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Marxismus, Sozialismus und Kritik der Utopie

1 Geschichte der Utopie

1.1 Zum Forschungsstand. Die Utopie .1 Begriffsdefinition und Einordnung

1.2.3 Marxismus, Sozialismus und Kritik der Utopie

Bedeutung ist aber vor allem Ernst Blochs143 Auseinandersetzung mit dem Utopiebegriff. Bloch versteht Utopie in seiner Definition des Begriffs als anthropologisch und ontologisch begründete Kategorie der Hoffnung. Utopie umfasst demnach alle Regungen des menschlichen Bewusstseins, in denen sich das Verlangen nach einer besseren Welt zeigt. Utopie ist für Bloch als „wirklich“

im Sinne des Wirksamen und Zukunftsträchtigen zu verstehen. Das Utopische wird als Ausdruck kollektiver Mentalität und als Dimension gesellschaftskritischen Denkens verstanden. Anknüpfend an das Utopieverständnis Blochs sah Theodor W. Adorno144 die Kunst als den gesellschaftlichen Bereich an, in dem sich das Utopische am freiesten zur Geltung bringen konnte.145

der Grundfehler aller dieser Traumgebilde, daß sie der Gleichheit die Freiheit opfern.“148 Und:

So haben die Utopien auch außerordentlich gefährlich gewirkt und sind oft eher ein Hindernis denn eine Förderung der Entwicklung gewesen. Man kann hienieden nichts absolut Vollkommenes erlangen und die Menschen nicht durch Institutionen allein ändern.149

Sowohl in den Gesellschaftswissenschaften der Gegenwart als auch in unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Konzeptionen kann man von einem Utopieproblem sprechen. Hans Freyer150 beschreibt eine Utopie als reaktionär, d.h. ein System wie der Sozialismus sei utopisch, weil es auf Verwirklichung abziele. Hierbei stellt sich die Frage, ob die Verwirklichung der Utopie im gesellschaftspolitischen Kontext wünschenswert ist oder als Bedrohung angesehen werden muss, wie z.B. in Aldous Huxleys Brave New World151. Die Utopie wurde hier durch ihre Verwirklichung zu einer Bedrohung.152

Innerhalb des Marxismus konzentriert sich die wissenschaftliche Arbeit auf die Auseinandersetzung mit den antisozialistischen und antikommunistischen Tendenzen. Das Utopieproblem ist im Marxismus allerdings nicht die Beziehung zwischen einem utopischen Ideal und einer dem Ideal nicht gemäßen Realität oder das Konstituieren eines utopischen Bewusstseins. Es geht vielmehr um eine unvoreingenommene Analyse der Entwicklungsformen der sozialistischen Gesellschaft und um die Fähigkeit der Gesellschaft, den neuen Gesetzmäßigkeiten entsprechend optimal zu handeln.153

Kernpunkt dieser Überlegungen ist die Frage nach der Funktion vorausschauender Denkformen in der Gesellschaft. Utopie geht einher mit Hoffnungen, Phantasie, aber auch mit Konflikten zwischen gesellschaftlicher Intention und Realisierung, zwischen „Denkbarem und Machbarem“.154

148 Ebd., 288.

149 Ebd., 291.

150 Vgl. Hans Freyer, „Theorie des gegenwärtigen Zeitalters“, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1955, II Modelle, 79-133, hier: 80f.; 185ff.

151 Die Rezensionen namhafter britischer Zeitungen auf dem Buchrücken der Ausgabe von 1994 (Aldous Huxley, “Brave New World”, Flamingo Modern Classic, 1994) begreifen die in Brave New World dargestellte Utopie als Bedrohung. So kommentiert der

“Observer”: „A brilliant tour de force, Brave New World may be read as a grave warning of the pitfalls that await uncontrolled scientific advance. Full of barbed wit and malice-spiced frankness, Brave New World is one of the most urgent appeals for a reconciliation of science with religion that our age has known.” Der “Daily Telegraph” schreibt: “Equally a denunciation of capitalism and communism, so far as they discourage man from thinking freely, Brave New World is one of the most important books to have been published since the war.”

152 Vgl. Heinz Quitzsch, „Das Utopieproblem bei Karl Marx“, in: „Utopie und Realität im Funktionsverständnis von Literatur“, Greifswalder Germanistische Forschungen 10, Greifswald 1989, 4ff.

