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Strukturen postapokalyptischer Szenarien

Strukturmerkmale

2.6 Strukturen postapokalyptischer Szenarien

fantastischen Literatur (Alfred Kubin: Die andere Seite. Ein phantastischer Roman [1909], Hermann Kasack: Die Stadt hinter dem Strom [1947]), dem Bildungsroman (Hermann Hesse: Das Glasperlenspiel [1943]) oder mit unterschiedlichen Ausprägungen der Satire beobachten. Auch einige Werke von Arno Schmidt sind an dieser Stelle zu nennen, so Kaff auch Mare Crisium (1960) oder Die Schule der Atheisten (1972).307

Kategorien sowie deren Zusammenhang mit dem Motiv des „letzten Menschen“

sollen diese besondere Struktur verdeutlichen.

Auf Grundlage des bisher unternommenen Versuchs einer Definition der Gattungen „Robinsonade“, „Utopie“, „Anti-Utopie“ und „Dystopie“ kann bereits die Formulierung einer vorläufigen langue der „postapokalyptischen Robinsonade“

erahnt werden, um mit Robert Weimanns Worten zu sprechen. Mögliche Tendenzen der Entwicklung weisen die strukturelle Grundrichtung dieses Genres auf.

Dabei fällt die Übereinstimmung mit dem Ergebnis auf, das Reckwitz in seiner Untersuchung der Robinsonade herausgearbeitet hat: Er kommt zu dem Schluss der grundsätzlichen Variierbarkeit des Robinsonadenparadigmas. Die inhaltliche Variabilität bedinge dabei auch die typische Dynamik der Robinsonade, innerhalb derer der Protagonist verschiedene Entwicklungsphasen und Existenzmodi durchlaufe. De la Mare formuliert dies treffend: „But there are islands of many kinds; solitudes of sundry degrees; and their all depends on the castaway“.308 Schauplatz der Handlung ist in der „postapokalyptischen Robinsonade“ nicht mehr das beschauliche Eiland, das dem Helden die unüberwindbare Grenze des Ozeans gegenüberstellt, sondern die Großstadt oder eine Region wie die Lüneburger Heide. Nur im Roman Die Wand erinnert der Schauplatz auch an eine Insel: Durch die Begrenzung der unsichtbaren Wand ist es der namenlosen Ich-Erzählerin genauso wie Robinson nicht möglich, in ihre ursprüngliche Heimat zurückzukehren. Sie ist dazu gezwungen, ihr Leben in diesem Areal zu fristen und sie ist auf eine schicksalhafte Wendung angewiesen: Wartet Robinson auf die Rettung durch ein Schiff, so wartet die Protagonistin auf die Siegermächte, die die Waffe in Form der Wand entschärfen und sie befreien.

Die Raumsemantik als konstituierendes Merkmal wendet sich in ihrer Funktion gegen die Funktion, die sie in der Utopie und Robinsonade als utopischer, unbekannter Ort erfahren hat: Schmidts Protagonist wird explizit in der Gegend der Lüneburger Heide platziert, Haushofers Protagonistin befindet sich in einem Wald in den österreichischen Bergen und Anton L. erlebt die Katastrophe zwar in einer namenlosen Großstadt, doch die Vermutung, dass es sich dabei um München handelt, liegt nahe.

308 Walter de la Mare, a. a. O., 71.

Für den postapokalyptischen Text sind in der Forschung bereits vielfach Merkmale herausgearbeitet worden, z.B. die Enthüllung der Wahrheit am Ende der Geschichte, was auf Jacques Derrida zurückzuführen ist.309

Für apokalyptische Erzählstrukturen ist außerdem die Dialektik von Zerstörung und Befreiung konstitutiv. Auch hier ist Derrida zu nennen, der in seinem Werk

"Apokalypse"310 auf zwei unterschiedliche etymologische Herleitungen des Begriffs hinweist: Einerseits sei damit ein Wille zur Enthüllung, zur Offenbarung, zur Aufklärung gemeint, andererseits die umfassende Zerstörung.311 Es geht also um Aufklärung durch und im Angesicht der drohenden Zerstörung. Nicht die Utopie einer irgendwie herstellbaren "besseren" Welt, sondern die völlige Neuordnung menschlichen Lebens, das sind die totalitären Ansprüche apokalyptischer Visionen. Apokalyptische Erzählstrukturen erfordern ein "Böses"

(hierin sind sie manichäisch), eine „dunkle Macht“, die es zu bekämpfen gilt, wobei dieses Unbekannte, Fremde, leicht mit den verdrängten, "eigenen"

Widersprüchen identifiziert werden kann.

