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Bedeutung der Misanthropie

Im Dokument "Jedes Ende ist auch ein neuer Anfang" (Seite 188-199)

gehört.672 […] Wer in dieser Logik zu Ende denkt, kommt zu einem fatalen Schluß: nur der real geschehende Weltuntergang wäre eine überzeugende Warnung vor dem Weltuntergang. […] Somit wäre die einzige Katastrophe, die allen einleuchtet, die Katastrophe, die keiner überlebt.673

Die gegenwärtige Zukunftsliteratur existiert Jabłkowska zufolge demnach in der Spannung zwischen Apokalypse und Groteske.674

Die Protagonisten der vorgestellten Werke weisen jedoch Eigenschaften auf, die in Verbindung mit ihrem Überleben in der menschenleeren Welt zu stehen scheinen, auch wenn dies in den Romanen nicht explizit bestätigt wird.

In diesem Zusammenhang sind die Zivilisationskritik und die antisozialen Aspekte der Individuen zu sehen. Auffällige Merkmale überlebender Menschen in postapokalyptischen Szenarien sind eine oftmals intellektuelle Überlegenheit oder eine entsprechend pragmatische Haltung den Ereignissen gegenüber sowie misanthropische Züge, die in der Verachtung aller Menschen und der Menschheit gipfeln.

Dieter Bänsch konstatiert für das Werk Schmidts, dass sich in diesem eine allgemeine[…] gallige[…] Misanthropie [zeige], die Schmidt-Leser als eine der motivischen Konstanten des Werkes kennen; als ätzende nationalkritische Universalpolemik wird es zu einem Hauptstück gerade der um die fünfziger Jahre gruppierten Werke.676

Bernhard Sorg hat in seiner Studie „Der Künstler als Misanthrop“ eine auch für Schmidts Werk wichtige Schlussfolgerung getroffen:

Die Enttäuschung über das Leben in seiner Schmerzlichkeit und Trivialität, seinen Verletzungen und Zufällen und die Erfahrungen menschlicher Bosheit und

Gleichgültigkeit werden zu Zeichen universaler Depravation, weil für den Misanthrophen der Gedanke an eine vollständige Sinn-Losigkeit der Geschehnisse noch unerträglicher wäre als die Idee einer übermächtigen Gewalt des Bösen für ihn schon ist.677

Darüber hinaus konstatiert Sorg die im 20. Jahrhundert erfolgte Verbindung von Menschenfeindschaft und Künstlertum: in der Bestimmung der Kunst als geistgezeugter Opposition zur materiellen Realität, die als irreversibel böse aufgefasst und verworfen wird. Der Misanthrop erscheint außerdem als Typus einer literarischen Figur, die funktional eingesetzt werden kann, als Korrektiv einer verderbten Welt. Doch bleibt die psychologische Wahrscheinlichkeit der Gestalt gering. Aber es entsteht eine Gestalt, die in radikalen Alternativen denkt und handelt, die konsequent ihre eigene Welt entwirft, weil ihr die erlebte und vorgegebene als unrettbar erscheint.678 Sorg kommt zu dem Schluss, dass das Welt-Bild des misanthropischen Insel-Menschen religiös grundiert sei; sein Weltmodell sei bestimmt von einander ausschließenden Oppositionspaaren, die alle zurückgehen auf die elementare Differenz von Geist und Materie. Schmidts Menschenfeind ist nicht eigentlich von den Menschen enttäuscht oder über sie erbittert, weil er Böses von ihnen erlebt hätte; davon erfährt man zumindest

676 Dieter Bänsch, „Rückzug in die Heide. Über Arno Schmidts fünfziger Jahre“, in: „Die fünfziger Jahre. Beiträge zu Politik und Kultur“, Dieter Bänsch (Hg.), Gunter Narr Verlag, Tübingen 1985, 326-365, hier: 350.

