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Natur, Zivilisation und Kultur

Im Dokument "Jedes Ende ist auch ein neuer Anfang" (Seite 131-141)

4.4 „Schwarze Spiegel“ als Idylle oder Schrecken?

4.5 Robinsons Rückkehr im 20. Jahrhundert

4.5.2 Natur, Zivilisation und Kultur

unter diesem Eindruck jenes asoziale Eremitenideal einer ausschließlichen Gesellschaft mit Gott und sich selbst als Gefährten revidiert [wird], das Crusoe, wenn auch fragend und entsprechend tentativ an einer Stelle formuliert:464 […] dann fragte ich mich sofort, ob nicht der Umgang mit mir selbst und, wie ich zu sagen wage, im Gebet sogar mit Gott nicht weit höher zu schätzen sei als auch das allergrößte Vergnügen, das man unter Menschen im Treiben der Welt finden könnte.“465

In diesem entscheidenden Punkt divergieren Schwarze Spiegel, Die Wand und Großes Solo für Anton von dem Gattungsprototypen: Keiner der drei Protagonisten ist dem „asozialen Eremitenideal“ gänzlich abgeneigt und obwohl jedes Individuum sich durchaus nach menschlicher Gesellschaft sehnt, wird keinem der drei Helden eine solche (dauerhaft) ermöglicht. Schmidts Protagonist ist der Einzige der Helden, der auf längere Zeit mit einem anderen Menschen zusammenlebt. Nach anfänglichen Schwierigkeiten, die sich vor allem in einem gewaltsamen Aufeinandertreffen widerspiegeln, finden das Ich und Lisa einen harmonischen Weg des Zusammenlebens. Durch die Andersgeschlechtlichkeit drohen keine ernst zu nehmenden Rivalitäts- oder Konkurrenzkämpfe der letzten beiden Menschen. Besonders die unterdrückte Sehnsucht des Ich nach menschlicher Gesellschaft wird durch die Ankunft Lisas erfüllt. (vgl. Kap. 4.6.3

„…so hell und leer war die Welt“ – was ist mit Lisa?).

was besser ist: die Natur oder die Zivilisation? Für Schmidts Protagonisten scheint diese Frage schnell beantwortet zu sein. Mehrfach betont er die Schönheit der Natur, so z.B. auf seiner Erkundungstour durch die Lüneburger Heide: „Immer den rotblauen Schildern nach (und die Landschaft scharf im Auge behalten) : schön, die weiten wirren Wälder, und leeren Wiesen; ein lichtgrüner Buchentunnel zur Rechten (muß bis zur Rückkehr warten : aber schön ists !)“

(SP, 208). An anderer Stelle heißt es explizit: „Wälder sind das Schönste !“ (SP, 211). Die pflanzliche Natur stellt sich dem Ich in zwei Formen dar: Zum Einen überwuchert sie die Reste der Zivilisation und gefährdet den Überlebenden468, zum Anderen nimmt sie gesellschaftsersetzende Funktion an und wird über den ganzen Roman hinweg in Einklang mit menschlichen Eigenschaften gebracht.

Die Natur beseitigt im Laufe der Zeit alle Spuren der Menschen: Gerade deswegen erwählt sich vielleicht das Ich die pflanzliche Natur zur Ersatzgesellschaft, indem er sie personalisiert.469 Auffallend ist in diesem Zusammenhang eine erotische Konnotation der Naturelemente, wenn z.B. „eine schlacksige Windin“ (SP, 204) wie „ne halbwüchsige fleglige Geliebte“ (SP, 204) beschrieben wird. Der Versuch des Protagonisten, sich in die Natur zu integrieren, indem er sich „in die Nacht“ (SP, 203) mischt, mit Zweigen hadert und „Moosen gut“ (SP, 204) wird, ist allerdings nur bedingt von Erfolg gekrönt.

