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Zur Differenzierung. Anti-Utopie und Dystopie

Strukturmerkmale

2.3 Zum Forschungsstand. Die Robinsonade

2.4.2 Zur Differenzierung. Anti-Utopie und Dystopie

Eine möglichst trennscharfe Differenzierung der Konstrukte Anti-Utopie und Dystopie wird als notwendig erachtet, um später eine adäquate Zuordnung der behandelten Texte leisten zu können. Hierbei wird der aktuelle Forschungsstand betrachtet, um auf dessen Grundlage eine für die vorliegende Arbeit geltende Definition zu erschließen. In diesem Kontext muss erläutert werden, inwieweit die hier erarbeitete Interpretation der Werke in der Forschung bereits formuliert wurde. In einem weiteren Schritt erfolgt eine eigenständige Argumentation dafür, dass die hier vorgeschlagene Kategorisierung sinnvoll ist.

In der Forschung gibt es mehrere Stimmen, die Dystopie und Anti-Utopie als Untergruppen des utopischen Diskurses sehen und die Utopie als Entwurf eines positiven Gegenbildes zur kritisierten Herkunftsgesellschaft des Autors charakterisieren.

Literarische Utopien des 20. Jahrhunderts weisen eine umfassende Selbstkritik der traditionellen Genres auf. Utopiekritik als konstitutiver Bestandteil der utopischen Literatur seit dem 18. Jahrhundert wird zum dominierenden Element.

Beginnt im 19. Jahrhundert die Kritik an linearen Fortschrittsmodellen, so wird im 20. Jahrhundert jedes teleologische utopische Denken radikal kritisiert. Die

264 Vgl. Joanna Jabłkowska, „Literatur ohne Hoffnung“, a. a. O., 36.

literarische Konsequenz des selbstreflexiven und selbstkritischen Denkens ist die Dystopie, in der sich die utopischen Ideen als Schreckensbilder erweisen.265 Andreas Heyer unterscheidet in seiner Studie „Der Stand der aktuellen deutschen Utopieforschung“ explizit die Anti-Utopie266 von der Dystopie:267 Die Anti-Utopie bezeichne solche Werke, die sich intentional gegen „Utopien“ richten, d.h. es müsse deutlich zum Ausdruck kommen, dass der Autor tatsächlich gegen Utopien argumentiere. Die Anwendung des Begriffs „Anti-Utopie“ sei nur dann zulässig, wenn man den Totalitarismus als „Pervertierung der Utopie“ oder gar als „genuines Strukturmerkmal“ der Utopie interpretieren könne, und zwar einer ganz bestimmten Utopie. In der Anti-Utopie gehe es um Verweise auf Sachzwänge der Realpolitik oder auf wissenschaftliche Notwendigkeiten, wie z.B.

in den Werken von Karl Marx und Friedrich Engels, Karl R. Popper oder Hans Magnus Enzensberger, aber auch in kontraktualistischen Entwürfen.268 Heyer betont aus diesem Grund, dass Dystopien und Anti-Utopien nicht, wie teilweise in den Literaturwissenschaften geschehen, synonym verwendet werden dürften.269

Stephan Meyer definiert die Anti-Utopie in seiner Dissertation „Die anti-utopische Tradition. Eine ideen- und problemgeschichtliche Darstellung“ ähnlich:

In ihrem unmittelbaren Bezug auf die utopische Tradition kann die anti-utopische Kritik deutlich machen, daß utopisches Denken nicht schon selbstverständlich auf Humanität zielt […], sondern daß der zweckrationale und auf dem Primat des Gemeinwohls bedachte subjektfeindliche Funktionalismus von Utopien zu einer strikten Normierung und strengen Affektregulierung des einzelnen führen muß. Anti-Utopien sind also ein mit utopischen Mitteln arbeitendes Regulativ, ein ‚Falsifikationsmodell‘ utopisch formulierter totaler Idealstaatsplanung. Somit sind die einzelnen Anti-Utopien immer zugleich auch ein Stück Rezeptionsgeschichte des utopischen Denkens.270

Andreas Heyer zufolge unterscheiden sich die Anti-Utopien von den Dystopien dadurch, dass sie Ansätze darstellen, in denen die Utopien mit ihren eigenen

265 Vgl. Wilhelm Voßkamp, „Utopie“, a. a. O., 1943f.

266 Andreas Heyer nennt hier z.B. Jonathan Swifts Gullivers Reisen und Daniel Defoes Robinson Crusoe, vgl. Andreas Heyer, a. a. O., 50.

