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Die literarische Utopie als Gattung

Strukturmerkmale

2.1 Die literarische Utopie als Gattung

markante Individualisierung und Verästelung der Gattung sollte demnach auch als Projektion gesehen werden, zeigt die Geschichte der Utopie doch eine Entwicklung von der Antiindividualität hin zur absoluten Subjektivität.

Ein bedeutendes Paradigma des 20. Jahrhunderts ist das Individuum; dies ist vor allem in den charakteristischen Merkmalen des Romans des 20. Jahrhunderts zu erkennen. Die Thematisierung einer Außenseiterfigur, wie sie in den zu behandelnden Romanen stattfindet, folgt damit durchaus einem literarischen Konzept. Die parallele Entwicklung der utopischen Gattung in Richtung auf verschiedene mögliche Varianten entspricht, wenn man so will, dem utopischen Theorem „Utopie als eine der möglichen Welten“. Diese textimmanente Offenheit würde einer gattungsgeschichtlichen Festlegung, einer konkreten Definition und vorhersehbaren Entwicklungsrichtung konträr gegenüberstehen. Diese ist, wenn überhaupt, nur als temporärer Ausschnitt möglich und steter Dynamik unterworfen. Eine Definition der literarischen Utopie im Sinne einer allgemeingültigen Konzeption scheint dieser also nicht gerecht werden zu können, denkt sie doch auch nicht die stete Prozessualität der Gattung mit.

Norbert Elias verweist auf diese Problematik in seiner Definition der Utopie:

[E]ine Utopie ist ein Phantasiebild einer Gesellschaft, das Lösungsvorschläge für ganz bestimmte ungelöste Probleme der jeweiligen Ursprungsgesellschaft enthält, und zwar Lösungsvorschläge, die entweder anzeigen, welche Änderungen der bestehenden Gesellschaft die Verfasser oder Träger einer solchen Utopie herbeiwünschen oder welche Änderungen sie fürchten und vielleicht manchmal beide zugleich.198

Jabłkowska verfolgt in ihrer Studie „Literatur ohne Hoffnung. Die Krise der Utopie in der deutschen Gegenwartsliteratur“ die These, dass in der Gegenwartsliteratur zwar die gegebene Wirklichkeit negiert, die Möglichkeit, nichtverwirklichte Normen formulieren zu können, jedoch sehr oft verneint werde. Sie geht von der Wandlung der utopischen Literatur im 20. Jahrhundert aus.199 Dabei bedeutet die Wandlung der Gattung Utopie nicht zwangsläufig, dass das Bedürfnis des Menschen nach alternativen Staatsentwürfen, nach Wunschdenken oder nach Hoffnung aufgegeben werde. Die Literatur suche aber spätestens seit der Jahrhundertwende nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten.200

Literatur und über englischen Unterricht“, 51. Jahrgang, Walther Fischer (Hg.), Max Niemeyer Verlag, Halle (Saale) 1940, 139-146, hier: 139.

198 Norbert Elias, „Thomas Morus‘ Staatskritik. Mit Überlegungen zur Bestimmung des Begriffs Utopie“, in: Wilhelm Voßkamp (Hg.), „Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie“, Bd. 2, J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart 1982, 101-150, hier: 103.

199 Da eine detaillierte Analyse der Utopieentwicklung nicht im Fokus dieser Arbeit steht, wird auf die Untersuchung Joanna Jabłkowskas verwiesen: „Literatur ohne Hoffnung. Die Krise der Utopie in der deutschen Gegenwartsliteratur“, Deutscher Universitäts-Verlag, Wiesbaden 1993.

200 Vgl. Joanna Jabłkowska, „Literatur ohne Hoffnung“, a. a. O., 33.

Interessant ist die von Wilhelm Voßkamp201 dargestellte Typologie literarischer Utopien in der Neuzeit. In ihr werden drei idealtypische Merkmale vorgestellt, die für die Gattungsgeschichte konstitutiv sind. Voßkamp versucht, diese zentralen Merkmale an jeweils einem historischen Textbeispiel zu verdeutlichen (Morus:

Utopia, Mercier: Das Jahr 2440 und Samjatin: Wir):

Es handelt sich um das Moment der Negation (im Sinne der kritischen Differenz

gegenüber gesellschaftlicher Wirklichkeit); um das Problem von Antizipation (unter dem Aspekt der Vorwegnahme von Zukunft) und um die Kategorie des Möglichen (als Gegenüberstellung von Konjunktivischem und Indikativischem).202

Voßkamp weist noch auf eine weitere Gattungskonstante hin:

Neben der gesellschaftsdiagnostischen, kritischen Funktion von Utopien scheint ihre eigentliche Aufgabe in der Formulierung des jeweiligen Anfangs zu liegen. Das Authentische der Utopie offenbart sich in ihrem kontingenten Beginn.203

In der Gegenwartsliteratur verschwimmt die reine utopische Form zusehends.

