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Normalität und Prekarität

Im Dokument Prekäre Privilegien (Seite 154-157)

7 Prekäre Privilegien im Alltag junger Ingenieur_innen

7.2 Belastungsproben im Beruf

7.2.2 Normalität und Prekarität

In diesem Abschnitt diskutiere ich, wie sich die Kenntnisse von potenziellen beruflichen Privi-legien und von potenzieller prekärer Beschäftigung auf die beruflichen Orientierungen auswir-ken. Eine Hürde für die Realisierung der beruflichen Privilegien sind Leiharbeit und befristete Beschäftigung. Diese werden als prekäre Abweichung von den Standards guter Beschäftigungs-verhältnisse thematisiert. Leiharbeit und befristete Beschäftigung werden dabei unterschiedlich bewertet. Leiharbeit wird durchgehend als ungerecht und nicht legitim abgelehnt. Befristung wird eher als akzeptable Hürde akzeptiert, als Phase die einen vom lebenslangen Wunschberuf trennt.

Die Argumente für die Ablehnung der Leiharbeit sind die ungleiche Bezahlung für gleiche Ar-beit und die mangelnde biografische Sicherheit und Planbarkeit, die die Interviewten durch ihre Berufswahl eigentlich anstreben. Diese Argumente werden von Ingenieur_innen mit und ohne Erfahrung in der Leiharbeit vorgebracht. Herr Maurer41 berichtet von seiner eigenen kurzen Zeit als Leiharbeiter, dass die Leiharbeitskräfte separiert in einem eigenen Büro untergebracht wurden, ihnen wurden teils Informationen vorenthalten, sie bekamen entfernte Parkplätze und verdienten weniger. Dabei betont Herr Maurer, dass die Ausgrenzung nicht von den direkten Kolleg_innen ausgegangen ist, sondern „eher von oben herab gesteuert“ wurde, da es der „Spar-politik“ der Unternehmen diene. Frau Pamuk hat sich der Leiharbeit „aus Prinzip“ widersetzt.

Zu ihrer ersten Anstellung nach dem Studium muss sie nun sehr lange pendeln, ist „aber glück-lich“. Frau Pamuk gehört zum Typ „Kalkulierte Vernachlässigung der Selbstsorge“ und das Pendeln ist in ihrem Fall die Ursache dafür, dass sie keine Zeit für individuelle Interessen hat.

Dies ist ein eindrückliches Beispiel dafür, wie eine Mehrbelastung in Kauf genommen wird, um prekärer Beschäftigung zu entgehen. Einen weiteren Fall, in dem Pendeln ein zeitlich be-fristetes Berufseinstiegsarrangement darstellt, findet sich einer Subjektkonstruktion von Herrn Maurer:

41 Herr Maurer gehört zu den drei Fällen, die keinem Typen eindeutig zugeordnet sind. Vgl. dazu Abschnitt 6.2.5.

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Herr Maurer akzeptiert das Pendeln als begrenzte Phase des Berufseinstiegs und rechnet mit der baldigen festen Übernahme am Unternehmensstandort in seiner Heimatregion. Dort ist er mit einem festen Freundeskreis, seiner Partnerin, seinen Eltern und seiner Schwester sozial eingebunden. Mit Engagement gelingt es ihm, die sozialen Beziehungen auch als Pendler zu erhalten.

Auch in diesem Fall wird das Pendeln als eine Mehrbelastung empfunden, welche aber eine akzeptierte Hürde beim Einstieg in ein den eigenen Wünschen entsprechendes Beschäftigungs-verhältnis darstellt.

Eine andere Dimension des Verzichts betrifft die Familienplanung. Frau Otto gehört zum karri-ereorientierten Typ „Ausbalancierte Selbstverwirklichung im Beruf“ und hier zu den Müttern, die Beruf und Familie erfolgreich vereinbaren. Dass ihr dies heute gelingt, ist für sie ein Erfolg.

In den zurückliegenden Jahren als Leiharbeiterin hatte sie ihren Kinderwunsch aufgrund der fehlenden Planungssicherheit verschoben, was sie frustrierend fand. Die Fallzahl zu diesem Thema ist zu klein, um klare Aussagen abzuleiten. Aber zumindest sei hier darauf verwiesen, dass vermutlich auch für Ingenieur_innen gilt, dass Frauen kaum noch freiwillig die Mutterrolle als Ersatz für berufliche Eigenständigkeit wählen und sich deshalb berufliche Unsicherheiten heute bei Frauen ebenso wie bei Männern negativ auf die Entscheidung für Kinder auswirken (Brose 2008: 49).

Es gibt im Sample nur einen Fall, der selbst ein befristet beschäftigter Berufseinsteiger ist. Herr Maurer hat zum Interviewzeitpunkt einen auf zwei Jahre befristeten Vollzeitvertrag bei einem großen Entwicklungsdienstleister und die Aussicht auf einen Festvertrag am Standort in seiner Heimatregion. Im Unterschied zur Leiharbeit ist er gleichberechtigt in ein Team eingebunden.

Außerdem charakterisiert er die Firma insbesondere im regionalen Vergleich als guten, tarifge-bundenen Arbeitgeber.