Seine Vorliebe für die Nacht und die Dunkelheit bleibt zwar bestehen, aber nicht nur ein Brombeerdorn zieht ihm „eine rote Gerade quer übers Wurzelglied“ (SP, 214) des Zeigefingers, sondern auch „die kleinsten Kiefern stachen schon katzenwild um sich, wenn man sie zu plump anfaßte“ (SP, 204). Die Natur nach der Katastrophe verlangt Vorsicht, „[d]er Mensch, der auf sie reduziert ist, muß sich, wie der Bau der Hütte zeigt, in der Kulturarbeit gegen sie behaupten.“470 Das Verhältnis des Protagonisten zur Natur scheint entsprechend ambivalent:

Einerseits respektiert er sie [„man müßte die Biographie jedes Körnchens schreiben: will doch Jeder da sein !“ (SP, 218)], andererseits erscheint er ihr gegenüber beinahe anmaßend, wenn er Blätter als „meine Gesellen“ (SP, 215) bezeichnet und sie fragt, ob sie sich „beim Herren einschmeicheln“ (SP, 215) wollen.

Der reine Naturzustand führt Horst Thomé zufolge zur Unnatur, da, wie im ersten Teil des Romans geschildert werde, die sexuelle Befriedigung des Protagonisten

468 Vgl. SP, 201: „Aber: der lakonische Mond längs der zerbröckelten Straße (von den Rändern her haben Gras und Quecken die Teerdecke aufgebrochen, so daß nur in der Mitte noch zwei Meter Fahrbahn bleiben : das genügt ja für mich !)“.

469 Vgl. Kai U. Jürgens, „Ni Dieu, ni Maîtresse. Exil und Erotik in Arno Schmidts Nobodaddy’s Kinder“, Ludwig, Kiel 2000, 68.

470 Horst Thomé, a. a. O., 82.

als unabdingbare Komponente des natürlichen Glücks fehle. Erst im zweiten Teil des Textes werde eine sexuelle Zweierbeziehung als einfachste Form des sozialen Miteinanders vorgeführt.471

Robinson Crusoe findet sich dagegen schon bald nach seiner Landung in der Gesellschaft verschiedener Tiere, die durchaus als eine Art Ersatzgesellschaft gesehen werden können.

Im Roman Schwarze Spiegel wiederum fällt besonders das Fehlen tierischer Gesellschaft auf, d.h. die fehlende Gesellschaft mit Menschen wird nicht durch Tiere kompensiert, wie es z.B. auch in den Romanen Die Wand und Großes Solo für Anton der Fall ist. Der Erzähler kommt ohne Begleiter aus. Das Ich verabscheut die Fauna zwar nicht, wenn es einen in Ruinen hausenden Fuchs als „Hausvogt“ bezeichnet (vgl. SP, 202), Pferde beobachtet und sich nicht scheut, aus einer Rinderherde „ein Stück“ zu schießen (vgl. SP, 208), doch kommt es nie zu einer Annäherung. Selbst als das Ich resigniert feststellt: „Eine Katze müßte man zähmen können (daß sie auch warnt wie ein Hund, was ?)“

(SP, 228). Auffallend ist, dass es sich weniger um einen emotionalen Wunsch nach Nähe handelt als vielmehr um den Gedanken an ein Nutztier, das den Menschen vor Gefahren warnt.

In diesem Zusammenhang fällt auch auf, dass dem Protagonisten sogar der eigene Körper suspekt erscheint. Die selbstbekundete „Abscheu vorm Organischen“ (SP, 229)472 bezieht sich explizit auf die eigene als „Schandfleck“

bezeichnete Existenz (SP, 224). Hier überhöht der Erzähler sein Dasein nicht mehr, sondern rechnet sich zu denen, die verdientermaßen ihr Ende gefunden haben, da erst nach seinem Tod „das Experiment Mensch, das stinkige“, aufhören kann (vgl. SP, 224). Das Ich sieht sich mit der Tatsache konfrontiert, dass die Natur vom Menschen unabhängig ist, während der Mensch einer Natur verhaftet bleibt, die seiner Existenz Grenzen setzt.

