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Genreabgrenzungen und Gattungszusammenhänge

Strukturmerkmale

2.5 Genreabgrenzungen und Gattungszusammenhänge

zivilisierten Umwelt überleben, aber die technischen Hilfsmittel größtenteils nicht mehr funktionieren bzw. dem Verfall ausgesetzt sind.

Mit Reimer Jehmlich sei hier als Kriterium für Science Fiction außerdem vorausgesetzt, dass diese nicht „innerhalb der raum-zeitlichen Grenzen der

‚realistischen‘ Erzählwelt“293 bleibt, was bei Schwarze Spiegel, Die Wand und Großes Solo für Anton durchaus der Fall ist.

Schmidt nennt explizit einen Atomkrieg als Ursache der Katastrophe, Haushofers Protagonistin zieht Geheim- oder Atomwaffen als plausible Erklärung der Katastrophe heran: Es handelt sich also zum damaligen Zeitpunkt um existierende Waffen, die auf keiner visionären Erfindung beruhen. Nur Rosendorfers mit stark grotesken Zügen versehenes Werk kann letztlich nicht auf eine naturwissenschaftlich-technische Begründung der Katastrophe festgelegt werden.

Biesterfeld führt außerdem an, dass „Utopie“ nicht zu eng mit dem

„Fantastischen“ bzw. der „Fantastischen Literatur“ assoziiert werden dürfe294; dies mag bei Schmidt und z.T. auch bei Haushofer zutreffen, doch muss das Fantastische bei Rosendorfer durchaus berücksichtigt werden.

Wenn Utopie und Gedankenspiel, Tag- und Wunschtraum ineinander übergehen, verschwimmen die Grenzen der Utopie zur fantastischen Literatur. Louis Vax kommentiert diese Überschneidung folgendermaßen: „Das Utopische und Phantastische haben die Phantasie als Basis, aber es bleiben zwei ganz verschiedene Gebiete.“295 Die Utopien als „Gedankenspiele“ erbauen eine Welt neben der unseren, indem sie ein Axiom, das unsere Welt regiert, als falsch darstellen. Der Rezipient könne die Konfrontation der Welten in aller Ruhe verfolgen. Der Leser fantastischer Literatur hingegen

beteiligt sich nicht an Gedankenspielen, er spielt mit der Angst. Er betrachtet nicht von außen, er läßt sich verzaubern. Hier wird kein Universum dem unsrigen gegenüber errichtet; unsere eigene Welt verwandelt sich paradoxerweise, zerfällt und wird eine andere.296

293 Reimer Jehmlich, „Phantastik – Science Fiction – Utopie. Begriffsgeschichte und Begriffsabgrenzung“, in: „Phantastik in Literatur und Kunst“, Christian W. Thomsen, Jens Malte Fischer (Hg.), Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1980, 29: D.h.

Science Fiction bleibt nicht in der Gegenwart oder Vergangenheit und in einem topographisch überschaubaren Erzählraum, „sondern bezieht die Zukunft ein, ist kosmisch oder zumindest irdisch-global dimensioniert und wird damit tendenziell zum Schauplatz der Menschheitsgeschichte und nicht mehr nur der Erlebnisse einzelner Menschen.“

294 Vgl. Wolfgang Biesterfeld, a. a. O., 8.

295 Louis Vax, „Die Phantastik“, in: „Phaicon I. Almanach der phantastischen Literatur“, Rein A. Zondergeld (Hg.), Insel Verlag, Frankfurt a. M. 1974, 11-43, hier: 23.

296 Ebd., 24.

Folgt man der Überlegung von Vax, so setzt auch die fantastische Literatur zwei Realitäten, doch die zweite zersetzt die erste. Wenn die konstruktive Utopie durch ihre positive Gegenwelt die Realität kritisiert und negiert, so verwandelt die Fantastik die Wirklichkeit in ein schwankendes Terrain. Die fantastische Literatur als moderne Gattung ist von zwei markanten Merkmalen gezeichnet: Zum einen ist sie von einer spezifischen Erzähltechnik geprägt – ein unzuverlässiger Erzähler bewirkt eine „ambivalente Sichtweise“297 des Lesers, der sich einem Ereignis gegenübersieht, das den Anschein des Übernatürlichen hat298 – zum Anderen setzt das Fantastische ein Weltbild voraus, das „keine Wunder mehr zuläßt und von einer strengen Kausalität bestimmt wird.“299

Die Durchdringung der Utopie mit Elementen des Fantastischen führt zu einer Selbstzersetzung der Utopie. Das utopische Ordnungsgefüge wird gestört, indem das Unerwartete an die Stelle rationaler Planung tritt. Interessant ist in diesem Kontext die Unterscheidung zwischen Tag- und Nachttraum. So verbindet Bloch die Utopie mit dem Wachtraum, der zudem zur „Weltverbesserung“ tendiere.300 Auch Arno Schmidt trifft diese Differenzierung und begründet diese damit, dass man im nächtlichen Traum „oft unerwünscht-empörendste Rücksichtslosigkeiten, Alpträume, mythisches Grauen“ erfahre, wohingegen beim Gedankenspiel (d.h.

beim Tagtraum) das Individuum wesentlich souveräner, aktiv-auswählend, schalte.301

Während also der Tagtraum Wünsche und Hoffnungen formuliert, dominieren im Nachttraum die Wiederkehr des Verdrängten und die Zwanghaftigkeit eines Geschehens, dem sich der Träumer nur durch Erwachen entziehen kann.