677 Bernhard Sorg, „Der Künstler als Misanthrop“, a. a. O., 1.

678 Vgl. ebd., 5f.

nichts. Misanthropie erscheint vielmehr als notwendige Konsequenz einer erfahrungsunabhängigen Erkenntnis.679 Vor allem in den Texten der unmittelbaren Nachkriegszeit dominiert eine Figurenkonstellation, die den misanthropischen Einzelnen als potentiellen oder tatsächlichen Einsiedler sieht, der der destruktiven Welt um sich herum eine Welt aus seinem Kopf entgegenhält bzw. eine Welt entwickelt, die ihn in seiner Selbstisolation bestätigt und seine Superiorität ideologisch legitimiert.680

So richtet sich in Schwarze Spiegel die Zivilisationskritik gegen alle Menschen und bekräftigt damit eine scheinbar allumfassende Misanthropie des Protagonisten. Die Auseinandersetzung, die das Ich mit der Menschheit führt, ist allerdings primär retrospektiv organisiert und transportiert gleichermaßen Begründung und Bewertung der Katastrophe. Als Gegengewicht zur ebenso verachteten wie – vor allem in Form einer erotischen Beziehung – herbeigesehnten menschlichen Gesellschaft dient dem Erzähler die Natur, die von ihm beinahe konsequent personalisiert wird (vgl. Kap. 4.5.4 Das Ich in der Einsamkeit).681 Auffallend ist jedoch eine Entpersonalisierung der Natur am Ende des Romans, als jegliche Hoffnung des Protagonisten durch den Aufbruch von Lisa im Keim erstickt wird: „Noch einmal den Kopf hoch : da stand er grün in hellroten Morgenwolken. Reif in Wiesenstücken. Auch Wind kam auf. Wind.“ (SP, 260). Schon vorher, als ihn „die große Welle Zärtlichkeit und Glück“ (SP, 247) angesichts Lisas Auftauchen durchströmt, personalisiert er den Wind zwar noch (wie er es bereits zuvor mehrfach getan hat), aber sein ehemals zärtliches Verhältnis zu diesem scheint aufgehoben: „[…] der Wind fuhr ihr ins Haar und ich murmelte eifersüchtig : er soll das lassen !“ (SP, 249). Auch fällt der Wechsel des Genus auf: Die ehemals weibliche „Windin“ wird maskulin.

Bereits auf der ersten Seite des Romans Schwarze Spiegel wird der Leser mit der Einstellung des Protagonisten zum Leben konfrontiert, die keine Zweifel offen lässt: „Des Menschen Leben : das heißt vierzig Jahre Haken schlagen. Und wenn es hoch kommt (oft kommt es einem hoch ! !) sind es fünfundvierzig; und wenn es köstlich gewesen ist, dann war nur fünfzehn Jahre Krieg und bloß dreimal Inflation.“ (SP, 201). Man kämpft sich also durch ein kurzes Leben, das geprägt ist von ökonomischen und politischen Missständen, vor denen der Einzelne ständig fliehen muss. Unter diesem Aspekt erscheint die Aussage des

679 Vgl. ebd., 84f.

680 Vgl. ebd., 89.

681 Vgl. Kai U. Jürgens, a. a. O., 59.

Erzählers, dass er „[s]eit fünf Jahren […] keinen Menschen mehr gesehen [habe], und […] nicht böse darüber [sei]“ (SP, 203), durchaus nachvollziehbar.

Die Ursache für den Mitte der fünfziger Jahre stattgefundenen Dritten Weltkrieg sieht der Protagonist in der mangelnden Voraussicht der Menschen begründet.

So hätte die Selbstvernichtung vermieden werden können, wenn nur die Erdbevölkerung „durch legalisierte Abtreibung und Präservative auf hundert Millionen stationär gehalten“ (SP, 210)682 worden wäre.

Im Gespräch mit Lisa begründet der Ich-Erzähler weiter seine Einstellung:

„‘Rufen Sie sich doch das Bild der Menschheit zurück ! Kultur ! ?: ein Kulturträger war jeder Tausendste; ein Kulturerzeuger jeder Hunderttausendste !: Moralität ?:

