• Keine Ergebnisse gefunden

Der Beginn der literarischen Utopie

1 Geschichte der Utopie

1.1 Zum Forschungsstand. Die Utopie .1 Begriffsdefinition und Einordnung

1.1.2 Der Beginn der literarischen Utopie

Von der Antike, über die Renaissance, das 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart hat sich die utopische Erzählung oder auch literarische Utopie sehr erweitert und neue Dimensionen für sich entdeckt.

Um einen Eindruck über die vielfältigen Dimensionen der literarischen Utopie zu erhalten, soll ein kurzer Überblick über die klassischen Utopien gegeben werden.

Als eines der ersten bedeutsamen Werke ist Platons Politeia79 zu nennen, in dem der Konjunktiv irrealis als der eigentliche Modus der Utopie vorgestellt wird. In der literarischen Utopie wird dieser aber dann in den Indikativ verwandelt.

Charakteristisch für die klassische Utopie ist die Idee des Guten und Gerechten, des idealen Staates. Wie bereits thematisiert, schreibt Götz Müller, dass die Idee des Guten und Gerechten ein Realissimum auch ohne historische Realisierungsmöglichkeit sei. Er vergleicht dies mit dem Bild eines schönen Menschen – oder der Schönheit überhaupt – das unabhängig sei von der Existenz eines realen Vorbildes. Der ideale Staat sei dennoch nicht mehr als ein Gedankenexperiment, denn die Wahrscheinlichkeit einer idealen geschichtlichen

78 Vgl. Joanna Jabłkowska, „Literatur ohne Hoffnung“, a. a. O., 37ff.

79 Vgl. Platon, „Der Staat“, Deutscher Taschenbuch Verlag, Mit einer Einleitung von Thomas Alexander Szlezák und Erläuterungen von Olof Gigon, München 2001.

Lage, die alle Bedingungen der Utopie erfüllt, scheint unrealistisch.80 Hans Freyer konstatiert hierzu treffend und an Müllers Aussage anknüpfend, dass „das Lebenssystem der Utopie […] auf einer Rechnung [beruht], und diese Rechnung […] nur solange stimmt, als die Bedingungen konstant bleiben, also störende Einflüsse der Außenwelt ausgeschaltet werden.“81

Die Geschichte der literarischen Utopie beginnt mit Thomas Morus‘ De optimo reipublicae statu, deque nova insula Utopia82 im Jahr 1516. Nicht nur bei Platon, auch bei Morus bleibt der vollkommene Staat von der historischen Wirklichkeit getrennt: Das Paradigma der Utopie scheint nicht verwirklichungsfähig. Die Besonderheit von Morus im Unterschied zu Platon, der als Philosoph die Dichter und ihre Kunst missbilligte83, ist die Erfindung der literarischen Utopie als Erzählung von einem fiktiven Land. Warum ist nun aber die Utopie nicht realisierbar? Hythlodeus, der Erzähler in Morus‘ Utopia, nennt als Grund die superbia, die erste der Todsünden als Ursache des Verderbens, die zum Ausschluss aus dem Paradies geführt hat. Ist sie der entscheidende Hinderungsgrund für die Verwirklichung der Utopie?84

Darüber hinaus gibt es im 17. und 18. Jahrhundert noch weitere Romane, die utopische Modelle integriert und reflektiert haben, z.B. Grimmelshausen: Der Abentheurliche Simplicissimus Teutsch (1657), Jonathan Swift: Travels into Several Remote Nations of the World (1668) oder Voltaire: Micromégas (1752).

Im 20. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Dystopie, spiegelt sich die superbia aus Morus‘ Gattungsparadigma in den Omnipotenzphantasien der Menschen wider – was am Ende in Arno Schmidts Roman Schwarze Spiegel und auch in Marlen Haushofers Die Wand den Weltuntergang (im Sinne der Vernichtung der Menschheit) herbeiführt:

[…] dünnes margarinenes Licht fiel auf das Unteroffiziersbild neben der Tür: der Dank des Vaterlandes : das hieß in jenen guten Zeiten nach dem ersten Weltkriege : einen Leierkasten, und das Halsschild ‚keine Rente‘. (Aber die Deutschen schrieen ja noch zweimal nach Männchen machen, und „Es ist so schön Soldat zu sein“: they asked for it, and they got it!) (SP, 213)

80 Vgl. Götz Müller, „Gegenwelten. Die Utopie in der deutschen Literatur“, Metzler, Stuttgart 1989, 1.

81 Hans Freyer, „Die politische Insel. Eine Geschichte der Utopien von Platon bis zur Gegenwart“, Bibliographisches Institut AG, Leipzig 1936, 24. Im Folgenden zitiert als:

Hans Freyer, „Die politische Insel“.