Das Oxymoron der Apokalypse gilt dabei nach wie vor: Die Katastrophe wird als Norm gesetzt, um die Entstehung einer neuen Welt zu begünstigen bzw. zu initiieren, verändert sich jedoch in ihrer postapokalyptischen Variante beträchtlich: Während das Katastrophale immer noch als die Regel angesetzt wird, führt diese Konstellation jedoch nicht mehr zur Entstehung einer neuen Welt oder Ordnung – die Doppelstruktur der Apokalypse hat ihre Gültigkeit verloren.

Als Teil der apokalyptischen Erzählstruktur kann die Enthüllung einer Wahrheit angesehen werden, die durch eine Entladung zu Beginn eingeleitet wird. Dieser Ausbruch ist auch in der Postapokalypse noch vorhanden, jedoch führt er den Text fort bis zu dessen Ende: Dass vergeblich auf eine Auflösung gewartet wird, kann als konstitutives Merkmal eines postapokalyptischen Programms betrachtet werden. Zwar legt das Ereignis die Welt danach fest, indem es wesentliche, lebensbestimmende Veränderungen herbeiführt, initiiert aber – ganz im Sinne des Wegfalls des zyklischen Charakters, der bei apokalyptischen Strukturen noch vorherrschend war312 – nicht mehr den Anbruch einer neuen Weltordnung. Wenn,

309 Vgl. Jacques Derrida, „Apokalypse“, Peter Engelmann (Hg.), Edition Passagen, Graz, Wien, 1985, 64ff.

310 Vgl. ebd.

311 Vgl. Michael Wetzel, „Nachwort des Übersetzers, ‘Apocalypse now‘. Der Wahrheitsbegriff der Postmoderne?“, in: Jacques Derrida, „Apokalypse“, Peter Engelmann (Hg.), Edition Passagen, Graz, Wien, 1985, 134ff.

312 Vgl. Gerhard Stadelmaier, „End ohne Enden oder: Wie man Weltuntergänge überlebt.

Es retten sich, wie sie können – die Schriftsteller“, in: Gunter E. Grimm, Werner Faulstich, Peter Kuon (Hg.), „Apokalypse. Weltuntergangsvisionen in der Literatur des 20.

Jahrhunderts“, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1986, 358f.: Stadelmaier betont, dass sich der Zirkel von Weltuntergang und –erlösung fortsetze. Die Apokalypse sei nur ein Moment in

dann spielen sich wesentliche Veränderungen nicht global, sondern im Innenraum des Protagonisten selbst ab.

In der postapokalyptischen Erzählstruktur wird Erkenntnis selbst einerseits abgeschwächt, da sie keine neue Existenz mehr bewirkt, andererseits wird diese in das Individuum verlagert. Dabei wird deutlich, wie sich die für die Apokalypse charakteristische Bewegung umkehrt: Im Gegensatz zum Anbruch einer neuen Ordnung wird das Ende gerade dadurch markiert, dass ein gegebener

„Weltzustand“ über das Ende der Erzählung hinaus andauert. Die Protagonisten gehen oft sogar in diese Ordnung ein, sind ihr also untergeordnet. Der Kreisbewegung apokalyptischer Strukturen steht in der Postapokalypse eher ein Auflösungsprozess gegenüber, der das Fortbestehen einer gegebenen Konstitution anzeigt.313

Letztendlich könnte man auch behaupten, dass sich zwar das Moment der Erkenntnis nach wie vor in den Untergang verlagert314 (diese zwei Parameter also nach wie vor einander bedingen), dieses aber oft den narrativen Endpunkt markiert. Erkenntnis und Untergang müssen sich also zeitlich nicht ausschließen, und gerade erstere wird oft mit der Nichtigkeit des eigenen Selbst gegenüber der nach wie vor bestehenden Ordnung markiert oder angedeutet. Es wird an den ausgesuchten Romanen noch zu zeigen sein, wie diese Endpunkte ausfallen, welche Rolle die einzelnen Motive dabei spielen und wie dieser

„Auflösungsprozess“ zu verstehen ist. Das korrespondiert damit, dass sich die Figuren postapokalyptischer Szenarien letztlich in ihr Schicksal fügen und über das Fortbestehen der Erde nach ihrem eigenen Ableben sinnieren.