Hahaha ! […]‘.“ (SP, 244). Deutlich nennt der Protagonist in diesem Kontext auch einen bedeutenden Grund für seine Misanthropie: Die fehlende Kultur und Moral der Menschen geben ihm Anlass zur Verachtung seiner Spezies: Er übt eine dezidierte Bildungskritik an der zeitgenössischen Gesellschaft683. Die Tatsache, dass unter den menschlichen Geschöpfen „unter Tausenden kaum Eines […] zu einem bemerkenswerten Grade von Wert zu bringen wäre“ (SP, 245), spiegele sich in Kultur und Moral der Menschen wider, deren berufliche Ziele der Protagonist überspitzt zusammenfasst: „[…] ‘Was waren die Ideale eines Jungen : Rennfahrer, General, Sprinterweltmeister. Eines Mädchens : Filmstar, Mode<schöpferin>. Der Männer : Haremsbesitzer und Direktor. Der Frau : Auto, Elektroküche, der Titel ‚gnädige Frau‘. Der Greise : Staatsmann – ‚ […].“ (SP, 244f.). Diese Ideale stimmen nicht mit seinem Verständnis von kreativ-intellektueller Betätigung überein. Die Geistlosigkeit seiner Zeit zeige sich auch in dem Interesse an Illustrierten [„die Pest unserer Zeit ! Blödsinnige Bilder mit noch läppischerem Text“ (SP, 206)] und der Anerkennung von Schlagern [„Pi-Pa-Paddelboot“ (SP, 225)], während ernsthafte Autoren nur als literarische

„Hungerleider“ (SP, 218) zu existieren vermochten. Auf textimmanenter Ebene übernimmt der Erzähler einerseits die Rolle des Kulturrezipienten, der seine

682 Dies kann auf Schopenhauer zurückgeführt werden; so heißt es in ebd., „Die Welt als Wille und Vorstellung“, Gesamtausgabe 1. Bd., a. a. O., 454: „Ja gesetzt, auch dieses Alles [d.h. Streit, Krieg; Anm. d. Verf.] wäre endlich, durch eine auf die Erfahrung von Jahrtausenden gestützte Klugheit, überwunden und beseitigt; so würde am Ende die wirkliche Ueberbevölkerung des ganzen Planeten das Resultat seyn, dessen entsetzliche Uebel sich jetzt nur eine kühne Einbildungskraft zu vergegenwärtigen vermag […].“ Vgl.

auch Arno Schmidt und die Gnosis, in: Dietmar Noering, a. a. O., 6: „Die erste Konsequenz, die alle Hauptfiguren in den Romanen und Erzählungen Arno Schmidts aus ihrem Wissen ziehen, ist die, daß sie getreu der gno[s]tischen Anschauung Zeugung und Gebären ablehnen. Hierin wird der einzige Weg gesehen, der Welt und den Gesetzen des Leviathan zu entfliehen. Da der Demiurg die Macht über die Welt absolut ausüben kann, ist die Verweigerung der von ihm gewünschten Arterhaltung das einzige Mittel des Menschen, gegen die Herrschaft des Bösen zu revoltieren.“

683 Vgl. Kai U. Jürgens, a. a. O., 63.

vorgebliche Überlegenheit bestätigt sieht, und andererseits negiert der schreibende Protagonist aufgrund der kulturellen Unreife der Menschen das kommunikative Element im Kontakt mit seinen Lesern [„‘Für Leser ?‘ fragte ich zutiefst erstaunt“ (SP, 258)]. Seine Motivation begründet sich nämlich nicht in einer „sittlichen Aufgabe“ (SP, 258), sondern in seinem persönlichen Vergnügen (vgl. SP, 258). Dass hierin auch Resignation und ein geringes Selbstwertgefühl mitschwingen, wird durch eine Äußerung des Protagonisten angedeutet, als Lisa in seinen Memoiren liest: „Wahrscheinlich sollte ihr Interesse ein Kompliment für mich sein.“ (SP, 257).

Besonders erschüttert ihn die Tatsache, dass der menschlichen Gattung durch die Natur alle Eigenschaften und Voraussetzungen gegeben sind, die „zum Wahrnehmen, Beobachten, Vergleichen und Unterscheiden der Dinge nötig“ (SP, 245) seien. Sie ermöglichen es dem Menschen auch, das Vergangene produktiv nutzbar zu machen. Der Mensch könne nicht nur seine eigenen Erfahrungen nutzen, sondern „auch die Erfahrungen aller vorhergehenden Zeiten“ (SP, 245).