82 Vgl. Klaus J. Heinisch (Hg.), a. a. O., 7-110.

83 Vgl. Platon, a. a. O., 433: „Wir stellen also fest, daß von Homer an alle Dichter Nachahmer von Abbildern der menschlichen Tüchtigkeit sind und der anderen Dinge, von denen sie dichten, daß sie aber die Wahrheit nicht berühren.“ Etwas später sagt Platon:

„Die nachahmende Kunst ist also minderwertig, verkehrt mit dem Minderwertigen und gebiert Minderwertiges“. (ebd., 438).

84 Vgl. Götz Müller, a. a. O., 1ff.

Müller stellt das Bild einer aggressiven, nach Verwirklichung strebenden Utopie jedoch in Frage. Bestätigt sieht er dies durch Robert Kalivoda: „Das Real-Unmögliche [wird] als Möglichkeit […] zum Utopischen“.85 Morus‘ Utopia beispielsweise siedele so neben der wirklichen Welt als ästhetische Figur. Das Inseldasein ist darüber hinaus ein Symptom des Rückzugs, nicht der Aggressivität. Kalivoda hält die defensive Raumfiktion der Utopie für ein „Mittel der Flucht, für eine Emigration aus der Welt des Daseins, des Hierseins in die Welt des imaginären Jenseits“86 – in Übereinstimmung mit Horst Brunner87, der die Inselutopien als „Fluchtutopien“ bezeichnete. Die klassischen Utopien stellen die Frage nach Verwirklichung demzufolge nicht. Sie existieren in sich abgeschlossen als Gegenwelt ohne historische Verbindung mit der realen Welt.88 Karl Mannheim beschreibt diese fehlende Realisierungsabsicht wie folgt:

Wunschträume begleiteten von jeher das menschlich-historische Geschehen: In

‚Wunschträume‘ und ‚Wunschzeiten‘ flüchtete die von der jeweils gegebenen Wirklichkeit nicht befriedigte Phantasie. Mythen, Märchen, religiöse Jenseitsverheißungen,

humanistische Phantasien, Reiseromane waren stets wechselnder Ausdruck dessen, was das verwirklichte Leben nicht enthielt. Sie waren eher komplementäre Farben im Bilde des jeweils Seienden als gegenwirkende, das verwirklichte Sein zersetzende Utopien.89

Im 18. Jahrhundert begründet sich die literarische Utopie vor allem auf dem anthropozentrischen Fortschrittsglauben der Aufklärung. Man kann von einem Höhepunkt der Gattung sprechen, wobei zeitgleich jedoch eine Aporie der Gattung einsetzt, die sich bereits im 19. Jahrhundert auf verschiedene Art und Weise äußert: Die Sprengung des Gattungsmusters beginnt, andere Formen bilden sich heraus.

Markant sei demnach der Übergang des Begriffes Utopie von der literarischen Gattung zum utopischen Denken hin.90 Peter Uwe Hohendahl geht davon aus, dass die Illusion der Wirklichkeit, die der Staatsroman verleihen sollte, in der Zeit der Aufklärung nicht mehr glaubwürdig sein konnte.91 Hohendahl macht deutlich,

85 Robert Kalivoda, a. a. O., 309.

86 Ebd., 310.

87 Vgl. Horst Brunner, „Die poetische Insel. Inseln und Inselvorstellungen in der deutschen Literatur“, J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart 1967, 256ff.:

Brunner differenziert dabei zwischen fluchtutopischen Inseln und Robinsonadeninseln.

Eine Utopie beschreibe demzufolge eine Insel; im Unterschied zur Robinsonade, die als

„Beschreibung des Lebens auf einer Insel“ zu sehen sei. Fluchtutopien seien gekennzeichnet von einem Dasein ohne Tat, ohne Konflikte und Handlungen – es gebe keinen Fortschritt und keine Veränderungen.