Dabei ist die unzivilisierte Natur kein Ort, an dem der Mensch von Haus aus überleben kann. Vielmehr muss der Mensch entsprechende Vorkehrungen

471 Vgl. ebd.

472 Vgl. Dietmar Noering, „Der ‚Schwanz-im-Maul‘. Arno Schmidt und die Gnosis.“, in:

„Bargfelder Bote. Materialien zum Werk Arno Schmidts“, Lfg. 63, Jörg Drews (Hg.), edition text + kritik, München 1982, 6: Für den Gnostiker muss „[d]er Körper als stoffliche Form der leviathanischen Schöpfung […] überwunden werden. […] Die Leiblichkeit wird als Gefängnis des göttlichen Funkens verstanden, gerade die organischen Funktionen werden mit Abscheu und Ekel betrachtet, sind sie doch Abbild des Wesens ihres Schöpfers. Dieser Ekel umfaßt die gesamte ‚Natürlichkeit‘ der Schöpfung, er kann nur in der Selbstauflösung, der allerletzten Verweigerung enden.“

treffen, um sein Überleben zu sichern. So wird Robinson aus der absoluten Zivilisation in den absoluten Naturzustand überführt und beginnt intuitiv damit, seine Umwelt zivilisatorisch zu verändern, so dass seine Überlebensbemühungen in einen parallel laufenden Prozess der Umwandlung von Natur in Kultur münden.

Die Situation des Protagonisten aus den Schwarzen Spiegeln ist eine ähnliche, aber nicht identisch mit derjenigen von Robinson. Auch der Ich-Erzähler erfährt den Übergang von der Zivilisation in den Naturzustand, allerdings nicht ad hoc.

Selbst fünf Jahre nach der Katastrophe kann er noch Einiges an nützlichen Gegenständen und sogar Lebensmittel aus der ehemaligen Zivilisation nutzen und mit deren Hilfe sein Überleben sichern. Er muss sich peu à peu zurück an die Natur gewöhnen und sein Leben schrittweise darauf einstellen, nicht aber von heute auf morgen auf alle Hilfsmittel verzichten. Der Ich-Erzähler erfährt also eine schrittweise Rückführung in den Naturzustand. Aber auch er muss einen parallel laufenden Prozess der Umwandlung von Natur in Kultur anstoßen, wenn er z.B.

sein eigenes Haus baut. Denn obwohl der Protagonist alles, auch die leerstehenden und gut erhaltenen Häuser der anderen Menschen beziehen könnte, entscheidet er sich dafür, selbst zu bauen. Seine Entscheidung erscheint unverständlich, doch möchte der Protagonist etwas Eigenes schaffen; so verkündet er fast feierlich einem imaginären Herrn von Baer: „‚ich danke Ihnen für die Überlassung dieser Waldstücke : ich werde hier nämlich ein Haus bauen, und nehme somit das Ganze‘ – ich wies ungeduldig mit der Hand um den Horizont –

‚in Besitz –‘.“ (SP, 215).473 Der Ich-Erzähler zieht die naturnahe Umgebung am Waldrand vor und nimmt damit Arbeit und Anstrengungen in Kauf. Das Bauen von etwas gänzlich Neuem ermöglicht aber auch die Distanzierung von der Katastrophe, respektive den sterblichen Überresten der anderen Menschen.