153 Vgl. ebd., 5.

154 Vgl. ebd.

Wie bereits erwähnt, geht ab 1850 der Fortschrittsgedanke in das Utopiekonzept ein. „Utopist“ wird zum Schimpfwort für den Sozialreformer, „Utopie“ bezeichnet pejorativ unausführbare Reformpläne. Da es als Schimpfwort gegen den Sozialismus fungiert, sehen sich Marx und Engels gezwungen, sich von den utopischen als wissenschaftliche Sozialisten abzugrenzen.

Marx und Engels Utopiekritik postuliert demzufolge eine eindeutige Differenzierung: Marxismus und die Theorie der sozialistischen Gesellschaft sind Gesellschaftswissenschaft und nicht Gesellschaftsutopie.155 Dies hatte die Herausbildung theoretischer Positionen zur Rolle sozialer Utopien und zum utopischen Denken innerhalb der internationalen Arbeiterbewegung zur Folge.

Marx‘ und Engels‘ Utopiekritik ist nicht nur als eine theoretische Kritik an den verschiedenen sozialistischen Theorien des 19. Jahrhunderts zu verstehen, sondern auch als Analyse der sozialökonomischen und sozialpsychologischen Ursachen utopischen Denkens.156

So formuliert Friedrich Engels 1883 den Prozess der „Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“. Utopie-Rezeption und Ansichten des Begriffs „Utopie“ sind im 19. Jahrhundert meist im Zeichen der Rivalität von etablierten Systemen und sozialen Systemen zu verstehen. Im deutschen Kaiserreich ist ein großer Teil der Äußerungen zur Utopie nichts anderes als Polemik gegen die konkreten politischen Gegner, den Kommunismus und die Sozialdemokratie.157

Der utopische Sozialismus des 19. Jahrhunderts ist im Wesentlichen ein Derivat der Französischen Revolution. Die als unvollendet geachtete Revolution sollte nun von einer „politischen“ in eine „soziale“ weitergeführt werden. Den begrenzten Resultaten wurde die Idee einer neuen Gesellschaft der sozialen Gerechtigkeit und Gleichheit entgegengestellt. Darin ist eine Abgrenzung gegenüber dem bürgerlichen Verständnis der Revolution zu sehen.158

Bedeutende Leistungen dieser Sozialutopien sind u.a. in den Lehren von St.

Simon159 sichtbar: Es gibt einen kulturellen Fortschritt der Menschheit als Ganzem, aber nicht alles Erreichte gilt als besser, sondern in einzelnen

155 Vgl. Friedrich Engels, “Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft”, in: „Karl Marx. Friedrich Engels. Werke“, Bd. 19, Dietz Verlag, Berlin 1962, 189-228, hier: 193f.

156 Vgl. Heinz Quitzsch, a. a. O., 5. Karl Marx hat sich aber auch mit der literarischen Utopie auseinandergesetzt, so widmet er im Kapital dem Robinson Crusoe eine ganze Passage.

157 Vgl. Wolfgang Biesterfeld, a. a. O., 3.

158 Vgl. Heinz Quitzsch, a. a. O., 6.

159 Vgl. Joachim Höppner, Waltraud Seidel-Höppner, „Von Babeuf bis Blanqui.

Französischer Sozialismus und Kommunismus vor Marx“, Bd. I, Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig 1975, 95-180, hier: 111-141.

Erscheinungen wird früher Gewonnenes wieder in Frage gestellt und geht verloren. Geschichte erscheint als Fortschritt des materiellen Lebens und betont den Zusammenhang zwischen Industrie und Wissenschaft. Die Möglichkeiten der Industrie schaffen die Voraussetzungen für ein kommendes goldenes Zeitalter.

Die Lösung der bestehenden Widersprüche ist Aufgabe der positiven Wissenschaften. Die Produktion ist das Hauptfeld der Analyse; vor allem steht die Rolle der Arbeit und der produktiven Tätigkeit im Fokus der Betrachtung.

Politik soll die Wissenschaft von der Leitung der Produktion sein. Die Abschaffung des Privateigentums ist ebenso wenig Zielvorstellung wie eine Machtausübung durch die Arbeiter. St. Simons Einsichten in gesellschaftliche Gesetzmäßigkeiten verbinden sich hier mit schwärmerischen Vorstellungen von einer besseren Welt und mit Illusionen über die Rolle der sozialen Klassen und Gruppen, die eine solche neue Welt herbeiführen können.160