267 Vgl. ebd., 49ff. Zum Forschungsstand und zur Begriffsdefinition vergleiche auch Hans Esselborn, „Utopie, Antiutopie und Science Fiction im deutschsprachigen Roman des 20.

Jahrhunderts“, Königshausen & Neumann, Würzburg 2003 und Ralph Pordzik, Hans Ulrich Seeber (Hg.), „Utopie und Dystopie in den neuen englischen Literaturen“,

Heidelberg 2002 und Hans Ulrich Seeber, „Bemerkungen zum Begriff ‚Gegenutopie‘“, in:

Klaus L. Berghahn, Hans Ulrich Seeber (Hg.), „Literarische Utopien von Morus bis zur Gegenwart“, Athenäum, Königstein/Ts. 1983, 163-171.

268 Vgl. Andreas Heyer, a. a. O., 49ff.

269 Vgl. Stefanie Zech, „Warnung vor dem übermächtigen Staat. Die Zerstörung von Sprache und Literatur in Orwells ‚Nineteen Eighty-Four‘ und Bradburys ‚Fahrenheit 451‘“, [=Schriftenreihe und Materialien der Phantastischen Bibliothek Wetzlar, Bd. 11], Wetzlar 1995, 12: Zech wechselt zwischen den Termini „anti-utopisch“ und „dystopisch“ ohne jegliche Berücksichtigung einer möglichen Differenzierung.

270 Stephan Meyer, a. a. O., 11.

Mitteln, Inhalten und stilistischen Merkmalen kritisiert werden. Erschwert werde eine eindeutige Zuschreibung dadurch, dass utopische und anti-utopische Elemente nebeneinander stehen können.271

Texte, die in der Tradition der Anti-Utopie zu verorten sind, orientieren sich demnach am Topos des klassischen Utopiebegriffs, wie es Heyer als Definition postuliert.272 Es gibt Merkmale, welche dem utopischen Diskurs zugeschrieben werden können und nach denen sich die anti-utopische Argumentationslinie richtet. Thematisiert werden oftmals bestimmte Merkmale: die Isolation und Abgeschiedenheit des utopischen Ideals, die Betonung der Statik als Zeichen des Mangels an Wandel, das Verhältnis von Individualität und Kollektivität, die Betonung der Homogenität und Uniformität, die Familien- und Bevölkerungspolitik, eugenische Maßnahmen, die Beschreibung totalitärer Systeme, die Kasten- und Elitenbildung, die ideologische Indoktrination, die Unterdrückung der Kultur, die Generierung des „Neuen Menschen“ und die Herausbildung eines Sanktionsapparates.273

Gleichzeitig sieht Bernhard Kytzler einen entscheidenden Unterschied zu den modernen Dystopien:

Freilich ist eine Unterscheidung festzuhalten: die antiken anti-utopischen Texte nehmen zum Ziel die äußeren Absurditäten, Lächerlichkeiten, Unmöglichkeiten utopischer Visionen – die modernen hingegen wenden sich gegen die inneren Spannungen einer Verwirklichung Utopias, gegen die Unterdrückung individuellen Glücks zugunsten manipulierter Massenbefriedigung.274

Ein weiteres Problem des Konzepts der Anti-Utopie stellt Heyer zufolge u.a. die verzerrende historische Perspektive dar. Seeber schlägt als Lösungsansatz die Aufhebung der begrifflichen Probleme vor: Anstatt mit dem unscharfen Begriff der Anti-Utopie zu operieren, könne auch schlichtweg von „modernen Utopien“

gesprochen werden. Dieser Vorschlag hätte dann auch den Vorteil, das Facettenreichtum der neueren utopischen Ansätze ausreichend berücksichtigen zu können.275 Doch muss Seebers Vorschlag insofern kritisiert werden, als dass zwar das Facettenreichtum durch seinen Vorschlag aufgenommen werde, aber die Besonderheiten der neueren utopischen Literatur unter einem Sammelbegriff nicht adäquat dargestellt werden können.

271 Andreas Heyer, a. a. O.

272 Vgl. ebd., 79.

273 Vgl. ebd., 80ff.

274 Bernhard Kytzler, „Utopisches Denken und Handeln in der klassischen Antike (1971)“, in: „Der utopische Roman“, Rudolf Villgradter, Friedrich Krey (Hg.), Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1973, 45-68, hier: 57f.

275 Vgl. Andreas Heyer, a. a. O., 57ff.; Vgl. Hans Ulrich Seeber, „Bemerkungen zum Begriff ‚Gegenutopie‘, in: „Die Selbstkritik der Utopie in der angloamerikanischen Literatur“, [= Politica et Ars, Bd. 5], ders., Lit Verlag, Münster 2003, 223-235, hier: 234.

