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Das Ich in der Einsamkeit

Im Dokument "Jedes Ende ist auch ein neuer Anfang" (Seite 142-147)

4.4 „Schwarze Spiegel“ als Idylle oder Schrecken?

4.5 Robinsons Rückkehr im 20. Jahrhundert

4.5.4 Das Ich in der Einsamkeit

„[…] es lebe die Einsamkeit !“ (SP, 210) Der Aspekt der Einsamkeit muss sowohl als Merkmal der Robinsonade als auch als Merkmal postapokalyptischer Texte betrachtet werden. Um aber eine spätere Wiederholung zu vermeiden, erfolgt eine entsprechende Analyse ausschließlich unter Kap. 4.5 Robinsons Rückkehr im 20. Jahrhundert.

495 Vgl. SP, 208: „Ähnlich wie beim Schopenhauer und Buddha ohne Übergang aus einem Verbrecher ein Heiliger wird, hat mich das Leben aus einem Pedanten zum Vaganten gemacht; […].“ Vgl. Arthur Schopenhauer, „Die Welt als Wille und Vorstellung.

Viertes Buch. Der Welt als Wille zweite Betrachtung: Bei erreichter Selbsterkenntnis, Bejahung und Verneinung des Willens zum Leben“, in: Arthur Schopenhauer‘s Sämmtliche Werke Bd. II, Brockhaus, Leipzig 1919, 487. Im Zusammenhang mit Schopenhauers Verneinungsstrategien gegenüber dem Willensdespotismus ist auch von Buddha die Rede; vgl. Heinrich Schwier, „Niemand“, a. a. O., 85.

496 Vgl. Boy Hinrichs, a. a. O., 202.

497Vgl. Josef Huerkamp, a. a. O., 53f.

Das Besondere an der Robinsonade ist ihre Konzentration auf das losgelöste,

„absolute“ Individuum. Nicht nur das Denken und Handeln eines Einzelnen, sondern auch dessen Innenraum erlangt eine ganz neue Bedeutung. Robinson ist ein zu entwickelndes, dynamisches Potential, dessen Fähigkeiten und Grenzen zunächst unbekannt sind. Das Individuum wird stets dazu gezwungen, Lernprozesse durchzumachen, sich selbst zu erforschen und sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Der Prozess der Selbstentdeckung wird durch den unfreiwilligen Bruch mit der gewohnten Lebenswelt gefördert.

Von Bedeutung ist dabei die Insel als Raum in ihrer Relation zum Individuum. Die Insel ist primär Überlebensraum, kann freundlich oder feindlich erscheinen, Überlebens- und Zivilisationsbemühungen erfordern oder nicht.498

Zwar vollzieht sich im Roman Schwarze Spiegel die Handlung nicht auf einer Insel, sondern in Deutschland (was durchaus als Modifikation des Inselmotivs gesehen werden kann im Sinne der Hütte des Ich-Erzählers als Insel-Substitut), doch konnotiert der Held seine Umgebung durchaus positiv.499 Hartmut Vollmer stellt fest, dass das „Insel-Dasein“ die einzige Lebensform für Schmidts Protagonisten zu sein scheint, die Glück, Frieden und Erlösung birgt – die Insel als Ort des Überlebens.500

Die häufige Verbindung der Adjektive „schön“ und „leer“ fällt dabei besonders auf: Er spricht davon, dass die leeren Orte und die leeren Wiesen schön sind (vgl. SP, 206, 208), dass die herrliche einsame Zeit, viele Jahre lang, komme (vgl. SP, 220) oder dass jetzt „Alles still: und schöner“ (SP, 221) war. Dennoch scheint ihm diese Welt auch feindlich gesinnt zu sein: Nur so erklärt sich sein Statement auf der ersten Romanseite: „[…] ob Farnhinterhalt, ob Vogelspötterei:

ich war bereit mit zehn Schuß im Vollautomatischen […].“ (SP, 201). Auffallend ist, dass er sowohl Flora als auch Fauna als Bedrohung sieht, letztlich jedoch von keiner von beiden eine Gefahr ausgeht, sondern er von einem anderen Menschen angegriffen wird.