Die Vergleichsmöglichkeiten zwischen den Typen und Fällen zu dem hier angesprochenen Un-terschied in der Bewertung von Leiharbeit und Befristung sind zu gering, um daraus belastbare Aussagen abzuleiten. Zumindest aber möchte ich die Tendenz aufzeigen, dass Leiharbeit von jungen Ingenieur_innen als ungerecht abgelehnt wird, während befristete Beschäftigung zum Berufseinstieg als normale Hürde auf dem Weg zum privilegierten Beruf akzeptiert wird. Diese subjektive Wahrnehmung korrespondiert mit Forschungsergebnissen zur Befristung am Berufs-anfang. Hier wird von zwei Arten von Befristung ausgegangen, die sich entsprechend der Be-fristungsmotive der Unternehmen unterscheiden: die Flexibilisierung der Belegschaftszusam-mensetzung durch die Umgehung des Kündigungsschutzes und die Erprobung von neuen Mit-arbeiter_innen (Schmelzer/Gundert/Hohendanner 2015: 245). Demnach wird letztere bei Aka-demiker_innen mit wenig berufs- und unternehmensspezifischer Qualifizierung als verlängerte Einarbeitungs- und Probezeit genutzt (Giesecke/Groß 2002). In diesem Fall zieht befristete Be-schäftigung kaum langfristige Prekarisierungen in den Erwerbsbiografien nach sich, und die

Übergangsprobleme in unbefristete Beschäftigung sind umso geringer, je standardisierter die absolvierten Studiengänge sind. Dies gilt für die Privatwirtschaft, in der die interviewten Inge-nieur_innen arbeiten, stärker als für den Öffentlichen Dienst (Schmelzer/Gundert/Hohendanner 2015: 261–263). Seit Mitte der 1990er Jahre verzeichnet die Forschung zur Arbeitsmarktsitua-tion von jungen Ingenieur_innen ein Abweichen von den langjährigen zyklischen Verläufen hin zu dauerhaften qualitativen Veränderungen. Dies umfasst die steigende Zahl befristeter Verträge (stärker bei Universitäts- als bei Fachhochschulabsolvent_innen), sinkende Einstiegs-einkommen und die Zunahme forschungs- und produktionsferner Einsatzbereiche, die den Stu-dienmotivationen zuwiderlaufen (Minks 1997: 167–169). Karl-Heinz Minks stellt dies in einen Zusammenhang mit der seit den 1980er Jahren virulenten Debatte darüber, inwiefern die Stu-dieninhalte im Ingenieurwesen ungenügend auf die veränderten Anforderungen der beruflichen Realität vorbereiten (ebd., vgl. auch die weiteren Beiträge in Neef/Pelz 1997). Dies bestärkt die Annahme, dass die Prekarisierung im Übergang vom Studium zum Beruf durch die Einarbei-tungsfunktion normalisiert wird. Aus den vorliegenden Interviews geht aber hervor, dass es sich bei der Befristung ebenso wie beim Pendeln für den erfolgreichen Berufseinstieg tatsächlich um subjektiv durchaus einschränkende Kompromisse handelt, die für die Aussicht auf spätere Privilegien eingegangen werden.

Als eine weitere Form, in der sich prekäre Privilegien ausdrücken, kann die Bezugnahme auf regionale Unterschiede des Erwerbsarbeitsmarktes und auf geschlechtsbezogene Ungleichhei-ten verstanden werden. Einige Interviewte weisen die Vorstellung zurück, dass es

„überhaupt gar keine Probleme macht, einen Job zu finden, und dass ja immer alles so gut bezahlt ist. Da vergessen die Leute nur, dass hier in der Region

Scheißlöhne gezahlt werden im Verhältnis zum Rest.“ (Frau Burger)

Die Fallzahlen hierzu sind niedrig. Sie zeigen die Tendenz, dass Frauen regionale Nachteile akzeptieren müssen – auch wenn sie mobil sind. Männer hingegen verbessern durch eine ent-sprechende Mobilität ihre berufliche Situation. Zwei Ingenieurinnen mit Kindern können Fa-milie und einen guten und anspruchsvollen Beruf nur in den neuen Bundesländern verwirkli-chen. Eine von ihnen lebt in einer ländlichen Region in den alten Bundesländern. Dort wollten die Personalverantwortlichen keine Mütter in Vollzeit anstellen, weshalb sie nun das Pendeln in die neuen Bundesländer und „zehn- bis fünfzehntausend Euro Unterschied im Jahresgehalt“

in Kauf nimmt (Frau Albrecht). Die zweite lebt in einer ländlichen Region in den neuen Bun-desländern und sieht ihren Arbeitgeber „als Stern in der Gegend“ (Frau Lange). Sie schildert, dass das Unternehmen tariflich gebunden ist und gute tarifliche Arbeitsbedingungen bietet. Der Fortbestand des Standortes ist für sie persönlich existenznotwendig, denn in ihrer Region gibt es wenig größere Arbeitgeber und viele „Dumpingfirmen, die versuchen, die Leute eher auszu-quetschen und zu drangsalieren“. Da ihre Familie von ihrem Gehalt und den vergleichsweise guten Arbeitsbedingungen abhängt, setzt sie gegenüber beruflichen Anforderungen nur sehr

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zögerlich Grenzen. Bei den männlichen Ingenieuren findet sich ebenfalls der Verweis auf die regionalen Unterschiede. Auch hier sind es zwei Fälle. Herr Clasen und Herr Maurer leben in den neuen Bundesländern und pendeln zu attraktiveren Arbeitgebern in den alten Bundeslän-dern.

Bis hierhin habe ich gezeigt, dass ein gutes Einkommen, Beschäftigungssicherheit, Tarifver-träge und die Möglichkeiten der fachlichen Weiterentwicklung von jungen Ingenieur_innen als Privilegien verstanden werden, deren Erlangung nicht selbstverständlich ist. Leiharbeit lehnen die jungen Ingenieur_innen ab. Eine befristete Beschäftigung hingegen wird als normale Hürde auf dem Weg zum privilegierten Beruf aufgefasst. Im folgenden Abschnitt gehe ich der Frage nach, wie sich das Verhältnis von Herausforderungen und Belastungen auf die Erwerbsarbeits-orientierungen auswirkt.

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