Dabei steht allen Formen der Unbeweglichkeit (materiell, geistig) das Schöpfertum gegenüber. Dieses befreit die Welt von der Sklaverei des Determinierten. Es ist eine Quelle der Freiheit und damit eine Fortsetzung der schöpferischen Kräfte der Natur, denen sich der Protagonist unweigerlich annähert.474

Das Anbringen der Hausnummer „B.1107“ (SP, 219) und das Aufstellen eines Schildes mit der Aufschrift „Verbotener Weg“ (SP, 220) muten anlässlich der

473 Vgl. Daniel Defoe, a. a. O., 111: „[…] ich stellte mir vor, daß alles dies hier mein Eigentum sei und ich der Herr und Gebieter über das ganze Land, das mir nach allen Rechten gehörte.“

474Vgl. Jurij M. Lotman, a. a. O., 323.

menschenleeren Umgebung jedoch absurd an.475 Kai U. Jürgens sieht darin eine ironische Referenz an bürgerliche Regeln des Zusammenlebens.476

Das Spannungsfeld Natur und Nicht-Natur spielt in postapokalyptischen Texten ohnehin eine große Rolle. Die Protagonisten sind einer Art von Re-Naturisierung unterworfen, da sie auf Urformen des Überlebens zurückgreifen müssen.477 Ein anderes Mal wird die von der Natur geübte Gewalt sogar zu einem ernsthaften Problem:

Verfluchter Mist ! : schon wieder lag ein Telegraphenmast über der Straße und die Drähte wirrten sich durch den gelben Löwenzahn. (Wenn ich die Strecke wirklich öfter fahren sollte, muß ich das nächste Mal Säge und Axt mitnehmen : so ein Krampf ! – Bloß gut noch, daß es kein stählerner Überlandsmast war, sonst hätte ich das Gerümpel gar wegsprengen müssen !) (SP, 208)

Dies erfährt der Protagonist auch, als er eine Reise nach Hamburg plant. Der Weg über Schneverdingen und Neuenkirchen scheint unmöglich, denn die Straßen sind bereits in einem katastrophalen Zustand. So stellt der Ich-Erzähler ernüchtert fest: „In 20 Jahren findet Niemand mehr Straßen auf der Welt;

vielleicht erkennt man die Autobahnen noch, aber in 30 sind auch die weg […].“

(SP, 221). Die von der Zivilisation verdrängte und eingegrenzte Natur erobert nach der Katastrophe Stück für Stück den ehemaligen menschlichen Lebensraum zurück.

Obwohl keinerlei zivilisatorischen Zwänge mehr auf ihm ruhen, spürt Robinson dennoch das Bedürfnis, gewisse Traditionen aus seinem früheren Leben aufrecht zu erhalten. So verzichtet er weder auf Tisch und Stuhl478 noch auf Kleidung,479 denn

[o]bgleich die Hitze wirklich so groß war, daß man überhaupt keine Kleider gebraucht hätte, konnte ich doch nicht ganz nackt herumlaufen. Selbst wenn ich es gerne getan hätte, was nicht zutraf, wäre mir ein solcher Gedanke, obgleich ich doch allein lebte, unerträglich gewesen.480

Der Protagonist im Roman Schwarze Spiegel kennt weit weniger Hemmungen.

Er stellt in fast absurd anmutender Weise fest, dass die Mehrzweckbomben die meisten Insekten vernichtet oder dezimiert haben und es nun eine Freude sei, mit nackter Haut zu gehen. Da es keine Beobachter mehr gibt, hält ihn auch

475 Vgl. Hans-Dieter Bahr, „Eschatastrophe oder: Die letzte Wendung“, in: „Rückblick auf das Ende der Welt“, Dietmar Kamper und Christoph Wulf (Hg.), Klaus Boer Verlag, München 1990, 63-79, hier: 64.

476 Vgl. Kai U. Jürgens, a. a. O., 63.

477 Vgl. Boy Hinrichs, a. a. O., 207.

478 Vgl. Daniel Defoe, a. a. O., 78.

479 Vgl. Erhard Reckwitz, a. a. O., 76ff.

480 Daniel Defoe, a. a. O., 147f.

nichts davon ab, seine Shorts auszuziehen und sich mitten auf einer Kreuzung zu sonnen (inklusive „Sonnenbrand auf allen pikanten Stellen !“) (vgl. SP, 222).