In Bezug auf die Dystopie geht Seeber sogar noch einen Schritt weiter, indem er Utopien und Dystopien zusammen definiert und interpretiert. Sie erscheinen als zwei Seiten ein und derselben Sache. Die sieht auch Norbert Elias so:

Kein Wunder, daß in dem literarischen Niederschlag der Phantasiebilder, die mögliche Lösungen der gegenwärtigen sozialen Probleme darstellen, also in den Utopiebüchern des 20. Jahrhunderts, gefürchtete Lösungen vielfach stärker hervortreten als erwünschte, schwarze Utopien stärker als weiße.276

Die Dystopie bediene sich damit der Möglichkeiten der Utopie und kritisiere sie im Rahmen des utopischen Denkens: Sie konstituiert sich damit als Teil der Selbstkritik des utopischen Diskurses.277

Die Dystopie oder schwarze Utopie ähnele dabei in ihrer Kritik des Status Quo der Utopie, biete allerdings keinen positiven Alternativentwurf, sondern zeige auf, was passiert, wenn bestimmte Tendenzen der Gegenwart weiterentwickelt werden. Als klassische Dystopien gelten die Werke von Huxley, Orwell und Samjatin, in denen die totalitären Erfahrungen des 20. Jahrhunderts verarbeitet werden. Dystopische Werke kritisieren also klassische und geschlossene Systemutopien, wobei diese Kritik als Teil des utopischen Denkens selbst erscheint und damit selbstreferentieller Natur ist. Doch Seeber spricht sich gegen die Verbindung von Totalitarismus und Utopie im Allgemeinen aus. Die klassische Utopie sei zwar „statisch“, dennoch habe sich aber eine Ausdifferenzierung der Gattung durchgesetzt (so gebe es archistische neben anarchistischen, zwanghafte neben freiheitlichen Entwürfen etc.). Utopie könne demnach nicht automatisch die Unterdrückung des Individuums bedeuten.278 Arno Heller versucht eine Definition der Dystopie zu erarbeiten, indem er einen kontrastiven Vergleich von Utopie und Dystopie entwickelt, der Gemeinsamkeiten und Unterschiede benennt. Die strukturell-formalen Überschneidungen sieht er darin, dass beide einerseits ihre Gegenwart kritisieren, andererseits dieser

276 Norbert Elias, a. a. O., 146.

277 Hans Ulrich Seeber hat sich eingehend mit dem zentralen Stellenwert der Methoden- und Begriffsdefinition auseinandergesetzt und vertritt wie Andreas Heyer die Differenzierung von Anti-Utopie und Dystopie. Stephan Meyer („Die anti-utopische Tradition. Eine ideen- und problemgeschichtliche Darstellung“, Peter Lang, Frankfurt a.

M. u.a. 2001, 49ff.) hat wiederum in seiner Studie ebenfalls auf die Begriffsproblematik hingewiesen, was die folgende Auflistung deutlich macht: False Utopia, pessimistische Utopie, apokalyptische Utopie, Schreckensbilder, Groteskutopie, Schreckutopie, negative Utopie, Mätopie, Antiutopie, kritische Utopie, Utopie-Kritik, Reverse Utopias, Inverted Utopias, dystopia, Dystopie, Distopie, dystopischer Gegenangriff, anti-technische Utopie, Cacoutopia, Non-Utopias, satiric utopias, nasty utopias, apotropäische Utopie, Abwehr-Utopie, Warnutopie, Warnungsutopie, nightmares, devolutionistische Abwehr-Utopie, contre-utopies, Gegenutopie, gegenutopischer Roman. Diese Auflistung erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit, dennoch ist ersichtlich, dass viele Forscher der Entwicklung eines eigenen und subjektiven Konzeptes erliegen, welches kaum Möglichkeiten zur Verallgemeinerung offen lässt.

278 Vgl. Andreas Heyer, a. a. O., 57ff.

Gegenwart aber ein in der Zukunft angesiedeltes Modell gegenüberstellen. Als einen signifikanten Unterschied arbeitet Heller heraus, dass die Utopie ein in sich geschlossenes besseres Ideal zeichne und dieses der kritisierten Gegenwart vorhalte, während die Dystopie davon ausgehe, dass utopische Konstrukte zur Aufrechterhaltung ihrer Idealität auf Gewalt angewiesen seien. Die Dystopie ist damit von einem grundsätzlichen Misstrauen gegenüber allen utopischen Wunschträumen geprägt. Dystopien gehen außerdem davon aus, dass zwischen Utopie und Totalitarismus bzw. zwischen rationaler Idealität und struktureller Gewalt ein Kausalzusammenhang besteht. Dystopische Zukunftsentwürfe befürchten deshalb, dass im Streben nach Perfektionierung menschlicher Gemeinschaft die Freiheit und Würde des Menschen leidet. Heller verortet die Dystopie erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts, denn die klassischen Dystopien hätten noch ganze Systeme gezeichnet, wohingegen die nun erscheinenden Werke tatsächlich ein Motiv der kritisierten Gegenwart aus ihren Bedingungen herauskristallisierten und analysierten:279