Besondere Bedeutung muss dem Umstand beigemessen werden, dass der Utopie eine defensive Raumfiktion anhaftet, die als „Mittel der Flucht, für eine Emigration aus der Welt des Daseins, des Hierseins in die Welt des imaginären Jenseits“501 verstanden werden kann. So bezeichnet auch Horst Brunner

498 Vgl. Erhard Reckwitz, a. a. O., 100ff.

499 Vgl. Boy Hinrichs, a. a. O., 207.

500 Vgl. Hartmut Vollmer, „Das vertriebene und flüchtende Ich“, a. a. O., 104.

501 Robert Kalivoda, a. a. O., 310.

Inselutopien als „Fluchtutopien“.502 Die klassischen Utopien stellen die Frage nach Verwirklichung demzufolge nicht. Sie existieren in sich abgeschlossen als Gegenwelt ohne historische Verbindung mit der realen Welt.503

Im Gegensatz dazu steht Schmidts Protagonist, der sich in einem offenen Raum bewegt. Eine Verbindung mit der realen Welt kann nicht geleugnet werden, etliche Anspielungen im Roman verweisen auf reale Personen und Ereignisse (Cooper, Schmidt, Zweiter Weltkrieg, etc.). Die Frage nach der Verwirklichung dieser dystopischen Gegenwelt drängt sich auf.

Wohl als Resultat seiner Einsamkeit und als Hinweis darauf, dass ihm menschliche Gesellschaft fehlt, er aber auch seine eigenen menschlichen Eigenschaften verliert, ahmt der Ich-Erzähler Menschenstimmen nach (vgl. SP, 203f.).504 Doch schon kurz darauf stellt er fest, was das Schönste im Leben ist:

„Nachttief und Mond, Waldsäume, ein stillglänzendes Gewässer fern in bescheidener Wieseneinsamkeit.“ (SP, 204). Seine Vorliebe für die Dunkelheit, die Natur und Einsamkeit fällt immer wieder auf. Der anbrechende Tag und die Sonne sind ihm entsprechend zuwider:

Der Morgen widerte mir entgegen; denn eine Morgensonne so vollschlank und schwiegermütterlich rüstig im nett gruppierten Käte-Kruse-Gewölk erschien, daß ich wütend einen Stein übern Bahndamm danach schmiß : weißgott, wie frisch gestärkt sah das Gelumpe aus !“ (SP, 204)

In der Nacht scheint der Held wohl besser mit der Situation umgehen zu können;

dementsprechend bewertet er die Mondfinsternis, die er miterlebt, denn „[j]etzt war Alles still: und schöner“ (SP, 221), es „herrschte nur noch der Mond“ (SP, 221).

Die Personifizierung von Natur und Naturereignissen erscheint wiederum als Kompensation von fehlender menschlicher Nähe, nach der er sich letztlich doch sehnt.505 Auffallend ist so z.B. seine Wahrnehmung des Windes: „[…] manchmal beschlich mich eine schlacksige Windin und zerwarf mir die Haare, wie ne halbwüchsige fleglige Geliebte; sogar als ich einmal in die Büsche mußte, kam sie noch nach.“ (SP, 204). An anderer Stelle fällt ebenfalls eine emotionale Anthropomorphisierung des Windes auf: „[…] auf der kleinen hübschen Abendfläche erhoben sich einmal zärtliche Staubschleier, in denen Herr Windstoß Pirouetten schlug […].“ (SP, 201). Die Natur ist in einer Weise liebevoll und zärtlich zu ihm, wie man es von einem anderen Menschen bzw. einer Frau

502 Vgl. Horst Brunner, a. a. O., 256ff.

503 Vgl. Götz Müller, a. a. O., 9.

504 Vgl. Ulrike Preußer, a. a. O., 176.

505 Vgl. Kai U. Jürgens, a. a. O., 59.

erwarten würde. So beschreibt er sie auch entsprechend: „Junge Blätter legten sich willig und wellig und breit um mein glattes Gesicht : wollt ihr euch schon beim Herren einschmeicheln ? (Alles meine Gesellen !)“ (SP, 215).