Der Erzähler erhält jedoch ebenfalls bestimmte Traditionen aufrecht, obwohl er keiner Gesellschaft Rechenschaft schuldig ist. So baut er sich ein Haus, stattet dieses mit Möbeln aus und veranstaltet ein Richtfest. Er missachtet dabei zwar eine Tradition, ist sich aber im Klaren, dass das Befolgen dieser Sitte bedeutungslos wäre: „22. Juli 1960 : Richtfest ! (War zwar ein Freitag, aber was tut das mir ? !). Ein Zimmermann hätte sich pucklich gelacht, aber das Gerüst stand.“ (SP, 218).

Von großer Bedeutung ist für Robinson auch die korrekte Zeitrechnung. So entwickelt er schon bald nach seinem Schiffbruch ein System, mit dem er die wöchentliche, monatliche und jährliche Zeit berechnen kann.481

Auch Schmidts Held verfährt in ähnlicher Weise: Mithilfe seiner astronomischen Kenntnisse und der Mondfinsternis, die zur Überprüfung seiner Zeitrechnung dient und die „am 5. 9. um 5 Uhr 23 MEZ eintreten“ (SP, 219) soll, kann er auch noch fünf Jahre nach der Katastrophe das exakte Datum benennen (vgl. SP, 218).

Dass gewisse moralische und kulturelle Konzeptionen weiterhin erhalten bleiben, zeigt ein weiterer Kommentar des Protagonisten hinsichtlich seines Erscheinungsbildes bzw. seines Hygieneverhaltens: „[…] (Und speckig bin ich : wenn ich n Bindfaden dreimal auf dem Oberschenkel hin- und herrolle, hab ich garantiert ne Kerze in der Hand. – Also morgen große Pause und Waschen !)“

(SP, 203; vgl. 204).

Auch dass sich Lisa und der Ich-Erzähler siezen und er sie trotz seiner Mangelsituation nicht vergewaltigt, deutet auf das immer noch existente moralische Gewissen und die Einhaltung gewisser gesellschaftlicher Grundregeln hin (vgl. SP, 240).

Robinson verändert die Inselwelt derart, dass sie letztlich ähnliche Lebensbedingungen bietet, wie er sie aus seiner Heimat kennt. Doch bleibt es bei diesen Bemühungen stets nur bei der Nachahmung, der Imitation seiner Heimatkultur. Eine totale Umwandlung von Natur in Zivilisation ist nicht möglich und wird zudem von der Begrenztheit menschlichen Bedarfs reguliert: Robinson jagt nicht mehr Wild als er essen kann und er baut auch nicht mehr Getreide an als er verbrauchen kann. Dieses Verhalten kritisiert indirekt den hemmungslosen

481 Vgl. ebd., 72f.

Kapitalismus der europäischen Kultur und hebt eine naturgerechte Lebensweise hervor.482

In den Schwarzen Spiegeln fällt die Aversion des Protagonisten gegenüber handwerklicher Arbeit auf; als er auf ein Fabrikgelände und auf einen immensen Vorrat an Holz stößt, freut er sich einerseits darüber, da ihm dies Wärme im Winter garantiert, andererseits bedauert er, dass die „schönen Bäume“ dafür herhalten mussten (vgl. SP, 211). Außerdem scheut er die auf ihn zukommende Arbeit: „ – Na ja; ich erhob mich seufzend (ob der vorgestellten Schinderei beim Sägen und Hacken solcher Mengen) und schlenderte nachdenklich aus der Umzäunung […].“ (SP, 211).