Kai U. Jürgens folgert daraus, dass die Lektüre von Büchern gemeint sei, deren Gebrauch damit legitimiert werde. Demzufolge begründe diese Passage die Existenz des Erzählers, der sich in der Tradition „einer Anzahl von scharfsinnigen Menschen“ (SP, 245) sieht, „die, wenigstens sehr oft, richtig gesehen haben“

(SP, 245).684 Die Anlage nütze aber nichts, denn:

‘[…] Dessen Allen unerachtet, drehen sich die Menschen seit etlichen Jahren immer in dem nämlichen Zirkel von Torheiten, Irrtümern und Mißbräuchen herum, werden weder durch fremde noch eigene Erfahrung klüger, kurz, werden, wenns hoch in einem Individuum kommt, witziger, scharfsinniger, gelehrter, aber nie weiser.‘ (SP, 245)

Dieser Zirkel resultiert aus der Nichtbeachtung der Regeln, „deren Anwendung uns vor Irrtümern und Trugschlüssen“ (SP, 245) sicherstellt und durch die „wir […] mit befriedigender Gewißheit wissen, was schön und häßlich, recht oder unrecht, gut oder böse ist, warum es so ist, und inwieweit es so ist“ (SP, 245).

Seine Verachtung gründet entsprechend auch auf die fehlende Vernunft der Menschen. Dabei erfüllt ihn dieser Umstand nicht mit Glückseligkeit oder Genugtuung, sondern mit „tiefer Traurigkeit“ (vgl. SP, 210): „das war nun das Ergebnis ! Jahrtausendelang hatten sie sich gemüht: aber ohne Vernunft ! […].“

(SP, 210). Durch die Erinnerung an die Politik gewinnt das Ich seinen polemischen Unterton zurück, der aber deutlich Züge der Selbstüberzeugung trägt: „ach, es war doch gut so, daß Alle weg waren“ (SP, 210). Der Protagonist verwendet eine ähnliche Formulierung, wenn er das Verschwinden der Rechtsanwälte positiv bewertet (vgl. SP, 224); das eigentlich unnötige

684 Vgl. ebd., 60.

Hinzufügen des Modalpartikels „doch“ verweist auf den mangelnden Glauben an seine eigenen Worte. Neben der rationalen Diffamierung existiert also eine emotionale Reaktion, die die vom Verstand nachträglich befürwortete Katastrophe durchaus bedauert. Der scheinbare Misanthrop empfindet eine enttäuschte Liebe zu seinesgleichen, die die zum Teil paradox erscheinenden Aussagen des Protagonisten erklären könnten.685 Sein Verhältnis zur Menschheit ist demzufolge ambivalent686, sein Zynismus erscheint als Zeichen „aggressiven Selbstschutzes“ gegen die ihn in seiner Existenz bedrohende Verzweiflung zu sein.687 Hans Wollschläger konstatiert einen ähnlichen Befund, den er allerdings nicht nur in den Schwarzen Spiegeln sieht:

Der in den SPIEGELN, in genauem Vollzug der regressivem Wunschbewegung, durch die Katastrophe hindurch auf die Insel des Wieder-Allein-Seins gelangt war […], hielt doch, unablässig beredt, den L e s e r fest –: was da als formales Dilemma aufscheint, ist die umgreifende Krise seiner Grund-Antinomie überhaupt.688

Der Erzähler moniert außerdem, dass die Menschen die Gesetze der Vernunft ignorieren, indem sie „von einzelnen Fällen aufs Allgemeine“ (SP, 245) schließen, „aus flüchtig oder nur von einer Seite wahrgenommenen Begebenheiten irrige Folgerungen“ (SP, 245) herleiten und „alle Augenblicke Worte mit Begriffen und Begriffe mit Sachen“ (SP, 245f.) verwechseln. „Die Allermeisten – das ist nach dem billigsten Überschlag 999 unter 1000 – urteilen […] nach den ersten sinnlichen Eindrücken, Vorurteilen, Leidenschaften, Grillen, Phantasien, Launen, zufälliger Verknüpfung der Worte und Vorstellungen in ihrem Gehirne“ (SP, 246) und kommen zu irrigen Folgerungen. Der Protagonist bezeichnet dabei interessanterweise diese „allgemeine Art zu vernünfteln“ (SP, 245) als „angeborene“ (SP, 245), was eine mögliche gattungsbedingte Unfähigkeit andeutet, die „Erfahrungen aller vorhergehenden Zeiten“ (SP, 245) anzuwenden. Als weiteres Problem kristallisiert der Ich-Erzähler die Fremdbestimmung der Menschen heraus, die „lieber durch fremde Augen falsch sehen, mit fremden Ohren übel hören, durch fremden Unverstand sich zu Narren machen lassen“ (SP, 246). Das Ergebnis sei im politischen Sinne „[e]ine Maschine, ein bloßes Werkzeug, das sich von fremden Händen brauchen und