Die Funktion postapokalyptischer Erzählstrukturen für die Literaturwissenschaft wird in der Bündelung von Motiven und der Konstitution eines Genres quer durch die einzelnen Gattungen angenommen. Letztendlich können aus den aufgezeigten Tendenzen auch Rückschlüsse auf diachrone Aspekte der Literaturgeschichtsschreibung gezogen werden.

Ein Merkmal ist beispielsweise der versteckte Bezug auf die Ursprungsapokalypse, der sich u.a. in Kommentaren oder Andeutungen ausdrücken kann. Gerade mit Einbruch der Katastrophe wird oft ein „Lichtsignal“

einem eschatologischen Perpetuum Mobile. Diese Zirkelstruktur beinhalte wiederum das Moment der Wiederholung, das der Geschichtspessimismus ankreidet.

313 Ein Befund, der mit der von Hans Krah definierten „kontinuierliche Endzeit“ in Verbindung steht.

314 Vgl. Michael Wetzel, a. a. O., 135.

beschrieben, das wiederum auf die Offenbarung des Johannes und auf die darin dargestellten Ereignisse verweist.315

Es ist also relevant, wie narrative Merkmale einerseits bestimmte Erzählformen konstituieren und sich andererseits auch mit diesen verändern.

Hans Krah verweist darauf, dass sich schon für das zugrunde gelegte Modell des Einschnitts durch eine globale Katastrophe eine inhärente Narrativität ergebe.316 Diese werde dabei auf verschiedenen Ebenen der Erzählung angewendet, d.h.

sie enthält die Ebene des Discours bzw. der Erzähltechniken, die Histoire und den Erzählakt bzw. die Ebene der Erzählsituation.317 Im Hinblick auf die Relevanz narrativer Strukturen stellt er fest, dass sich diese „zumeist als semantisch/ideologisch funktionalisiert erweisen lassen“318. Unter ideologisch versteht er hier Texte, die in „ihrer jeweils dargestellten Welt“319 zugleich ein Wert- und Normensystem präsentieren. Dieses setzt sich aus dem Zusammenspiel von Werten, abgelehnten Werten und Verhaltensregulativen, die diese begründen, zusammen.320 Die Narration kann nun, bezogen auf den Gegenstand der „globalen Katastrophe“, auch „Ort“ der Verhandlung sein und ist in unterschiedlichem Maße „mit Sinn korreliert“321. Als narrative Programme in Bezug auf eine kontinuierliche Endzeit nennt Krah nun das Überleben eines Einzelnen („Suche“) sowie die „Merkmalsveränderung des Protagonisten“322.

Gerade weil die dargestellten Welten als geschlossene Räume erscheinen, die einen ideologischen Totalitätsanspruch erheben, sei laut Krah zu diesem Innen kein Außen denkbar323:

Die Ereignisinitiierung funktioniert nur nach Lotmans Modell der Merkmalsveränderung.

Ein Element des Innenraums, der zunächst mehr oder weniger „linientreue“, nicht

315Vgl. Norman Cohn, „Die Erwartung der Endzeit. Vom Ursprung der Apokalypse“, Insel Verlag, Frankfurt a. M./Leipzig 1997, 12. Kap. Die Offenbarung des Johannes, 321-331, hier: 331. Vgl. Sigrid Schmid-Bortenschlager, a. a. O., 80: „Wichtig bei diesem Text [die Apokalypse des Johannes; Anm. d. Verf.] ist, dass er sowohl positiv als auch negativ gelesen werden kann, als Ende und als Neuanfang: Denn auf die Zeit des Chaos, in der Hunger, Seuchen und Krieg die Welt verheeren, folgt ja das tausendjährige Friedensreich, während dessen Dauer Satan gefesselt liegt, bevor er sich wieder befreit und zum letzten Kampf antritt, der dann im jüngsten Gericht, in der Verdammung der Bösen in die Hölle und dem Einzug der Guten ins himmlische Jerusalem ein zweites Mal, und dieses Mal endgültig, endet […].“