Auch in der neueren amerikanischen dystopischen Literatur von den vierziger Jahren bis in die Gegenwart spielt der Gegensatz zwischen Individualismus und Kollektivismus bzw.

einem wertkonservativen Humanismus und technokratischer Fortschrittsgläubigkeit eine zentrale Rolle. Im Gegensatz zu den großen europäischen Klassikern dieses Genres – Samjatin, Huxley und Orwell – tritt an die Stelle der anti-utopischen Welt- und

Staatsentwürfe zunehmend die Einengung auf bestimmte als negativ empfundene Einzelaspekte gesellschaftlicher Realität.280

Ein entscheidendes Merkmal der Dystopie, das auch in der deutschsprachigen Tradition von Bedeutung sei, sieht Dirk Otto („Das utopische Staatsmodell von Platons Politeia aus der Sicht von Orwells Nineteen Eighty-Four. Ein Beitrag zur Bewertung des Totalitarismusvorwurfs gegenüber Platon“)281 darin, dass diese erst in dem Moment entstehen konnte, als der technische Fortschritt die Möglichkeiten zur Pervertierung staatlicher Gebilde bereitstellte. Die Entwicklung der Atombombe ist diesem Sachverhalt zuzuschreiben. Erst durch sie wird die Möglichkeit der Vernichtung der Menschheit eröffnet und sie kann damit als

279 Vgl. ebd., 61ff.; vgl. Arno Heller, „Die literarische Dystopie in Amerika mit einer exemplarischen Erörterung von Margaret Atwoods The Handmaid’s Tale“, in: Arno Heller, Walter Hölbling, Waldemar Zacharasiewicz (Hg.), „Utopian Thought in American Literature. Untersuchungen zur literarischen Utopie und Dystopie in den USA“, [=Buchreihe zu den Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik, Bd. 1], Gunter Narr Verlag, Tübingen 1988, 185-204.

280 Arno Heller, „Die literarische Dystopie in Amerika mit einer exemplarischen Erörterung von Margaret Atwoods The Handmaid’s Tale“, in: Arno Heller, Walter Hölbling, Waldemar Zacharasiewicz (Hg.), „Utopian Thought in American Literature. Untersuchungen zur literarischen Utopie und Dystopie in den USA“, [=Buchreihe zu den Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik, Bd. 1], Gunter Narr Verlag, Tübingen 1988, 185-204, hier: 187.

281 Vgl. Dirk Otto, „Das utopische Staatsmodell von Platons Politeia aus der Sicht von Orwells Nineteen Eighty-Four. Ein Beitrag zur Bewertung des Totalitarismusvorwurfs gegenüber Platon“, Berlin 1994, 119; Andreas Heyer, a. a. O., 72.

Prämisse für die Werke von Schmidt und Haushofer gelten, wobei Rosendorfer differenzierter betrachtet werden muss.

Auch Hiltrud Gnüg konstatiert, dass in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts keine positiven Utopien in der deutschsprachigen Literatur zu finden seien.

Allerdings ließen sich auch keine Dystopien im Sinne eines ausgestalteten negativen Staatsentwurfs ausmachen. Eine andere Art von Warnutopie – wobei dieser Terminus kritisch betrachtet werden muss – wurde vor allem von deutschen Autoren in den fünfziger Jahren konzipiert. Autoren wie Arno Schmidt, Friedrich Dürrenmatt oder Heinar Kipphardt sahen in einem atomaren Holocaust eine existentielle Bedrohung.282 Die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges, der ein zerbombtes, geteiltes Deutschland hinterlassen hatte, und die Katastrophe von Hiroshima stellten nicht nur jeden technologischen Fortschrittsoptimismus radikal in Frage, sondern ließen auch die Vorstellung menschlicher Selbstvernichtung möglich werden. Der Gedanke, dass ein einzelner Verantwortlicher durch seine Entscheidung die Welt in einen totalen Vernichtungskrieg treiben könnte, schlug sich, wie Gnüg es nennt, in einem neuen Genre dystopischer Literatur nieder.283