88 Vgl. Götz Müller, a. a. O., 9.

89 Karl Mannheim, a. a. O., 183.

90 Vgl. Joanna Jabłkowska, „Literatur ohne Hoffnung“, a. a. O., 23ff.

91 Vgl. Peter Uwe Hohendahl, „Zum Erzählproblem des utopischen Romans im 18.

Jahrhundert“, in: „Erforschung der deutschen Aufklärung“, Peter Pütz (Hg.), Athenäum, Königstein/Ts. 1980 , 235f, 243f.

wie der Staatsroman zu einer ästhetisch und historisch überholten literarischen Form wurde, die Utopie als Fortschrittsglaube jedoch erhalten blieb. Dies bestätigt vor allem die Verlegung des Nicht-Ortes in die Zukunft.

Nachdem im 18. Jahrhundert die Utopie als Folge des Fortschrittsdenkens verzeitlicht worden ist, tritt immer häufiger die Zeitutopie an die Stelle des ursprünglichen Begriffs und des Gattungsmusters von Thomas Morus. Die in die Zukunft verlegte utopische Erzählung eröffnet neue Möglichkeiten. Reinhart Koselleck schreibt über Louis Sébastien Merciers Das Jahr 244092, dass die Zukunftsutopie

[…] eine Variante der Fortschrittsphilosophie [sei], ihr theoretisches Fundament ist die Verzeitlichung der Perfectio-Ideale. Der Vorgriff in die Zukunft war aber nur einlösbar als Bewußtseinsleistung des Autors, des Schriftstellers. Die utopisch erzählte Zukunft ist nur eine literarisch besonders effektvolle Ausformung dessen, was die damalige

Geschichtsphilosophie als Bewußtseinsphilosophie zu leisten hatte. Der Autor ist in erster Linie kein Historiker oder Berichterstatter, sondern zunächst Produzent der kommenden Zeit, Vollstrecker seiner Anlage zur Perfektibilität.93

Für die Zeitutopie ist demnach die Antizipation eines der wichtigsten Merkmale, im Gegensatz zur Morusschen Utopie, für die die „Gegenüberstellung von Ordnung und Kontingenz“94 ein zentrales Moment darstelle. Nicht aber die vollkommene Gesellschaft, sondern deren Vervollkommnung sei das Stigma der Aufklärung.95

Jabłkowska schlägt zwei als Idealtypen aufgefasste Muster der utopischen Erzählung vor:

- Der ironische Diskurs von Morus, der auch Merkmale der politischen Satire trägt

- Die Zeitutopie von Mercier, die auf dem Geschichtsbewusstsein basiert

Beide Muster der utopischen Erzählung sind zeitlich nicht voneinander abzugrenzen und überschneiden sich. Indem der Fortschrittsglaube im 18.

Jahrhundert das utopische Denken bestätigt und zugleich die Utopie in die Zukunft verlegt wird, tritt die Frage nach der Möglichkeit, die Utopie real zu verwirklichen, in den Vordergrund. Man kann auch von einer einschneidenden Wende der literarischen Utopie sprechen: Aus einer literarischen Gattung entwickelt sich ein soziologisches Forschungsfeld. Die Gattung verlässt den

92 Utopischer Roman von Louis Sébastien Mercier, der als einer der ersten Autoren utopischer Werke seine Handlung augenscheinlich in die Zukunft verlegt.

93 Reinhart Koselleck, a. a. O., 1-14, hier: 5f.

94 Wilhelm Voßkamp, „Utopie als Verantwortung auf Geschichte. Zur Typologie literarischer Utopien in der Neuzeit“, in: „Geschichte als Literatur. Formen und Grenzen der Repräsentation von Vergangenheit“, Hartmut Eggert u.a. (Hg.), J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart 1990, 275. Im Folgenden zitiert als: Wilhelm Voßkamp,

„Utopie als Verantwortung auf Geschichte“.

