeiten beson-ders stark an Vollzeiterwerbstätigkeit gebunden sind, zeigen sich deutliche Alltagskonflikte in der Vereinbarung von Familie und Vollzeitberuf. Auffällig ist eine verbreitete Positionierung als aktiver Vater. Väter und Mütter fordern ein Umdenken in Unternehmen und einen Abbau der beruflichen Nachteile für Eltern. Real sind es aber überwiegend Mütter, die die Mehrfach-belastung aus Beruf und Familie alltagspraktisch bewältigen oder ihren Erwerbsumfang redu-zieren und somit berufliche Nachteile in Kauf nehmen.

In der theoretischen Begründung der Forschungsperspektive auf prekäre Privilegien wurde die Frage nach den Umgangsweisen aufgeworfen. Es wurde gezeigt, dass unterschiedliche Befunde dazu vorliegen, inwieweit individuelles Interessehandeln gelingt oder an Grenzen gerät, und ob sich junge Ingenieur_innen angesichts prekärer Privilegien mit ihren Wünschen und Interessen den Anforderungen anpassen oder sich für Veränderungen stark machen (vgl. 3.3). Prekäre Pri-vilegien zeigen sich im Handeln der unterschiedlichen Interessentypen auf verschiedene Weise:

erstens daran, dass Verzicht als Voraussetzung für eine befriedigende Lebensführung akzeptiert wird, zweitens daran, dass für die Aussicht auf einen befriedigenden und privilegierten Beruf

gerade zu Beginn der beruflichen Laufbahn in Kauf genommen wird, an die Überlastungs-grenze zu geraten und Interessen in anderen Lebensbereichen zu vernachlässigen, drittens da-ran, dass Frauen die Diskriminierungserfahrungen im Beruf ganz überwiegend individuell und konfliktvermeidend bewältigen und viertens daran, dass die meisten Eltern entgegen ihrer Wün-sche auf eine gleichberechtigte Reduzierung der Erwerbsarbeit verzichten.

Für die abschließende Bilanz der empirischen Analyse greife ich die subjektwissenschaftliche Fragestellung auf, wo subjektives Handeln die Erweiterung der Lebensperspektiven der Han-delnden einschränkt und wo im subjektiven Handeln Ansätze für eine gesellschaftliche Verän-derung im Sinne einer Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten sichtbar werden (vgl. 5.3).

Mein Resümee lautet, dass junge Ingenieur_innen in einem hohen Maße bereit sind, den indi-viduellen Umgang mit den prekären, einschränkenden Aspekten ihres Alltags als Bewährungs-probe für ein privilegiertes Leben akzeptieren, diese BewährungsBewährungs-probe aber auch an einigen Stellen zurückweisen.

Bewährungsproben verstehe ich angelehnt an Luc Boltanski und Ève Chiapello als Bestandteil der Legitimitätsordnung sozialer Ungleichheit. Nach Boltanski und Chiapello kann eine Ge-sellschaft anhand der durch sie bereitgestellten Bewährungsproben definiert werden, „durch die die soziale Auslese der Personen erfolgt, sowie durch die Konflikte, die sich am Gerechtigkeits-gehalt dieser Bewährungsproben entzünden“ (Boltanski/Chiapello 2003: 74). Davon inspiriert verstehe ich Bewährungsproben als Zugangsprüfungen zu sozialen Positionen – hier als Hürde in der Erlangung oder dem Behalten von Privilegien –, allerdings nicht in einem formalen Sinn.

Vielmehr ziele ich mit dem Begriff der Bewährungsprobe auf die praktische, alltägliche Erpro-bung der Legitimität und der Grenzen von Einschränkungen in der Realisierung eigener Wün-sche und Interessen.45

Das Bestehen der Bewährungsprobe eines individualisierten Umgangs mit prekären Privile-gien bringt es mit sich, dass problematische gesellschaftliche Bedingungen – Zeitmangel, Be-lastungen, Diskriminierungen – auf Kosten der eigenen Interessen bewältigt werden. Dies drückt sich in einer ausgeprägten Bereitschaft zu Verzicht und Kompromissen aus, die junge Ingenieur_innen an den Tag legen. Die Akzeptanz der Bewährungsproben zeigt sich auch in

45 Ich benutze den Begriff der Bewährungsprobe somit nicht in dem engen von Boltanski und Chiapello definier-ten Sinn. Sie bezeichnen damit das „Kräftemessen“ zwischen Personen, Gruppen oder sozialen Einheidefinier-ten in einem formalisierten Rahmen, etwa Prüfungen, die aufgrund ihres formalen Charakters und einer normativen Übereinkunft gesellschaftlich legitimierte Zugangsvoraussetzungen zu sozialen Positionen darstellen (Boltanski/Chiapello: 72f.). Ein Anwendungsbeispiel ist die Analyse des deutschen Arbeitsmarktregimes durch Klaus Dörre et al. In Bezug auf Boltanski/Chiapello gehen Dörre et al. davon aus, dass „Erwerbslosigkeit zur Bewährungsprobe“ gemacht wird, indem die Jobvermittlungen den Erwerbslosen mit scharfen Zumutbar-keitsregeln diktieren, wie sie leben sollen. Durch die Akzeptanz dessen, sollen sich Erwerbslose als respek-table Gesellschaftsmitglieder beweisen (Dörre et al. 2013: 36f.).

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einer großen Leistungsbereitschaft gegenüber hohen Anforderungen sowie einem großen Durchhaltevermögen angesichts als problematisch erlebter Bedingungen. Offene Konflikte mit den bestehenden Bedingungen werden vermieden. Teils entspringt die Motivation dafür der subjektiv erlebten Selbstbestimmung im Alltag und einem als durchaus befriedigend er-lebten Berufs- und Familienleben, obwohl eigene Interessen zurückgestellt werden. Teils ent-springt die Motivation der Aussicht, sich in einem Beruf zu etablieren, von dem sich die jun-gen Injun-genieur_innen für die Zukunft eine gesicherte befriedijun-gende Tätigkeit und einen privile-gierten sozialen Status und somit eine umfassende Realisierung ihrer Interessen versprechen.

Gleichzeitig gibt es in den Alltagspraxen junger Ingenieur_innen Ansätze, die Bewährungspro-ben zurückzuweisen und somit das Maß der akzeptierten Einschränkungen zu begrenzen. Junge Ingenieur_innen sind nicht bereit, ein Leben nur für den Beruf zu führen, sondern wollen ihren Alltag ausgehend von einer Vielfalt von Interessen in unterschiedlichen Lebensbereichen ge-stalten. Ihre Erwerbsorientierungen weisen eine hohe Identifikation mit dem Status technischer Expert_innen und leistungsbereiter Fachkräfte auf, sind dabei aber deutlich mit Interessen in anderen Lebensbereichen verknüpft. In diesem Zusammenhang finden individuelle Grenzzie-hungen statt. Auch wenn die GrenzzieGrenzzie-hungen teils auf einem hohen Belastungsniveau ansetzen, so bestärken sie doch die Positionierung von Ingenieur_innen als eigensinnige Menschen mit vielen Handlungsmöglichkeiten in der Realisierung ihrer Wünsche und Interessen. Gesell-schaftliche Einschränkungen in der Realisierung der eigenen Interessen führen somit auch zu Kritik und sind in einigen Fällen eine Begründung dafür, sich kollektiv in Interessenver-tretungen für Begrenzungen der beruflichen Leistungskultur zu engagieren.

Kapitel 8 Ansätze für politisches Handeln 187

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