Ob als Mittel gegen die Einsamkeit oder aus Gewohnheit, der Protagonist „greift gerne zur Flasche“. Er trinkt, z.B. wenn er nicht einschlafen kann und sich in der Nacht noch einmal nach draußen begibt (vgl. SP, 203) oder, wie er selbst sagt, nur „um die Bildkraft der Seele zu steigern; dem geschundenen Geist die irdenen Bremsklötze wegzunehmen; die Peripherie des Einheitskreises zu weiten : reziproke Radien; also doch ! […]“ (SP, 214). So sucht er nach Alkohol und freut sich über „eine Buddel Münsterländer, 32 Prozent“ (SP, 205), die er auf einer Streiftour entdeckt. Auch auf seiner Reise nach Hamburg begleitet ihn der Alkohol. Nach einem Schluck Whiskey resümiert er: „Nur Narren oder etiolierte Ästheten sind Abstinenzler : die können nie erlebt haben, wie Schnaps bei völliger körperlicher Erschöpfung Wunder wirkt.“ (SP, 222). Schmidts Protagonist wächst in seinem neuen Lebensraum über sich selbst hinaus und baut selbst ein Haus: „Ehe ich richtig mit dem Hobel hantieren lernte, war das Haus fertig : das ist immer so (aber dem Schuppen kams dann zu gut !).“ (SP, 220). Auch hier greift der Protagonist zur Feier wieder zur Flasche: „Und der Malaga, Scholtz hermanos, rann wie aromatisches Feuer in meinem Zimmermannsschlund […].“

(SP, 218). Dabei kennt er kein Maß, sondern „soff, bis die Grauhaarigen um [ihn]

torkelten“ (SP, 220). Boy Hinrichs merkt hier an, dass die immense Arbeit des Bauens eine Distanzierung bedeute von der vergangenen Welt der Menschheit, deren mögliche Überreste dem Ich als Bedrohung erscheinen.506

Auch als sich der Protagonist in Hamburg befindet und unweigerlich mit zivilisatorischen und menschlichen Überresten konfrontiert wird, fällt sein gesteigerter Alkoholkonsum auf. Seine hinzukommende Gewaltbereitschaft legt den Verdacht nahe, dass der Protagonist seine Einsamkeit und sein Schicksal mit (auto)aggressivem Verhalten zu kompensieren versucht (vgl. SP, 226).

Der Ich-Erzähler meidet auf seiner Durchreise außerdem ganz bewusst menschliche Behausungen und Bauten, wie z.B. Schuppen- und Garagenreihen (wohingegen er die Bibliothek [als Sinnbild kultureller und intellektueller Werte] in Hamburg ohne weitere Vorbehalte betritt!). Sein Desinteresse begründet er:

[…] was sollte ich in den Menschenhöhlen ? Wieder die ewigen Skelette betrachten ? Wieder denken : das mag ein Dicker gewesen sein, der zufrieden am Abendwürstchen kaute; dies ein Leptosomer mit Baskenmütze und Menjoubärtchen; dort ein Trottel mit kahlem Eierkopf; hier eine christlich orientierte Jungfrau mit oder ohne Brille. Ein kleiner Straffer, mit Postbotengang und philosophischer Stummelpfeife (der aber doch heimlich ins Toto setzte). (SP, 212)

506 Vgl. Boy Hinrichs, a. a. O., 206.

Die Aussagen des Protagonisten erinnern dabei an die expressionistische Lyrik und die Ästhetik des Hässlichen, in der Beschreibungen von Individuen oftmals in Form einzelner markanter und negativ bewerteter Äußerlichkeiten stattfinden.507 Interessant ist vor allem ein Aspekt, der in der Funktion des Hässlichen angelegt ist: Die Funktion besteht oft gerade darin, das Wirkliche stellvertretend zu repräsentieren und damit zu diffamieren. Das Hässliche wird um der Wirklichkeit willen gebraucht. Im Expressionismus fungiert damit das Hässliche u.a. als Mittel im Kampf gegen die Wirklichkeit. Wirklichkeit ist die wirtschaftliche, religiöse, soziale Realität, die Vermassung, Mechanisierung und der Materialismus. Die Wirklichkeit wird aber durch das Hässliche übersteigert und damit vernichtet; sie wird deformiert und abgebaut, sie erfährt also eine grundlegende Kritik. Dies geschieht wiederum durch die Vereinfachung und Schematisierung der Realität.