95 Vgl. Joanna Jabłkowska, „Literatur ohne Hoffnung“, a. a. O., 25.

Rahmen der literarischen Fiktion.96 Die Schriften der utopischen Sozialisten eröffnen ein neues Kapitel in der Geschichte der literarischen Utopie. Die Gattung der Utopie, die in ihren Ursprüngen eine satirische Bespiegelung der Wirklichkeit sein sollte, eine Fiktion, die sich später zu einer Zukunftsprognose entwickelte, hat sich im 19. Jahrhundert schließlich zu einer ernst zu nehmenden politischen Gattung entwickelt.

Der Vollständigkeit halber sei hier noch eine andere Form der Gattungstradition der utopischen Erzählung erwähnt: Die Trivialisierung. So konstatiert Hans Freyer, dass „[a]us dem großen zeitkritischen Roman […] der Unterhaltungsroman [werde]“97. Wolfgang Braungart zufolge vollzieht sich bereits um die Wende des 17./18. Jahrhunderts die Wandlung der literarischen Utopie zum Roman.98

Die Roman-Utopie organisiert sich vom Individuum her; sie wird im Medium von Lebensgeschichten und Liebesgeschichten erzählt und trägt damit auch dem neuen subjektiven Weltverhältnis Rechnung. Im Roman wird einerseits zunehmend vom Subjekt her erzählt und also das erzählte Geschehen geordnet; andererseits wird ausgeblendet, was die neue utopische Ordnung stören könnte. Offensichtlich scheint das Vertrauen der Roman-Utopisten in die Ordnungs- und Integrationskraft ihres utopischen Subjekts nicht so groß wie das der Totalitäts-Utopisten Andreae und Campanella in das Apriori ihrer vorsubjektiven Ordnungskonzepte. Die Entwicklung zum Roman bedeutet also

gleichzeitig, daß der ehemals umfassend gegenweltliche, utopische Anspruch allmählich eingeschränkt wird. Andererseits stellt sich das Problem der Integration der utopischen Subjekte zu einem utopischen Gemeinwesen nun mit aller Schärfe, weil nun die neue, zur Störung der Ordnung neigende Subjektivität gebändigt und zum Konsens geführt werden muß.99

96 Ein Beispiel hierfür ist Étienne Cabets Reise nach Ikarien, die vom Autor als konkreter politischer Plan begriffen wurde. „Cabets Icarien ist eine verdeckte Zeitutopie.

Beschrieben wird ein exotisches Land irgendwo am fernöstlichen Rand des eurasischen Kontinents und dessen unmittelbare geschichtliche Vergangenheit. Deutlich zeichnet sich hinter dem traditionellen erzählerischen Beiwerk des utopischen Romans die idealisierte Geschichte Frankreichs von den Revolutionen zwischen 1789 und 1830 in die Zukunft eines gleichheitskommunistischen Gemeinwesens ab. […] Die ikarische Geschichte vor der Revolution trägt Züge der Geschichte des Ancien Regime, der Restauration und Englands. Cabet verarbeitete hier seine historischen Forschungen.“, in: „Luxus und Pferdestärken. Die Utopie in der industriellen Revolution. Etienne Cabets Icarien“, in:

Klaus L. Berghahn, Hans Ulrich Seeber (Hg.), a. a. O., 130; Willibald Steinmetz sieht auch in Harringtons Oceana (1656) einen Übergang „von utopischem Denken zu rationaler Planung im staatlichen Bereich aufgrund theoretischer Überlegungen und historischer Trendanalysen. […] [Harrington] begnügt sich nicht wie andere utopische Denker damit, einen Wunschzustand zu konstruieren, um ihn der eigenen Zeit als normatives oder kritisches Gegenbild vorzuhalten; vielmehr erhebt er das Problem der Realisierung seines idealen Staates im Rahmen der gegebenen historischen Bedingungen zum Hauptgegenstand.“, in: „Utopie oder Staatsplanung? – James Harringtons Oceana von 1656“, in: ebd., 59.

97 Hans Freyer, „Die politische Insel“, a. a. O., 156. Zum Thema Trivialisierung der Utopie wird auf die Studie von Joanna Jabłkowska verwiesen: dies., „Literatur ohne Hoffnung“, a. a. O., 29.

98 Vgl. Joanna Jabłkowska, „Literatur ohne Hoffnung“, a. a. O., 27ff.

99 Wolfgang Braungart, „Die Kunst der Utopie. Vom Späthumanismus zur frühen Aufklärung“, J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart 1989, 13.

