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Raumutopie, Zeitutopie und Ermöglichungsutopie

Strukturmerkmale

2.2 Raumutopie, Zeitutopie und Ermöglichungsutopie

Dieser Eingriff in die ursprüngliche Axiomatik hat wiederum eine konfliktreiche Handlung zur Folge.214 Die Anti-Utopie als Selbstkritik der Gattung richtet den Blick auf die negativen Folgen des Fortschritts. Diese neue Qualität der Utopie im 20. Jahrhundert konstatiert auch Götz Müller:

Diese Wandlung zur Selbstreflexion der Gattung ist sicherlich eine Folge der Krise des Fortschrittsgedankens. Wenn der Glaube an den geschichtlichen und technischen Fortschritt zu wanken beginnt, schlägt die Stunde der Anti-Utopie. […] In den

prominenten Antiutopien von Huxley und Orwell erscheint die utopische Welt in der Optik eines Individuums, das sich nicht mehr in fragloser Übereinstimmung mit der utopischen Gesellschaft befindet. In einer Gattung, die stets auf der Identität des Individuums mit dem Ganzen basierte, ist dies ein unerhörter Vorgang. […] Als Selbstkritik der Gattung schärft die Antiutopie den Blick für die negativen Folgen [des] Fortschritts, literarisch wird der Verlust des Fortschrittsglaubens zum Gewinn.215

Müller nennt diese „neue“ Erscheinung der Utopie Meta-Utopie:

Die Gattung beginnt im zwanzigsten Jahrhundert einen poetologischen Diskurs, in dessen Verlauf sie sich zur Meta-Utopie wandelt: Die moderne Utopie erzählt Geschichten über die alten utopischen Geschichten.216

Anzumerken ist die bis dahin geltende Bedeutung von Utopie als nicht und nirgends zu verwirklichender Idealzustand eines Gemeinwesens, egal ob räumlich oder zeitlich erschlossen gedacht. Aus diesem Grund konnte sich die Utopie im 19. und 20. Jahrhundert zu einem zentralen Grundbegriff der Fortschrittskritik entwickeln. Utopie war nunmehr das, was weder im Hier und Jetzt noch in der Zukunft je verwirklicht werden konnte.

Im 20. Jahrhundert avancierte der Begriff Utopie schließlich zum Zukunftsbegriff im Sinne einer Idee, deren Realisierung ausschließlich in der Zukunft liegt. Dieser verzeitlichte Utopiebegriff implizierte aber sowohl Fortschrittskritik als auch Fortschrittsgläubigkeit, was wohl den grundlegenden utopischen Diskurs im 20.

Jahrhundert widerspiegelt.220

Mit Mercier hat sich schließlich der Zukunftsroman etabliert, womit sich der Status der Utopie veränderte. Zwei bedeutende gattungsgeschichtliche Veränderungen sind anzumerken:

Die Funktion des Autors einer utopischen Fiktion änderte sich insofern, als dass er nicht mehr entdeckt, was er antrifft und vorzufinden gibt. Der Autor einer Zukunftsvision wird vielmehr in einem authentischen Sinne selbst zum Produzenten seiner Utopie. Lebte die Fiktion in den älteren Utopien von der Fiktion ihrer potentiellen Überprüfbarkeit des im Raum Vorgefundenen und Beobachtbaren, so lässt sich die Zukunft nicht beobachten und überprüfen. Die Zukunftsutopie ist deshalb im Repertoire der Fiktionsbildung eine genuine, reine Bewusstseinsleistung des Autors. Der fingierte Rückhalt der räumlichen Kontrolle entfällt. Dadurch unterscheidet sich der fiktionale Status einer zeitlichen von einer räumlichen Utopie: Die Realitätssignale der Fiktion liegen nicht mehr im gegenwärtigen Raum, sondern allein im Bewusstsein des Autors. Der Autor ist Urheber der Utopie, die zur Uchronie wird. Die Wirklichkeit der Zukunft existiert nur als Produkt des Autors, die in der Gegenwart verfügbaren Kontrollmechanismen sind nicht vorhanden.

Das zweite Merkmal, das die räumlichen Gegenwelten von der Zukunftsutopie unterscheidet, ist in zeitlichen Kontinuitäten zu sehen, die jede Zukunftsutopie unterstellt. Die Antithese einer Gegenwelt muss zeitlich vermittelt werden. Die Zukunft bietet die Kompensation des gegenwärtigen Elends, das heißt die fingierte Perfektion der ehemals räumlichen Gegenwelt wird verzeitlicht.

Jahrhundert nicht mehr viel zur Erkundung übrig gelassen. Aus diesem Grund bot sich die Verlegung des utopischen Raumes in die Zukunft an: Da die Utopie nicht mehr auf der damaligen Erde und auch nicht im Jenseits zu finden oder zu errichten war, musste sie in die Zukunft ausweichen.