Partiell sind Symbole, Strukturen oder einzelne Elemente der traditionellen utopischen Gattungen zu finden, manchmal wird aber auch direkt auf den utopischen Charakter hingewiesen.204

Die Gattung der Utopie beantwortet die Frage der Verwirklichung nicht historisch-politisch, sondern literarisch durch das Erzählen von Geschichten. Die Robinsonade als utopisches Subgenre erzählt beispielsweise die Geschichte vom absoluten Anfang nach einer Katastrophe. Die literarische Utopie spricht zwar auch von Verwirklichung, allerdings im Rahmen einer Fiktion, die eigens zu diesem Zweck erfunden wurde. Die klassische Inselutopie betont durch ihre Topographie ihre Gegenbildlichkeit zur historischen Realität. Diese Art von Utopie benötigt die totale Abgrenzung, denn sie errichtet eine in sich geschlossene, stimmige Ordnung, die kein unberechenbarer Einfluss stören darf.

Jede Beziehung nach außen wird vermieden. Die Utopie setzt Bedingungen, deren Folgen gedanklich-experimentell durchgespielt und durch eine Geschichte in den Status der Wirklichkeit versetzt werden. Je enger das Netz von Bedingung und Folge konstruiert ist, desto überzeugender wirkt die utopische Fiktion. Die Negation der bekannten Realität hinterlässt eine Leerstelle, die institutionell und psychologisch aufgefüllt werden muss, um das Interesse des Lesers aufrecht zu erhalten. Daher wird eine möglichst komplette Gegenwelt erfunden.205 Dieses Prinzip verbindet die Robinsonaden mit klassischen utopischen Romanen. Denn

201 Vgl. Wilhelm Voßkamp, „Utopie als Verantwortung auf Geschichte“, a. a. O., 273-283.

202 Ebd., 274.

203 Wilhelm Voßkamp, „Utopie“, in: Das Fischer Lexikon Literatur, Band 3 N – Z, Ulfert Ricklefs (Hg.), Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 1996, 1948. Im Folgenden zitiert als: Wilhelm Voßkamp, „Utopie“.

204 Vgl. Joanna Jabłkowska, „Literatur ohne Hoffnung“, a. a. O., 34.

205 Vgl. Götz Müller, a. a. O., 9f.

das Zwei-Welten-Schema bildet in beiden Genres ein gedankliches Gerüst für die Konstruierung einer alternativen Welt.206

Wilhelm Voßkamp betont auch das Verhältnis von Utopie zur Geschichte.

Utopien seien demnach geschichtlich bedingt und unmittelbarer als andere literarische Texte auf geschichtliche Kontexte bezogen. Das Verhältnis von Wirklichem (der jeweiligen zeitgenössischen Realität) und Möglichem (als Entwurf eines Gegenbildes oder Vorwegnahme der Zukunft) sei aus diesem Grund gattungskonstitutiv. Es ergebe sich aus dieser Eigenschaft der Utopie ein spezifischer Antwortcharakter von Utopien auf Geschichte.207

Um die Utopie in der Moderne adäquat charakterisieren zu können, soll kurz auf die Textstruktur der älteren Utopien eingegangen werden. Die ältere Utopie ist aus zwei kontrastierenden Räumen aufgebaut, von denen einer die Darstellung der Norm, der andere die Darstellung der negativ bewerteten Wirklichkeit enthält.

Die jeweilige Norm wird in einem Gedankenexperiment hergestellt.208 Friedemann Richert stellt auf Grundlage der Analyse klassischer Utopien (Morus:

Utopia, Campanella: Sonnenstaat, Bacon: Neu-Atlantis) gemeinsame Strukturmerkmale der Utopie fest und konkretisiert diese wie folgt:

1. Alle Schriften thematisieren die in ihrer Zeit vorfindbaren politisch-sozialen Verhältnisse, in denen die Autoren ihre Utopie als Reformprogramm kontrastieren.

2. Es herrscht ein strikter Antiindividualismus, in dem das Kollektiv dem Einzelnen vor- und übergeordnet wird.

3. Die Machtfrage wird auf autoritär-etatistische Weise zentral gelöst: Eine staatlich eingesetzte Elite ist dem Volk vorgeordnet, mit dem Ziel, für dessen Glück und Wohlergehen zu sorgen. Die Macht wird einer moralischen Reflexion unterzogen, die wiederum im Rahmen der eigenen Vernunftkonzeption eingebettet ist.

4. Das Leben der Menschen ist durch einen Institutionalismus reglementiert.

5. Ziel des utopischen Konstrukts ist es, ein staatstragendes Konzept zu schaffen, das die Gütererzeugung, die Organisation der Arbeit und das soziale Leben steuert.