Gnüg weist explizit auf ihren enger gehaltenen Utopiebegriff hin, der neben der inhaltlichen Kategorie, der Darstellung eines Gemeinwesens, die formale Kategorie der fiktionalen Erzählung als Selektionsmittel enthält. Insofern begründet sie den Ausschluss der Robinsonade als Untersuchungsgegenstand ihrer Studie, da in dieser nicht einmal fragmentarisch das Bild eines Gemeinwesens dargestellt werde.284

Die vorliegende Arbeit möchte genau an diesem Punkt ansetzen, denn in der Verweigerung der Darstellung eines Gemeinwesens wird der dystopische Charakter der postapokalyptischen Robinsonade vermutet: Die Negation der Utopie – im Sinne einer Nicht-Darstellung eines Gemeinwesens – symbolisiert die Kritik an der Utopie, womit sie sich als Teil der Selbstkritik des utopischen Diskurses konstituiert.

Abschließend kann gesagt werden, dass man in der Forschung sicherlich von einem Standardwerk der Utopieforschung sprechen kann, das aber vor allem interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie umfasst. Diese behandeln

282 Vgl. Arno Schmidt Die Gelehrtenrepublik, Friedrich Dürrenmatt Die Physiker, Heinar Kipphardt In der Sache J. Robert Oppenheimer.

283 Vgl. Hiltrud Gnüg, „Der utopische Roman“, a. a. O., 172ff.

284 Vgl. ebd., 177f.

jedoch die literarische Utopie des 20. Jahrhunderts nicht in dem Maße, wie es für die vorliegende Dissertation wünschenswert erscheint.285

Da die deutschsprachige Literatur relativ wenig zum utopischen Erzählgenre im engeren Sinne beigetragen hat, geht die Utopie-Forschung, die sich stärker am Genre des Staatsromans orientiert, auf die deutsche Literaturgeschichte kaum ein. Symptomatisch dafür steht der von Villgradter/Krey herausgegebene Band

“Der Utopische Roman“286, in dem der von Albrecht Schöne verfasste Essay

„Zum Gebrauch des Konjunktivs bei Robert Musil (1961)“ eine Besonderheit darstellt.

Gnüg konstatiert auch, dass sich die Utopie und das utopische Denken im deutschen Sprachraum weniger in ausgestalteten positiven oder negativen Gesellschaftsentwürfen manifestiere.287

Im weiteren Verlauf der Arbeit wird gezwungenermaßen mit den Begrifflichkeiten der jeweils zitierten Autoren gearbeitet. Insofern lässt sich eine „babylonische Sprach-Verwirrung“ nicht vermeiden. Grund hierfür ist in erster Linie, dass die meisten Forscher in ihrer Betrachtung von Anti-Utopien, Dystopien, negativen und schwarzen Utopien etc. keine Begriffsdifferenzierung vornehmen. Dass die Forschung außerdem in erster Linie auf die bekannten und gattungskonstituierenden Werke von Huxley, Orwell und Samjatin bzw. auf die englische und amerikanische Gattungstradition rekurriert, erschwert zusätzlich einen Transfer auf die Texte von Schmidt, Haushofer und Rosendorfer. Die bereits erwähnte Differenzierung von Dystopie und Anti-Utopie soll aber im weiteren Verlauf zur Herausarbeitung der Gattungsfrage für die ausgewählten Werke übernommen werden.

285 Um einige der bedeutendsten Utopie-Forscher zu nennen: Gert Ueding „Literatur ist Utopie“, Hermann Wiegmann „Utopie als Kategorie der Ästhetik. Zur Begriffsgeschichte der Ästhetik und Poetik“, Arnhelm Neusüss „Utopie, Begriff und Phänomen des Utopischen“, Ernst Bloch „Das Prinzip Hoffnung“, Wilhelm Voßkamp „Utopie-Forschung.

Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie“, Raymund Ruyer „L’utopie et les utopies“.

286 Albrecht Schöne, „Zum Gebrauch des Konjunktivs bei Robert Musil (1961)“, in: „Der utopische Roman“, Rudolf Villgradter, Friedrich Krey (Hg.), Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1973, 355-388.

287 Vgl. Hiltrud Gnüg, „Der utopische Roman“, a. a. O., 181f: Die Utopieforschung schlägt hier vielmehr ganz andere Wege ein und stellt geistesgeschichtliche bzw. ästhetische Konstrukte in den Vordergrund: Die das entzweite Individuum wieder vereinende Philosophie spielt hier eine wichtige Rolle, genauso wie die Kunst, die danach strebt, die Natur des Menschen mit seiner Intellektualität zu versöhnen.