Das Überleben auf der menschenleeren Erde bewirkt auch, dass sich das Ich um eine Vielzahl von Aktivitäten bemühen muss, die ihm früher von der wenig geschätzten Gesellschaft abgenommen worden sind. Kenntnisse des Tischlerhandwerks [„Wehe dem Manne, der nicht wenigstens 10 Mal in seinem Leben bereut hat, daß er kein Tischler wurde !“ (SP, 217)], der Zahnheilkunde (vgl. SP, 230) oder die Begeisterung für Landarbeit (vgl. SP, 220) vermisst der Protagonist ebenso wie die Präzision beim Bogenschießen [„dazu seh ich wohl zu schlecht“ (SP, 228)], so dass er sich insgesamt eine „Halbbildung“ (SP, 229) attestieren muss – die er zwar verflucht, im Zusammenhang der Polemik gegen Stewarts „Man, an Autobiography“ mit „man kann halt nicht Alles machen !“ (SP, 237) aber auch indirekt rechtfertigt. Dennoch steht für das Ich fest: „‘Die Einzelnen werden […] wahrscheinlich rasch aussterben‘.“ (SP, 244). Der Verlust der Zivilisation bringt dem Individuum nicht nur Vorteile, sondern weist vor allem auch die eigenen engen Grenzen auf; dies scheint vor allem in Anbetracht dessen schwierig, als dass das Ich in seiner Kindheit „keine Grenzen in sich fand“ (SP, 255), und er alles hasste, „was Grenze und Grenzpfahl war, und wer sie errichtet hatte“ (SP, 255).483

Auf Robinson wirkt sich wiederum der Gegensatz zwischen Natur und Zivilisation aus, der dessen Überleben beeinflusst. Zu Beginn seiner Isolation ist Robinson einem Zustand höchster Naturhaftigkeit und Primitivität ausgesetzt, aus dem sich das zivilisationsbedürftige und –willige rationale Individuum aber schrittweise befreit: Kleidung, regelmäßige Rasur, Benutzung von Trink- und Essgeräten, die Einhaltung fester Tageszeiten und Gewohnheiten sind die Zivilisationsattribute einer geregelten europäischen Lebensweise:484 „Ich hatte mir die Zeit richtig

482 Vgl. Erhard Reckwitz, a. a. O., 79ff.

483 Vgl. Kai U. Jürgens, a. a. O., 62f.

484 Vgl. Erhard Reckwitz, a. a. O., 82f.

eingeteilt entsprechend den verschiedenen Aufgaben, die täglich zu erledigen waren.“485 Dabei spielt seine religiöse Erleuchtung eine große Rolle, denn dieser zufolge ist es die metaphysische Gottbezogenheit, die den Menschen von dem unvernünftigen, naturhaften Tier unterscheidet, und nicht die Vernunft.486

Hierin begründet sich ein auffallender Unterschied zu den Schwarzen Spiegeln:

Durch den Anti-Gott Leviathan wird das metaphysische Prinzip zwar nicht gänzlich negiert, aber doch negativ behaftet. Einen höheren Stellenwert als die Religion scheint die Kultur zu erhalten, jedoch nur subjektiv, auf den Protagonisten bezogen. Denn die übrigen Menschen waren trotz der ihnen gegebenen Fähigkeiten nicht in der Lage, vernünftig zu handeln.

Die gesellschaftliche Zivilisation begründet sich einerseits im Naturprinzip, das durch Solidarität und Verträglichkeit ein Zusammenleben mehrerer Menschen ermöglicht. Andererseits hat der gesellschaftliche Naturzustand auch negative Aspekte, indem eine Minderheit die geltenden Naturgesetze missachten und dadurch einen Kriegszustand verursachen kann. Dabei kann das Verhalten des Menschen zwischen zivilisierter Organisation und naturhafter Regellosigkeit oszillieren. Dieser Verhaltensspielraum impliziert eine Bedrohung durch andere Menschen genauso wie die Möglichkeit eines geordneten Zusammenlebens vernünftiger Individuen, d.h. entweder regiert das primitive Recht des Stärkeren oder die artifiziellen Gesetze der Zivilisation (zum Schutze auch der Schwächeren). Diese verschiedenen Konnotationen des Naturzustandes machen deutlich, dass dieser nicht prinzipiell schlecht ist, doch ein akzeptables Zusammenleben scheint nur im entsprechenden Kulturzustand möglich.487

Wie der Ich-Erzähler ausführlich darlegt, haben die Menschen auf ganzer Linie versagt, was folglich in einen Kriegszustand mündete und im Dritten Weltkrieg kulminierte (vgl. SP, 244ff.). Dies spiegelt sich anfangs auch im Zusammentreffen des Protagonisten mit Lisa wider: Doch wird die feindliche Begegnung (beim ersten Aufeinandertreffen wenig zivilisiert, sondern in Angriffsposition verhaftet) durch vernünftiges Verhalten beider Helden umgemünzt in das friedliche Zusammenleben zweier Kulturmenschen (vgl. SP, 240f.).