Braungart führt als Beispiele Denis Vairasses L’Histoire des Sévarambes (1677-79)100 und Johann Gottfried Schnabels Insel Felsenburg (1731-43)101 an, durch die er seine These bestätigt sieht, dass der Gattungseinschnitt nicht erst im 19., sondern um die Wende des 17. und des 18. Jahrhunderts zu sehen sei. Das bekannteste Beispiel des Übergangs der Utopie zum (Unterhaltungs-)Roman ist Daniel Defoes Robinson Crusoe (1719), der primär als Abenteuerbuch gelesen wurde, und der auch im 20. und 21. Jahrhundert noch als ein solches rezipiert wird.102

Jabłkowska verweist auch in diesem Zusammenhang auf zwei idealtypische Formen, die zur gleichen Zeit auftreten können, ähnlich wie im Falle der Verzeitlichung:

- Die traktatähnliche Romangattung, die den individuellen Helden nur als Medium (Beobachter und Berichterstatter bis Bewunderer des utopischen Staatswesens) benutzt. Zu finden bei Morus, Campanella, Andreae, Bacon, Mercier und Cabet.

- Die Form des Romans, in dem das individuelle Schicksal für das Geschehen konstitutiv ist. Keine statische Beschreibung, sondern eine dynamische Handlung wäre die Folge, z.B. bei Vairasse, Schnabel und Defoe.

Die Tendenz zur Romanform ist demnach bereits seit der Frühaufklärung zu beobachten, was jedoch die utopische Inhaltlichkeit, im Sinne der Darstellung des besten Staates, beeinträchtigt. Aus dieser Entwicklung folgen die bereits erwähnte „Pluralisierung“ der Gattung und die Relativierung utopischer Konzepte.

Aus rezeptionsästhetischer Sicht drängt sich die Frage nach der Lesbarkeit auf, d.h. danach, wie ein literarisches Werk rezipiert wird. Ist der utopische Gedanke

100 Vgl. Ludwig Stockinger, „‘Realismus‘, Mythos und Utopie. Denis Vairasse: L’Histoire des Sévarambes (1677-79)“, in: Klaus L. Berghahn, Hans Ulrich Seeber (Hg.), a. a. O., 73-94, hier: 90: Stockinger thematisiert die Literarisierung der Gattung und bestätigt die Ansätze des Fortschrittsdenkens im Roman: „[…] Vairasse formuliert Jahrzehnte vor der endgültigen Durchsetzung geschichtsphilosophischen Denkens Ansätze der Fortschrittsidee, indem er die Möglichkeit des Übergangs von der Erfahrungswelt zur utopischen Ordnung in einer Erzählung wahrscheinlich zu machen versucht.“

101 Vgl. Wilhelm Voßkamp, „‘Ein irdisches Paradies‘: Johann Gottfried Schnabels Insel Felsenburg“, in: Klaus L. Berghahn, Hans Ulrich Seeber (Hg.), a. a. O., 95-104, hier: 95:

Voßkamp geht zu Beginn seiner Abhandlung auf die Form des Romans ein: „[…] Die Insel Felsenburg […] gehört zu einer Mischform der Prosaliteratur, die der Tradition pikaresker Abenteuerromane (Avanturierromane) ebenso zugerechnet werden kann wie der der Robinsonaden oder utopischen Erzählungen. ‚Utopie und Robinsonade‘ (F.

Brüggemann), ‚Robinsonadenutopie‘ (E. Reckwitz) oder ‚utopische Robinsonade‘ (M.

Winter) sind deshalb, unter Hinweis auf die Vorbildfunktion der prototypischen Texte von Thomas Morus und Daniel Defoe, geläufige (und berechtigte) Charakterisierungen.“

102 Vgl. Joanna Jabłkowska, „Literatur ohne Hoffnung“, a. a. O., 31.

dem Leser bereits bewusst oder liest man schon vor dem gedanklichen Hintergrund sozialer Verbesserungspläne?

Festzuhalten sind demnach zwei Aspekte in der Entwicklung der Utopie: Die in der Verzeitlichung wurzelnde Verwirklichungsabsicht und die langsam voranschreitende Trivialisierung.103 Daneben gibt es natürlich noch andere Paradigma der Utopiewandlung, die gerade für das 20. Jahrhundert von Bedeutung sind. Auf Basis der vorangegangenen Überlegungen sollen schließlich Schlüsse für die Utopie im 20. Jahrhundert gezogen werden.