6. Eine weitere Gemeinsamkeit ist die räumliche Lokalisierbarkeit ihrer utopischen Staatsentwürfe. Nicht in der Zukunft, sondern in der Gegenwart wird die Verwirklichung des utopischen Gemeinwesens beschrieben. Durch das Modell der Raumutopie wird allerdings die

206 Vgl. Joanna Jabłkowska, „Literatur ohne Hoffnung“, a. a. O., 201.

207 Vgl. Wilhelm Voßkamp, „Utopie“, a. a. O., 1931.

208 Vgl. Götz Müller, a. a. O., 10.

historische Größe als Entwicklungskriterium vernachlässigt. Erst im 18.

Jahrhundert wird die Raumutopie durch die Zeitutopie abgelöst, die dieses Kriterium berücksichtigt.209

Hubertus Schulte-Herbrüggen stellt in seinem immer noch grundlegenden Werk zur Utopie „Isolation“ als eines der charakteristischen Formprinzipien des utopischen Romans heraus, und zwar zunächst exemplarisch für die gesamte Gattung anhand von Morus‘ Utopia, dem Gattungsprototypen.210

Stockinger definiert die Utopie als Gattung, die den Rezipienten von der Negativität seiner Lebenswelt überzeugen will.211 Formal interessant ist es Hohendahl zufolge aber erst, wenn die Utopie die „statische Beschreibung in Handlung“212 transformiere. Bezeichnend sind dabei auch die konfliktfreie Handlung der auf Vollkommenheit ausgerichteten Utopie sowie das Fehlen von charakteristischen Protagonisten in einer Welt, in der der Einzelne mit dem Allgemeinen identisch ist.

Dies ändere sich schließlich in der Anti-Utopie der Moderne. Die Robinsonade bietet letztlich eine Möglichkeit, um das starre Kontrastschema der klassischen Utopie epischer zu gestalten.

Götz Müller postuliert als ein Ergebnis seiner Studie „Gegenwelten. Die Utopie in der deutschen Literatur“, dass die klassische Statik und Geschlossenheit der Utopie in der Moderne durch eine außerordentliche Beweglichkeit und Offenheit abgelöst werde. Die Selbstreflexion der Gattung erreicht ihm zufolge ihren Höhepunkt in den Werken Arno Schmidts, der in seinen utopischen Texten Utopien von Morus bis Franz Werfel zitiert und variiert. Im 20. Jahrhundert erreicht die Utopie durch die Reflexion der Axiome und Grenzen ihrer Gattung eine neue Qualität, was sich auch in neuen Ausdrucksmöglichkeiten widerspiegelt. Dieser Wandel der Utopie kann sicherlich auch als Folge der Krise des Fortschrittsgedankens gesehen werden, auf die die Anti-Utopie folgt. Zentral ist der Status des Individuums, das sich nicht mehr in fragloser Übereinstimmung mit der utopischen Gesellschaft befindet.213

209 Vgl. Friedemann Richert, a. a. O., 39f.

210 Vgl. Hubertus Schulte-Herbrüggen, „Utopie und Anti-Utopie. Von der Strukturanalyse zur Strukturtypologie“, [=Beiträge zur englischen Philologie 43], Pöppinghaus, Bochum 1960, 35.

211 Vgl. Ludwig Stockinger, „Ficta Respublica”, a. a. O., 95f.

212 Peter Uwe Hohendahl, „Zum Erzählproblem des utopischen Romans im 18.

Jahrhundert“, in: „Gestaltungsgeschichte und Gesellschaftsgeschichte“, Helmut Kreuzer (Hg.), J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart 1969, 79-114, hier: 81.

213 Vgl. Götz Müller, a. a. O., 10ff.

Dieser Eingriff in die ursprüngliche Axiomatik hat wiederum eine konfliktreiche Handlung zur Folge.214 Die Anti-Utopie als Selbstkritik der Gattung richtet den Blick auf die negativen Folgen des Fortschritts. Diese neue Qualität der Utopie im 20. Jahrhundert konstatiert auch Götz Müller:

Diese Wandlung zur Selbstreflexion der Gattung ist sicherlich eine Folge der Krise des Fortschrittsgedankens. Wenn der Glaube an den geschichtlichen und technischen Fortschritt zu wanken beginnt, schlägt die Stunde der Anti-Utopie. […] In den

prominenten Antiutopien von Huxley und Orwell erscheint die utopische Welt in der Optik eines Individuums, das sich nicht mehr in fragloser Übereinstimmung mit der utopischen Gesellschaft befindet. In einer Gattung, die stets auf der Identität des Individuums mit dem Ganzen basierte, ist dies ein unerhörter Vorgang. […] Als Selbstkritik der Gattung schärft die Antiutopie den Blick für die negativen Folgen [des] Fortschritts, literarisch wird der Verlust des Fortschrittsglaubens zum Gewinn.215

Müller nennt diese „neue“ Erscheinung der Utopie Meta-Utopie:

Die Gattung beginnt im zwanzigsten Jahrhundert einen poetologischen Diskurs, in dessen Verlauf sie sich zur Meta-Utopie wandelt: Die moderne Utopie erzählt Geschichten über die alten utopischen Geschichten.216