485 Daniel Defoe, a. a. O., 126f., 82: „4. November. Heute morgen fing ich damit an, meinen Tag richtig einzuteilen: Stunden für die Arbeit, eine Streife mit der Flinte, Zeit zum Schlafen und Stunden der Erholung.“

486 Vgl. Erhard Reckwitz, a. a. O., 83.

487 Vgl. ebd., 84ff.

Auf anthropologischer Ebene findet ebenfalls ein Vergleich zwischen Natur und Zivilisation statt, indem der Kulturmensch Robinson auf den Naturmenschen Freitag stößt. Durch Robinsons Erziehungsmaßnahmen gelingt es, die als negativ bewerteten Seiten der menschlichen Natur zu bändigen – durch die christliche Bekehrung zu Gott und rationalistische Zivilisationsmaßnahmen.

Dem ist in Schwarze Spiegel nicht so: Es treffen, wie bereits angeführt, zwei Kulturmenschen aufeinander. Es gibt zwar „Erziehungsmaßnahmen“ des Protagonisten – vor allem in Hinblick auf den Untergang der Menschheit möchte er Lisa von seiner Meinung überzeugen – doch sind diese Maßnahmen scheinbar nicht erfolgreich. Letztlich macht sich Lisa auf die Suche nach weiteren Menschen, während das Ich alleine zurückbleibt.

Nicht nur das Überleben fungiert als Gesamtkomplex verschiedener Teilelemente, sondern auch die Zivilisierung erscheint als Arrangement, das mehrerer Aspekte bedarf, um für das Individuum zu funktionieren. Kernpunkt des Zivilisationsarrangements ist die Überführung des Naturzustandes in den Kulturzustand. Dieser Vorgang geht mit der Zivilisierung der Inselwelt einher, der wieder erschaffenen und aufrecht erhaltenen Zivilisierung Robinsons, der gesellschaftlichen Zivilisierung und der Europäisierung des Naturmenschen.

In diesem Kontext muss auf die gegenseitige Bedingtheit von Überleben und Zivilisierung hingewiesen werden, wobei ohne die Zivilisationsbedürftigkeit, die Zivilisationsfähigkeiten und die Zivilisationswilligkeit des Menschen diese komplementäre Konstellation nicht möglich wäre.488 So sagt Bien, „daß […] die Kultur zur Natur des Menschen selbst gehört“489, und zwar auf allen Gebieten, die sein Überleben und damit seine Existenz selbst betreffen.

Im Vordergrund der Robinsonade steht dabei zwar die Opposition zweier Weltzustände, Natur und Kultur, aber auch die Frage danach, welche Vorzüge beide Zustände bieten und wie deren anthropologische Bedingtheit zu bewerten ist. Der Gedanke an eine lehrhafte Kulturgeschichte à la Rousseau ist hier Reckwitz zufolge aber ad absurdum geführt, weil die Bedingungen ihres Zustandekommens, die mit dem Verhalten Robinsons korrelieren, fehlen würden.