Die Forschungsliteratur verordnet die klassischen Utopien im Zeitalter der Renaissance und der Reformation. Angefangen bei Thomas Morus, über Tommaso Campanella und Francis Bacon, um drei der bedeutendsten Gattungsvertreter zu nennen. Aus diesem Grund wurden die für die Gattung der Utopie exemplarischen Texte104 kurz dargestellt, um im zweiten Teil der Arbeit, der sich mit der Textanalyse der Werke von Schmidt, Haushofer und Rosendorfer befasst, vertiefte Rückschlüsse über den Wandel der Gattung zu ziehen. Durch wiederholte Reflexion dieser klassischen Utopien soll dazu beigetragen werden, in den Utopien der Vergangenheit historisierend die Probleme des 20.

Jahrhunderts kritischer nachzuvollziehen und besser zu verstehen. Angesichts einer möglichen Selbstvernichtung der Menschheit lohnt der Blick zurück, durch den die realen Möglichkeiten des Friedens, der Freiheit und einer menschenwürdigen Ordnung aufgezeigt werden.105

Klaus J. Heinisch betont, indem er die Freiheit als ein wesentliches Merkmal der klassischen Utopie hervorhebt, dass

[…] diese Utopien ‚im Grunde die eigene Zeit des Autors schildern‘, so sehr sind sie eben

‚Spielarten unseres Wesens und zeichnen dessen Konsequenzen in einem Raume von bedeutenderer Schärfe‘ (E. Jünger). Somit erweisen sie […] die Irrationalität des Menschen, dessen Wesen sich […] jeder Berechenbarkeit zu entziehen wußte. Sie liefern daher e contrario den Beweis für die Wesenhaftigkeit der menschlichen Freiheit, die gerade da triumphiert, wo sie überwunden werden soll, und die als unabänderliche Gegebenheit jeder menschlichen Gemeinschaft die ständige Aufgabe stellt, ihr gerecht zu werden.106

103 Vgl. ebd., 32f.

104 Die Auswahl der vorliegenden Werke begründet sich auf die in der Forschung dominierende Kategorisierung: Mehrheitlich werden Thomas Morus‘, Tommaso Campanellas und Francis Bacons Werk als Beispiele der Gattungstradition und als

„[hervorragendste] Staatsromane des Humanismus“ angeführt. Da sich die genannten Autoren ausnahmslos auf Platon beziehen und sich an dessen Politeia anlehnen, erscheint die Thematisierung seines Werkes als Grundvoraussetzung für das Verständnis (vgl. Klaus J. Heinisch (Hg.), a. a. O., 216, 235ff; vgl. Friedemann Richert,

„Der endlose Weg der Utopie. Eine kritische Untersuchung zur Geschichte, Konzeption und Zukunftsperspektive utopischen Denkens“, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2001, 38).

105 Vgl. Klaus L. Berghahn, Hans Ulrich Seeber (Hg.), a. a. O., 6.

106 Klaus J. Heinisch (Hg.), a. a. O., 218.

Der Aspekt der Freiheit des Individuums tritt in dem Moment zutage, in dem es um die Klassifizierung des Verhältnisses von Subjekt und Gesellschaft geht.

Insofern erscheint dieser menschliche Wesenszug gerade auch im 20.

Jahrhundert von besonderer Aktualität.

1.2

Einblicke in die Utopiegeschichte 1.2.1 Die Utopie im 18. und 19. Jahrhundert

Um den Wandel von der klassischen Utopie zur Anti-Utopie und zur Dystopie anschaulich darzustellen, soll im Folgenden deskriptiv die Utopiegeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts dargelegt werden. Dabei wird nicht der Anspruch der Vollständigkeit erhoben, sondern es soll in der selektiven Darstellung ein Verständnis für den Wandel der Gattungstradition aufgezeigt werden.107