Ästhetische Aspekte werden aber auch im 19. Jahrhundert nicht ganz außer Acht gelassen: Im Sinne der Aufklärung ist Kunst ein Mittel der Aufklärung und Erziehung. Der Künstler gilt als der bevorzugte Erzieher der Menschheit, und die Künste werden zur „Avantgarde“ der künftigen „organischen“ Ordnung. Damit betont die Kunstlehre St. Simons die soziale Bedeutung der Kunst für eine künftige „universelle Assoziation“, die prosaische Vollendung der Aufklärung soll ein neues „poetisches Zeitalter“ schaffen. Über diesen Weg werde die Antinomie zwischen Individuum und Gesellschaft in einer neuen sozialen Einheit aufgehoben. Die Funktionsbestimmung der Kunst wird hier mit dem utopisch-sozialistischen Programm verbunden: Die Verbindung der Kunstfunktion mit einer Sozialutopie bezeugt ein verändertes Funktionsverständnis von Kunst. Diese Kunstkonzeption impliziert die Vorstellung, dass Kunst für die Emanzipation der Menschheit und für die Befreiung des Individuums von institutionalisierten Formen und sozialen Verhältnissen notwendig ist. Kunst als kritisches Korrektiv greift in die sozialen Prozesse einer unvernünftigen Gesellschaft ein.161

Der utopische Sozialismus wurde durchaus als eine wissenschaftliche Analyse der Gesellschaft und als realisierbar angesehen. Diese Art von Zukunftsmodellen wurde nicht als Utopien reflektiert, sondern als wissenschaftlich fundierte Theorien verstanden. Erst später wird ihr Gehalt als utopisch beurteilt, was Marx und Engels im Nachweis dieser Theorien als Utopien aufgezeigt haben.162

160 Vgl. Heinz Quitzsch, a. a. O., 6.

161 Vgl. ebd., 7.

162 Vgl. ebd.

Dennoch wurde der utopische Sozialismus als eine Theorie angesehen, die den damaligen materiellen Bedingungen und dem Entwicklungsstand des Proletariats weitestgehend entsprach.163

Die Überwindung der Utopie beruhte schließlich auf dem Entstehen einer

wissenschaftlichen Theorie der kapitalistischen Gesellschaft und des Übergangs zum Sozialismus, der Vereinigung von Marxismus und Arbeiterbewegung und der

geschichtlichen Realisierung des Sozialismus als eines in historischer Ausprägung und Wandlung befindlichen realen Sozialismus.164

Hervorzuheben ist dennoch der dialektische Charakter der Utopie. Utopien wirken auch als Protest, als Festhalten an der Überzeugung von der realen Möglichkeit einer friedlichen und freien Welt. Als Denken gegen Pessimismus und Resignation, als kritisches Potential gegen überlebte Zustände kann utopisches Denken bedeutend sein, weil es humanistische Ideale, soziale Phantasie befördert und Menschen für Ziele aktiviert.165 Peter Weiss bilanziert entsprechend: „Und wenn es auch nicht so werden würde, wie wir es erhofft hatten, so änderte dies doch an den Hoffnungen nichts. Die Hoffnungen würden bleiben. Die Utopie würde notwendig sein.“166

Das gedankliche Hinausgehen über die vorhandene Realität ist ein Spezifikum künstlerischen Schaffens und seiner Wirkungsmöglichkeiten. Die Beziehungen von Möglichkeit und Wirklichkeit mit utopischen Aspekten treffen in der Kunst aufeinander. Heinz Quitzsch versucht in verschiedenen Definitionen der Utopie ihren Charakter zu bestimmen: Als geträumte und gedachte Aufhebung eines Zustandes traut er den Betroffenen keine materielle Kraft zur Überwindung ihrer Lage zu, wodurch das Utopische in der Kunst nur Mittel zur Resignation wird.

Die Utopie, die den gesellschaftlichen Fortschritt negiert, formuliert eine rückwärts gewandte Anti-Utopie oder diffamiert eine realisierbare sozialistische Alternative. Utopie als notwendiger Bestandteil progressiver Kunst wiederum ist in der Lage, Hoffnung zu erhalten und neue Hoffnung zu wecken, um Mut zu machen, der für eine bessere, sozialistische Gesellschaft notwendig sei. Utopie ist in diesem Kontext ein ideelles Instrument zur realen Veränderung.167

163 Vgl. ebd.

164 Ebd.

165 Vgl. ebd., 8.

166 Peter Weiss, “Die Ästhetik des Widerstands”, Bd. III, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M.

1981, 265.