Kernpunkt der Robinsonade sei nicht die faktische kulturgeschichtliche Folge von Phasen, sondern vielmehr Robinsons Feststellung aus anthropologischer Sicht, dass Kultur für ihn besser sei als Natur.490 „Die Progression vom Natur- in den Zivilisationszustand ist darum keine Kulturgeschichte als Selbstzweck, sondern

488 Vgl. ebd., 90f.

489 Günther Bien, a. a. O., 298.

490 Vgl. Erhard Reckwitz, a. a. O., 92f.

Beweis für die bewußte Kulturentscheidung, Kulturbedürftigkeit sowie -fähigkeit des repräsentativen Individuums Robinson.“491

Eine bewusste Kulturentscheidung, Kulturbedürftigkeit sowie -fähigkeit steht für das Ich im Roman allerdings nicht zur Diskussion, vielmehr geht der Protagonist einen Schritt weiter und setzt sich qualitativ mit der Bewertung von Kultur auseinander. So weist der Protagonist in seinem anklagenden Brief an den Prof.

George R. Stewart deutlich auf dessen defizitäre Hinwendung zur Kultur hin.

Seine Entrüstung bezieht sich auf den Aufsatz von Stewart, den der Protagonist ausschnitthaft zu Beginn des zweiten Kapitels zu widerlegen versucht. Kernpunkt seiner empörten Ausführung [„oh, war ich wütend !“ (SP, 233)] ist die angebliche Unwissenheit Stewarts. An Stewarts Werk “Man, an Autobiography“, einer Geschichte der Menschheit, kritisiert der Ich-Erzähler, dass

„das Ausschlaggebende ‚Civilization‘ [sei], d.h. nach Ihrer [Stewarts; Anm. d. Verf.]

eigenen Definition auf S. 175b: ‚The mass of such things as agriculture, metal-working and social tradition‘ (nicht etwa Kunst oder Wissenschaft, nichts da! Das Wort Kultur kommt ja auch nicht einmal vor […].“ (SP, 235)

Denn das grundlegende Problem sei, dass „Kultur […] nämlich für gewisse Leute – so 99 Prozent – langweilig [ist]“ (SP, 235). Das Ich kritisiert dabei die gesamte amerikanische Kultur: „Philosophie – – nun, so weit sind Sie da drüben noch nicht. – “ (SP, 237).

Doch gibt es Ausnahmen, die sich das Ich eingesteht, auch in der amerikanischen Literatur: So werden Poe, Wolfe und Faulkner als die „Spitzen der US-Entwicklung“ (SP, 251) bezeichnet, ebenso der mehrfach im Text erwähnte J. F. Cooper. Diese Referenzen stehen nur scheinbar in Widerspruch zu den eingangs zitierten antiamerikanischen Äußerungen, betonen aber die Ausnahmestellung der genannten Autoren.

Die Kulturkritik des Ich-Erzählers beschränkt sich dabei allerdings nicht nur auf die fehlende amerikanische Kultur, sondern auch auf die Slaven, die „typisch kulturlos“ (SP, 231) seien und deren Leistung der Protagonist nur in „Schach und n bissel Musik“ (SP, 231) sieht. Hier werden Assoziationen an das Weltbild der Nationalsozialisten provoziert.492 Die wahren Kulturwerte wiederum führt er auf die Griechen, Romanen und Germanen zurück; die Philosophie beruhe auf den Indern (vgl. SP, 230f.).

Das in der zerstörten Welt grotesk anmutende Sammeln von Büchern (in Hamburg vervollständigt das Ich seine private Bibliothek weiter) scheint ein offensichtlicher Verweis darauf, dass der Erzähler nicht vom Kultur- in den

491 Ebd., 93f.

492 Vgl. Kai U. Jürgens, a. a. O., 66.

Naturzustand zurückverfällt, sondern seinen kulturellen Status durchaus bewahren kann und will. Dabei erfährt die Kultur eine ideologische Erhöhung:

Der Ich-Erzähler differenziert den abstrakten Begriff der Kultur und setzt diese definitorische Ergänzung (d.h. Kultur als Kunst, Philosophie, Wissenschaft etc.) an die Stelle der Religion. Ganz allgemein tritt also die Kunst, die Kultur, der Geist, an die Stelle des „göttlichen Lichts“493.

Im Dokument "Jedes Ende ist auch ein neuer Anfang" (Seite 131-141)