Die Utopiegeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts ist untrennbar mit der Geschichtsphilosophie der beiden Jahrhunderte verbunden. Geschichte wird dabei als transzendentale Größe verstanden, die dem Menschen den Raum eröffnet, sich selbst und die Gesellschaft zu vervollkommnen. Darüber hinaus korreliert das utopische Denken dieser Epoche stark mit dem geschichtsphilosophischen Topos des Fortschritts. Dem Mensch eröffnen sich dabei zwei Möglichkeiten: Einerseits dient die Vernunft als Instrumentarium für das Streben nach Vervollkommnung, andererseits – materialistisch gesehen – leitet sie das Zeitalter des homo faber ein. Das Vernunftprinzip ist aber auch als hermeneutischer Schlüssel zu verstehen und begründet damit die utopischen Konstrukte der Epoche. Gerade deshalb ist die Geschichtsphilosophie als Voraussetzung des utopischen Denkens jener Zeit zu sehen.108

In der Aufklärungszeit wird die Geschichte als eigenständiger Erkenntnisbereich philosophisch gewertet, sei es antitheologisch wie bei Voltaire109 oder Comte110,

107 Eine detaillierte Erläuterung der Geschichtsphilosophie des 18. und 19. Jahrhunderts erfolgt z.B. bei Emil Angehrn, „Geschichtsphilosophie“, Stuttgart, Berlin, Köln 1991 und Friedrich Rapp, „Fortschritt. Entwicklung und Sinngehalt einer philosophischen Idee“, Darmstadt 1992.

108 Vgl. Friedemann Richert, a. a. O., 40.

109 Der Begriff Geschichtsphilosophie stammt von Voltaire, der die These vertrat, dass die Geschichte als ein Fortschritt der Vernunft aus der Barbarei und dem dunklen Aberglauben befreie. Der Entwicklungsprozess der Geschichte zur Geschichte mit Subjektcharakter ist die bürgerliche Gesellschaft. Der Entwicklungsprozess ist wiederum ein Prozess des Fortschritts im Sinne einer erweiterten Naturbeherrschung und der Realisierung von Freiheit. Vgl. Oswald Schwemmer, Artikel „Geschichtsphilosophie“, in:

„Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie“, Bd. 1: A-G, Jürgen Mittelstraß (Hg.), Verlag J. B. Metzler, Stuttgart, Weimar 1995, 752-755.

110 Auguste Comte ist ebenfalls ein Vertreter des Fortschrittsdenkens, der die Geschichtsphilosophie, von geschichtstheologischen Überlegungen gereinigt, in das positiv-wissenschaftliche Weltbild integriert. Er entwirft eine immanente Eschatologie auf

sei es mit dem der Theologie verpflichteten Anliegen der Theodizee. Darüber hinaus erscheint Geschichte als linear gedachter fortschreitender Geschichtsprozess. Komplementär zur Vernunftkonzeption ist der Fortschrittsbegriff zu sehen. Alles Geschehen in der Geschichte soll dementsprechend dem Fortschritt verpflichtet werden. Darum ist der Fortschrittsbegriff inhaltlich so zu bestimmen, dass der geschichtsphilosophisch wahrgenommene Lauf der Zeit eine grundsätzliche und kontinuierliche Verbesserung der gesellschaftlichen, politischen, sozialen und technischen Verhältnisse mit sich bringt.

Zudem wird der Mensch in zunehmendem Maße als handelndes Subjekt verstanden. Der Mensch gestaltet demnach die Geschichte und wird selbst in seiner conditio humana dem Fortschrittsmodell verpflichtet. Das bedeutet, dass über den Menschen als handelndes Subjekt die Dimension des Politischen im Sinne eines aktiven Gestaltens von Gesellschaft und Machtverhältnissen in Gegenwart und Zukunft dem Menschen mehr und mehr zugesprochen wird.

In der Geschichtsphilosophie der Aufklärung ist nicht die Vergangenheit, sondern die Zukunft von Interesse, wobei in letzter Konsequenz die Eschatologie in den immanenten Geschichtsverlauf involviert wird: Geschichte wird damit zur Heilsgeschichte.

So ist in der Utopiegeschichte der Gedanke wieder zu finden, dass mit der Vernunft der geschichtliche Prozess dem menschlichen Denken zugänglich und verfügbar gemacht werden könne. Zu sehen ist dies deutlich in der Zeitutopie, in der die Zukunft der Geschichte und der Menschheit als plan- und überschaubar dargestellt wird. Die Utopiegeschichte ist aber auch dem Fortschrittsdenken verpflichtet. Ziel der utopisch formulierten Fortschrittsentwicklung ist das Schaffen aller notwendigen Voraussetzungen, durch die der ideale Staat realisiert werden kann, einschließlich der Realisierung des „Neuen Menschen“.