167 Vgl. Heinz Quitzsch, a. a. O., 8f.

Als ein weiteres Beispiel der sich im 20. Jahrhundert verbreitenden

„Utopieskepsis“ ist die Theorie von Karl R. Popper zu nennen. Poppers168 kritischer Rationalismus postuliert die alleinige Anerkennung der Rationalität als Merkmal der wissenschaftlichen Theorie und die Trennung zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und Handlungsbewusstsein. Dies hat die Zuschreibung alles Utopischen zum Bereich des Unwissenschaftlichen und Irrationalen zufolge.169 Da für Popper der Marxismus die Einheit von Erkennen und Handeln betont, ist dieser für ihn eine utopische, nichtwissenschaftliche Konzeption. Derartige Auffassungen deklarieren den Marxismus und sozialistische Ideen als „Utopismus“, als utopische Denksysteme. So sagt Popper in seinem Aufsatz „Utopie und Gewalt“:

Der Zauber, den die Zukunft auf den Utopisten ausübt, hat nichts mit rationaler Voraussicht zu tun. In diesem Lichte ähnelt die Gewalt, die der Utopismus hervorruft, sehr dem Amoklauf einer evolutionistischen Metaphysik oder einer hysterischen Geschichtsphilosophie, darauf erpicht, die Gegenwart zu opfern für den hellen Klang einer Zukunft, der Tatsache nicht bewußt, daß ihr Prinzip dazu führen müßte, eine jede künftige Periode der ihr folgenden zu opfern, ebensowenig im Bewußtsein der trivialen Wahrheit, daß die endgültige Zukunft des Menschen […] nichts Glanzvolleres sein kann als sein endgültiges Aussterben.170

Ein problematischer Aspekt in der Utopieforschung des 20. Jahrhunderts stellt die gedankliche Verbindung von Utopie und totalitären, geschlossenen Gesellschaftssystemen dar. Popper erklärte demnach nach dem Zweiten Weltkrieg die utopische Methode für gefährlich. Ihre Gefahr sehe er darin, „zuerst ein politisches Endziel festzusetzen, um dann dessen Verwirklichung vorzubereiten“171. Denn der Utopist lasse keine Änderung des Endzieles im Prozess der Verwirklichung zu, weshalb ihm nur „Propaganda, Unterdrückung von Kritik und Ausmerzung jeglichen Widerstandes“172 bliebe. Götz Müller

168 Vgl. Karl R. Poppers zweibändiges Werk „The Open Society and Its Enemies“ („Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“, Bern 1957, Bd. I: Der Zauber Platons, Bd. II:

Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen.)

169 Vgl. Heinz Quitzsch, a. a. O., 4. Vgl. Karl R. Popper, „Utopie und Gewalt“, in: „Utopie.

Begriff und Phänomen des Utopischen“, Arnhelm Neusüss (Hg.), Luchterhand, Neuwied und Berlin 1968, [=Soziologische Texte 44], 313-326, hier: 323f.

170 Karl R. Popper, a. a. O., 313-326, hier: 324f. Popper hat den Utopiebegriff völlig losgelöst von seiner ursprünglichen Bedeutung benutzt. Er berücksichtigte nicht den fiktiven, spielerischen Charakter der utopischen Literatur und deren seinstranszendierenden Aspekt. Popper dachte an totalitäre Gesellschaftssysteme, die zwar ihre Wurzeln im Utopismus haben können, aber den Facettenreichtum der Utopieproblematik nicht ausschöpfen. Popper geht in seiner Kritik der Utopie nicht von einer „utopischen“ Gesellschaft aus, sondern von der politischen Wirklichkeit des 20.

Jahrhunderts und seinen bolschewistischen und faschistischen Gesellschaften. Vgl.

Hans-Jürgen Krysmanski, „Die utopische Methode. Eine literatur- und wissenssoziologische Untersuchung deutscher utopischer Romane des 20.

Jahrhunderts“, Köln und Opladen 1963 [=Dortmunder Schriften zur Sozialforschung 21], 142.

171 Karl R. Popper, a. a. O., 313-326, hier: 321.

172 Ebd.

zufolge lassen sich diese Vorwürfe beliebig bis in die Gegenwart verlängern. Da Utopien alles planen und regeln wollen, trifft sie politisch der Vorwurf des Totalitarismus.173

Auf intellektueller Ebene wiederum werde der Utopie ein intoleranter Monotheismus vorgeworfen, was Müller aber durch die Geschichte der deutschen literarischen Utopien als widerlegt betrachtet: Es gebe christliche, pietistische, bürgerliche, asketische, hedonistische, nationalistische, sentimentalische, mythologische und ästhetizistische Utopien.174

1.3

Wesentliche Aspekte zum Utopiediskurs