685 Vgl. ebd., 62.

686 Vgl. Marius Fränzel, a. a. O., 70f: Dabei ist die Ambivalenz des Misanthropen zurückzuführen auf Molières Werk Le Misanthrope ou l'Atrabilaire amoureux, in dem der Protagonist Alceste zwar menschenfeindliche Seiten aufweist, jedoch durchaus auf Verständnis und Freundschaft bei Männern sowie auch auf Liebe bei Frauen stößt. Vgl.

Hartmut Vollmer, „Das vertriebene und flüchtende Ich“, a. a. O., 93: „Auch in Schwarze Spiegel zeigt der Ich-Erzähler eine ambivalente Lebenshaltung, hier in seinem Verhältnis zur menschlichen Gesellschaft.“

687 Vgl. ebd., 71.

688 Hans Wollschläger, a. a. O., 166.

mißbrauchen lassen muß“ (SP, 246). Der Rezipient fühlt sich zurecht an den Nationalsozialismus erinnert, wenn der Protagonist weiter ausführt, die Menschen würden, „besonders wenn sie in große Massen zusammengedrängt sind“ (SP, 246), nicht nur von „Begier und Abscheu, Furcht und Hoffnung“

motiviert,

[…] sondern in den meisten und angelegensten Fällen […] sind es fremde

Leidenschaften oder Vorurteile, ist es der Druck oder Stoß weniger einzelner Hände, die geläufige Zunge eines einzigen Schwätzers, das wilde Feuer eines einzigen

Schwärmers, der geheuchelte Eifer eines einzigen falschen Propheten, der Zuruf eines einzigen Verwegenen, der sich an die Spitze stellt – was Tausende und Hunderttausende in Bewegung setzt […]. (SP, 246)

Der Protagonist wirft den Menschen eine mangelnde Nutzung ihres Verstandes vor, denn die auf Instinkte reduzierten und damit in ihre Animalität zurückversetzten Menschen seien anfällig für die Verführungskünste eines Einzelnen. Obwohl sich daraus eine Anspielung auf den Führerkult der NS-Zeit herauslesen lässt, ist diese Äußerung wohl auch ahistorischer Natur und in einem allgemeinen Sinne zu verstehen; so heißt es kurz darauf: „Die Grimassenmacher, Quacksalber, Gaukler, Taschenspieler, Kuppler, Beutelschneider und Klopffechter teilten sich in die Welt […]“ (SP, 247); der Protagonist grenzt sich entsprechend vom Rest der Menschheit ab, denn „‘[…]

die Klugen, wenn sie konnten, gingen hin und wurden Einsiedler : die Weltgeschichte in nuce, in usum Delphini.‘“ (SP, 247). Er kann das Verschwinden der Menschheit vor diesem Hintergrund nicht anders als gerechtfertigt betrachten und betont die Vorzüge der menschenleeren Erde: „wie gut, daß es so gekommen ist !“ (SP, 231). Dies kann als eindeutiger Hinweis auf seine gewollte Einsiedler-Existenz verstanden werden, jedoch unterscheidet sich seine eigene von der von ihm angeführten dadurch, dass er diese Existenz nicht freiwillig gewählt hat, sondern diese durch eine „höhere Instanz“ eingeleitet wurde. Ob er deshalb zu den „Klugen“ gezählt werden darf, erscheint fraglich.

Insgesamt nennt der Protagonist mehrere Faktoren für den Untergang der Menschheit: Mangelnder Raum, kulturelles Versagen, Amoralität und falsche Ideale, fehlende Vernunft sowie mangelnde Beachtung jener Naturgesetze, nach denen der Mensch „leben und handeln muß, um in seiner Art glücklich zu sein“

(SP, 245), und zu guter Letzt Manipulationsfähigkeit im Sinne der Fremdbestimmung. Doch neben dieser generalisierenden Kritik an der menschlichen Rasse gibt es auch spezielle Eigenschaften (einzelner) Menschen, auf denen seine Verachtung beruht.