Auffallend ist das konträre Verhältnis von Fantastik und Utopie: Versucht das eine, die Unüberschaubarkeit der realen Welt aufzulösen und ein Musterbild an Ordnung zu erschaffen, destruiert das andere die vermeintlich festgefügten Kategorien der aufgeklärten Wissenschaft. Verkündet die Utopie die autonome Naturbeherrschung, so fällt die Fantastik zurück in die Ängste der Heteronomie.

Müller hat auch in diesem Kontext ein Schema aufgestellt, das zur

297 Tzvetan Todorov, „Einführung in die fantastische Literatur“, Carl Hanser Verlag, München 1972, 33.

298 Vgl. ebd., 34.

299 Roger Caillois, „Das Bild des Phantastischen. Vom Märchen bis zur Science Fiction“, in: „Phaicon I. Almanach der phantastischen Literatur“, Rein A. Zondergeld (Hg.), Insel Verlag, Frankfurt a. M. 1974, 44-83, hier: 57.

300 Vgl. Ernst Bloch, „Das Prinzip Hoffnung“, a. a. O., 102f., 104, 115.

301 Vgl. Arno Schmidt, „Berechnungen II“, in: „Rosen & Poree“, Stahlberg Verlag, Karlsruhe 1959, 293-308, hier: 294. Im Folgenden zitiert als: Arno Schmidt,

„Berechnungen II“.

Unterscheidung zwischen fantastischer und utopischer Literatur dient (vgl.

Abbildungsverzeichnis Abb. 2).302

In einigen Werken des 20. Jahrhunderts, die von apokalyptischen Endzeitszenarien handeln, kann der Verzicht auf Zukunftsmöglichkeiten beobachtet werden. Von dieser Tatsache auf einen endgültigen Verlust der Hoffnung zu sprechen, scheint aber nicht gerechtfertigt zu sein. Jabłkowska zufolge verbirgt sich die Hoffnung nun vielmehr im skurrilen, grotesken Humor der Gegenwartsliteratur. Die Groteske des 20. Jahrhunderts ist demzufolge nicht mehr vergleichbar mit der Groteske der Jahrhundertwende oder der Romantik, sondern unterscheidet sich von diesen vor allem durch die Komponente des Komischen. Ein weiteres differenzierendes Merkmal ist in der Funktion des Grotesken zu sehen. Schließt die traditionelle Groteske fantastische Elemente mit ein, die die Deformation im Bereich des „Dämonischen“, Übernatürlichen und Irrationalen suchen, so liegt die Deformation in der Literatur des 20. Jahrhunderts im Rahmen des Erklärbaren und technisch Möglichen. Die grotesk erscheinende Literatur damaliger Autoren erscheint so oftmals erschreckend wirklichkeitsbezogen. Die groteske Überspitzung als Mittel der Kritik findet sich auch in Friedrich Dürrenmatts berühmter Behauptung: „Unsere Welt hat ebenso zur Groteske geführt wie zur Atombombe […]“303 – weshalb man dem Untergang nur mit grotesken Mitteln begegnen könne.304 Das Gerüst grotesker Literatur bildet dabei nicht selten die utopische oder eschatologische Tradition. Die Quelle des Grotesken liegt heute aber nicht im Menschen selbst, sondern im Bereich, der sich der Kontrolle entzogen hat und jetzt die Rolle des „Dämonischen“

ersetzt: in den Möglichkeiten der technischen Entwicklung. Nicht mehr das Unbekannte, sondern das Bekannte und das Erforschbare bilden die von der Literatur immer häufiger thematisierte Bedrohung.305

Während man über das Ende schwer ernsthaft schreiben kann, weil es sofort zur

Selbstverständlichkeit erstarrt, läßt es sich auf der ästhetischen Ebene lustvoll genießen.

Und das wäre sowohl die Hoffnung als auch das Menetekel unseres Jahrhunderts.306 Unter genrespezifischen Gesichtspunkten fällt im 20. Jahrhundert außerdem eine gesteigerte Affinität zu Gattungsmischungen auf. Am Beispiel der deutschen Literatur lassen sich etwa Verbindungen der literarischen Utopie mit der

302 Vgl. Götz Müller, a. a. O., 31ff.

303 Friedrich Dürrenmatt, „Theaterprobleme“, Verlag der Arche, Zürich 1955, 48.

304 Beispiele aus der katastrophischen Literatur des 20. Jahrhunderts sind die grotesk-apokalyptischen Utopien von Günter Grass Die Rättin, Friedrich Dürrenmatt Der Winterkrieg in Tibet oder Carl Amery Der Untergang der Stadt Passau.

305 Vgl. Joanna Jabłkowska, „Literatur ohne Hoffnung“, a. a. O., 108ff.

306 Ebd., 112.

fantastischen Literatur (Alfred Kubin: Die andere Seite. Ein phantastischer Roman [1909], Hermann Kasack: Die Stadt hinter dem Strom [1947]), dem Bildungsroman (Hermann Hesse: Das Glasperlenspiel [1943]) oder mit unterschiedlichen Ausprägungen der Satire beobachten. Auch einige Werke von Arno Schmidt sind an dieser Stelle zu nennen, so Kaff auch Mare Crisium (1960) oder Die Schule der Atheisten (1972).307