316 Vgl. Hans Krah, a. a. O., 9.

317 Vgl. ebd. Krah orientiert sich an Gérard Genette („Die Erzählung“, Fink, München 1994).

318 Ebd., 10.

319 Ebd.

320 Vgl. ebd.

321 Vgl. ebd., 11.

322 Ebd., 130.

323 Vgl. ebd., 130f.

abweichende Protagonist, verliert sein konstitutives Merkmal, das ihn an diesen Raum bindet; er selbst steht damit im Widerspruch zum System selbst.324

In postapokalyptischen Texten wirkt das Ereignis zwar einer Veränderung der Protagonisten entgegen, jedoch ist der Befund, dass diese im Widerspruch zum System stehen, nur bedingt anwendbar, wenn es sich um einen einzigen Überlebenden handelt. Letztendlich besteht aber auch dann die Möglichkeit, eine Figur abseits deren Status in der Gesellschaft und im Hinblick auf eigene Identitätsentwürfe zu verändern. Der Ausgangszustand, in dem dann etwas Abweichendes und damit Erzählenswertes passiert, bestimmt eine neue Ordnung, die sich nach dem davon abweichenden Ereignis jedoch nicht mehr entscheidend verändert. Der die Diegesis organisierende Weltüberbau ist also von der Ereignisstruktur nicht betroffen, wenn das narrative Programm des

„Überlebens des ausgezeichneten Einzelnen“ auf den Plan tritt.325

Inwieweit die Figuren als „ausgezeichnet“ bezeichnet werden können bzw. durch welche Merkmale sie sich vom Entwurf eines Durchschnittsmenschen unter Umständen abheben, wird in den jeweiligen Textanalysen noch thematisiert.

Krah zufolge bildet die globale Katastrophe in der Literatur weniger ein Genre in dem Sinne, dass es narrative Programme des Handlungsverlaufs oder dass es geregelte (Plot-)Strukturen gibt. Literarische Texte sind vielmehr insofern

„individuell“, als ihnen der normierende Rahmen des Genres fehlt. Motive werden betont, erläutert und in ihrer ideologischen Relevanz verhandelt. Die literarische Verhandlung der Katastrophe stellt damit die diskursiven Grundlagen bereit, bildet Leitdifferenzen aus und prägt sie.326

Dies steht im Gegensatz zu dem Befund, dass auch in postapokalyptischen Romanen einige Elemente den Gesamtverlauf zu organisieren scheinen und in dieser Hinsicht wenige Variationen zu beobachten sind. Es scheint, als motiviere das Motiv des „letzten Menschen“ doch geregelte Verlaufsstrukturen, beispielsweise wenn man die Reaktionen der Hauptfiguren im Bezug auf das Verschwinden der Menschheit betrachtet: Diese suchen zuerst nach möglichen, im Rahmen der bisherigen Weltordnung anzusiedelnden Lösungen, bevor sie sich mit Überlebensstrategien befassen und sich der Fokus auf die Auseinandersetzung mit der eigenen Persönlichkeit verschiebt. Mögliche Parallelen, die sich hinsichtlich der Motive Lokalität/Globalität, Mobilität, Darstellung/Nicht-Darstellung der Katastrophe, Selektion im Danach,

324 Ebd., 131.

325 Vgl. ebd., 210.

326 Vgl. ebd., 394f.

Schriftlichkeit oder Konstitution und Auflösung des Ich darstellen, sollen später noch aufgezeigt werden.327

Der Befund über postapokalyptische Strukturen soll im weiteren Verlauf der Arbeit in Beziehung zu den bisher unterstellten Gattungskonstanten der

„postapokalyptischen Robinsonade“ gesetzt werden, um Rückschlüsse auf die Konstituierung eines neuen Genres zu ziehen.

327 Vgl. ebd., 76, 88, 89, 95, 100, 236.