220 Vgl. Friedemann Richert, a. a. O., 22f.

Koselleck konkretisiert diese beiden Unterscheidungskriterien von räumlicher und zeitlicher Utopie anhand des bereits genannten Romans Das Jahr 2440.

Ergänzend muss hier das im 18. Jahrhundert noch geltende Vollkommenheitsideal genannt werden, das es anzustreben galt. Das Perfectio-Ideal wurde im Laufe der frühen Neuzeit verzeitlicht im Sinne des geschichtlichen Weges zur irdischen Perfektion. So ist die Zukunftsutopie als eine Variante der Fortschrittsphilosophie zu sehen. Ihre theoretische Grundlage beruht auf der Verzeitlichung der Perfectio-Ideale, wobei die Zukunftsperspektive nur als Bewusstseinsleistung des Autors möglich ist. Der Autor wiederum ist Produzent der kommenden Zeit sowie Inkarnation der utopischen Dimension.221

Karl Mannheim ergänzt Raum- und Zeitutopie um zwei weitere Merkmale:

Verdienstvolle kulturhistorische Forschung hat festgestellt, daß menschliche

Sehnsuchtsprojektionen erfaßbaren Gestaltungsprinzipien unterliegen und daß man in bestimmten historischen Perioden die Wunscherfüllung mehr in Zeit-, in anderen wieder mehr in Raumbilder projiziert. Man kann dieser Differenzierung entsprechend

Wunschräume als Utopien und Wunschzeiten als Chiliasmen bezeichnen.222

In Hinblick auf die Anti-Utopie und die Dystopie, die zumeist in Form der Zeit- oder Zukunftsutopie auftreten, kann man jedoch der Gleichsetzung von Wunschzeit bzw. Chiliasmus nicht in einem positiv konnotierten Sinne zustimmen.

Aber nicht nur Karl Mannheim, sondern auch Ernst Bloch erinnert zu Beginn des 20. Jahrhunderts an die Zusammenhänge zwischen der Gattung „literarische Utopie“ und der Theorie des Utopischen. Als die negative Utopie im Zeichen des Systems- und Ordnungsterrors die dominante Form der „literarischen Utopie“

wird, setzt eine Diskussion über „utopisches Bewusstsein“, „utopische Methode“

und „das Utopische“ ein, die dem Möglichkeitsbegriff eine zentrale Bedeutung innerhalb der bisherigen Utopiediskussion einräumt.

Es stellt sich die Frage, inwiefern von einer Gattungsgeschichte der „literarischen Utopie“ als Geschichte der Abfolge von Raumutopie, Zeitutopie und

„Ermöglichungsutopie“ gesprochen werden kann. Denn im 20. Jahrhundert kann das Kontingente selbst zum utopischen Programm werden. Es erscheint als der utopische Konjunktiv, der dem Indikativ schlechter Ordnungsutopien gegenübergestellt wird. Der utopische Konjunktiv geht aber auch über das bisherige Gattungsschema hinaus. Die Ermöglichung von Möglichkeiten ist nicht

221 Vgl. Reinhart Koselleck, a. a. O., 2ff.; 5: Mit der Perfektibilität, der Vervollkommnungsfähigkeit, wird das Ziel verzeitlicht. Dabei bleibt es für Rousseau offen, ob das Voranschreiten zum Besseren führen müsse. Die Perfektibilität ist für Rousseau ein dialektischer Begriff, der die Chancen sowohl steigender Gefahren als auch wachsender Gewinne beinhaltet.

222 Karl Mannheim, a. a. O., 183f.

länger ein spezifisches Programm der Gattung „literarische Utopie“, sondern widersetzt sich dem Ordnungszwang der klassischen Utopien, die von Wunsch- zu Schreckbildern transformieren. Dabei scheint die Gattung „literarische Utopie“

einen Prozess der Selbstreflexion zu durchlaufen, der im Zeichen der Gattungsvermischung bereits in der Frühromantik thematisiert wurde. Die traditionelle Gattung „literarische Utopie“ komme im Zeichen von Ermöglichung von Möglichkeiten an ein historisches Ende und fordere gleichzeitig wieder neue Gattungsausprägungen heraus, so Götz Müller.223

Die Antwortstruktur von Utopien gegenüber Geschichte müsse sich damit wandeln: Verfolgten Ordnungsutopien ein Kontingenzbewältigungsprogramm und Zeitutopien eine stete Vervollkommnungshoffnung im Fortgang der Geschichte, so möchte der utopische Konjunktiv jede Verfestigung, jedes geschlossene System aufbrechen. Statische Bilder und entropische Gleichgewichtsmodelle stehen dem „Möglichkeitssinn“ diametral gegenüber – wodurch Utopien zwar ihre Generalisierbarkeit verlieren, nicht aber ihren kritischen Impetus.224