Im Mittelpunkt des utopischen Denkens steht der Mensch als handelndes Subjekt, das vernünftig die geschichtliche Entwicklung der soziopolitischen Verhältnisse zu gestalten versteht. Das utopische Denken erfährt eine anthropologische Fundierung, in die die Ent-Eschatologisierung der Geschichte

dem gesicherten Fundament strenger Wissenschaftlichkeit. Comtes Denken ist durchdrungen von der Überzeugung, dass Vernunft und Wissenschaft den positivistisch verstandenen Fortschritt ermöglichen werden und dass dementsprechend das positivistische Zeitalter das irdische Paradies verwirklichen werde. Das Heil in der Geschichte ereignet sich nach Comte weltimmanent, mittels Vernunft und Sozialphysik.

(Vgl. Friedemann Richert, a. a. O., 50f.).

eingebettet ist und die die Geschichte als vom Menschen veranstaltete Heilsgeschichte versteht.111

Im 18. Jahrhundert ist vor allem die Ablösung der Raum- durch die Zeitutopie zu vermerken. Die utopischen Konstrukte weisen nun in die Zukunft der menschheitsgeschichtlichen Entwicklung und damit auf die Erwartung einer heilvollen Geschichtswende.112 In diesem Zusammenhang erhebt die politische Utopie den Geltungsanspruch, das in die Zukunft projizierte Ziel auch tatsächlich zu verwirklichen. Als weiteres Kennzeichen tritt die Zeitkritik grundlegend in den Vordergrund.113 Der weitere Utopiediskurs ist zudem dadurch gekennzeichnet, dass einerseits das politische Denken der Zeit kritisiert wird und andererseits eine Trennung zwischen der herrschaftsfreien (anarchistische Variante) und der herrschafts- und institutionsbezogenen Utopieform (archistische Variante) erfolgt.

Wie in der klassischen Utopietradition gehört die Kritik an den soziopolitischen Verhältnissen zum zentralen Aspekt der Utopien der Aufklärungszeit. Dabei richtet sich die Kritik gegen alle Institutionen des Ancien régimes: gegen das absolute Königtum, gegen die Kirche und den Adel. Diese Kritik beinhaltet die Ablehnung der egoistischen Verwertung und Nutzung von Eigentum, die im 19.

Jahrhundert und später bei Marx in die radikale Kritik des Privateigentums mündet. Im Privateigentum wird die eigentliche Ursache für die gesellschaftlichen Zerwürfnisse gesehen.

Hinzu kommt ein weiteres Merkmal, das die klassische Utopietradition von der Utopie der Aufklärung differenziert: Wurde bei den Klassikern die gesellschaftliche Wirklichkeit als bloße Negation zum idealen Staat gewertet, so wird im 18. Jahrhundert die kritische Negation der Gesellschaft als notwendige geschichtliche Durchgangsstufe auf dem Weg zum idealen Gemeinwesen gesehen. Die Kritik fungiert damit als geschichtsphilosophische Triebkraft, die dem Vernunftprinzip verpflichtet ist.114

Richert nennt die normativen Grundlagen der Utopiekonzeption im 18.

Jahrhundert, die zum Teil auf die klassische Utopie rekurrieren und im weiteren Verlauf als mögliche Variablen für den Wandel der Utopie im 20. Jahrhundert diskutiert werden müssen.

Die utopischen Konstrukte in der Aufklärung sind demzufolge als Gegenmodelle zur europäischen Zivilisation gedacht. Trotz der Zukunftsorientiertheit galt die Ausrichtung nicht mehr auf das christlich-transzendente Modell der

111 Vgl. ebd., 66ff.

112 Dieser Projektionsprozess ist zum ersten Mal bei Merciers Zukunftsroman Das Jahr 2440 (1770) nachweisbar.

113 Vgl. Hans Freyer, „Die politische Insel“, a. a. O., 121.

114 Vgl. Friedemann Richert, a. a. O., 70ff.