Letztlich erscheint dies als möglicher Verweis auf den dystopischen Charakter dieser „postapokalyptischen Robinsonade“.

Zu diesen Aspekten der Bewältigung der Einsamkeit gesellen sich noch weitere Merkmale, die vor allem auch als Eigenschaften postapokalyptischer Texte verstanden werden müssen.

So spielt z.B. in Schwarze Spiegel der Ich-Erzähler mit dem Gedanken an Suizid.

Zwar wird dieser Gedanke nicht weitergesponnen und erscheint wohl auch nicht als ernsthafte Alternative (dazu genießt er das Leben in der Einsamkeit viel zu sehr), doch in einem Moment der Schwäche überkommt auch den sonst so selbstbewussten Protagonisten die Angst:

Ich erwachte : so stierte der Mond durchs Seitenfenster in mein taubes Gesicht.

Unermüdlich kamen sie : Tag und Nacht. Einmal würde ich keuchend irgendwo liegen (hoffentlich gings schnell; und ein Schuß als Freikarte für die Fahrt ins Blaue mußte immer im Colt bleiben). – Ich lehnte mich an die Wand, die Kniee angehockt, und sah denkend mit Eulenaugen in den langsamen Lichtwechsel. (SP, 213)

Der Protagonist versucht in regelmäßigen Intervallen erst über ein Telefon, dann über ein Radio und zuletzt mit einem Detektorapparat herauszufinden, ob es noch andere Überlebende gibt, doch scheitern diese Versuche (vgl. SP, 206, 221, 229). Obwohl er sich dessen bewusst ist, dass sein Vorgehen an Verrücktheit grenzt – denn es bleibt dabei: „saubere Erde – Nichts“ (SP, 229) – gibt er die Hoffnung doch nie auf, er unternimmt immer wieder neue Versuche, andere Menschen zu finden.

507 Vgl. Gottfried Benns Gedicht „Nachtcafé“ (1912). In diesem expressionistischen Gedicht ist nie von Männern und Frauen die Rede, sie werden nur genannt, indem metonymische Eigenschaften genannt werden. Die Metonymien werden gleichsam verabsolutiert. Vgl. Maren Jäger, „Die Joyce-Rezeption in der deutschsprachigen Erzählliteratur nach 1945“, Niemeyer, Tübingen 2009, 148f.

Als der Protagonist auf ein Postamt stößt, schreibt er nicht nur eine Postkarte [„[…] Falls wirklich außer mir noch ein Mensch am Leben war. Und zufällig hierher kam. Und die Karten sah… […]; und schon schrieb ich […]. (SP, 207)], sondern liest auch wie Rosendorfers Anton L. die Post der verschwundenen Menschen. Er öffnet dazu einen Briefkasten. Doch schon nach drei Briefen stellt er fest: „Na, es wurde mir zuviel, und zwar bald. So stand ich denn auf und verließ lautlos pfeifend die Situation.“ (SP, 208). Auffallend ist, dass in den Briefen die Themen „Tiere“, „Liebe“ und „Geld“ angesprochen werden, die auch für den Ich-Erzähler zentral sind: Tiere stellen sowohl eine Bedrohung als auch Nahrungsquelle dar, nach Liebe sehnt sich der Protagonist und den Materialismus der Gesellschaft verabscheut er zutiefst.

Darüber hinaus werden die Helden postapokalyptischer Texte oftmals von Zahnschmerzen geplagt, was ein beliebtes Motiv darstellt, so auch im Roman Schwarze Spiegel: „[…] eine Maus hätte ich gerne gehabt (das heißt: gesehen!).

Oder einen Zahnarzt.“ (SP, 230).

Im Dokument "Jedes Ende ist auch ein neuer Anfang" (Seite 142-147)