Sein latenter Alkoholismus verleitet ihn zu der provokanten Aussage, dass er

„Menschen ohne Gelüste nicht ausstehen [könne]. – Überhaupt keine !“ (SP, 222).

Seine misanthropische Ader betrifft außerdem einige Menschen mehr als andere:

„[…] es gibt nichts Verächtlicheres als Journalisten689, die ihren Beruf lieben (Rechtsanwälte natürlich noch !).“ (SP, 206). Das gesamte Rechtswesen verabscheut der Ich-Erzähler zutiefst und wird auch nicht müde, dies zu betonen.

An anderer Stelle holt er noch einmal aus: „[…] alberne Rechtsanwälte, alberne Richter, bloß gut, daß Alles ein Ende hat ! […].“ (SP, 208). Dieser Umstand versöhnt ihn sogar wieder mit der Katastrophe (dies kann aber auch als Hinweis darauf gelesen werden, dass die Katastrophe eben doch nicht in seinem Sinne war):

– Daß dies feile Pack : für Geld sogleich komödiantisch wortreich; gegen Bezahlung voller Gebärden des Rechts; […] also daß dies Pack weg ist, versöhnt mich wieder mit der großen Katastrophe.690 Die kamen noch unter den Preisboxern, die sich vor Gaffern für Geld die Fressen einschlugen: es ist doch gut, daß mit all dem aufgeräumt wurde ! (Und wenn ich erst weg bin, wird der letzte Schandfleck verschwunden sein : das Experiment Mensch, das stinkige, hat aufgehört !) Solche Betrachtungen stimmten mich wieder fröhlich. (SP, 224)

Diese Betrachtungen beinhalten eine Absage an den modernen Rechtsstaat, was durchaus als reaktionär zu bewerten ist.691

Was den Soldatenstand anbelangt, zeigt sich das Ich als Gegner der Weltkriege, bei denen das Volk aus den Erfahrungen des ersten nicht lernte und begeistert in die nächste Katastrophe rannte (vgl. SP, 213).692 Indem der Protagonist explizit auf die Kriegswut der Deutschen aufmerksam macht [„die Deutschen schrieen ja noch zweimal“ (SP, 213)], klingt durchaus eine nationalkritische Komponente an, die jedoch angesichts der vehementen Kritik anderer Völker relativiert wird. Die Begeisterung der Menschen am Militär scheint für den Protagonisten unleugbar zu sein [„‘Boxen, Fußball, Toto : da rannten die Beine ! – In Waffen ganz groß !‘“

(SP, 244)]. Das Ich lässt es sich nicht nehmen, in seinem fiktiv aufgesetzten

„test“ folgende polemische Frage zu stellen: „8.) Hassen Sie Alles soldatische und Uniformierte ?“ (SP, 237).

689 Diese Meinung über Journalisten übernimmt Schmidt von Schopenhauer; vgl. Dieter Kuhn, a. a. O., 233.

690 Vgl. Heinrich Schwier, „Niemand“, a. a. O., 87: Der Hass auf die Juristen hat in Schmidts Autobiografie seine Wurzeln; 1950 musste er einen Prozess gegen eine Mitbewohnerin des Mühlenhofs, die Witwe Helene Felsch, führen, wobei sich der Rechtsanwalt der gegnerischen Partei als besonders borniertes Exemplar seiner Berufssparte erwies. Vgl. auch Jan Philipp Reemtsma/Georg Eyring (Hg.), „In Sachen Arno Schmidt ./. Prozesse 1 und 2, Haffmans, Zürich 1988, 11.95.

691 Vgl. Kai U. Jürgens, a. a. O., 65.

692 Vgl. ebd., 64.

Es gibt aber noch weitere Berufsgruppen, die der Erzähler kritisiert. Landarbeit wird ebenso grundlos wie pauschal als widerlich bezeichnet. Bauern gelten dem Ich als Personifizierung des schlechten Geschmacks. Der Text ironisiert diese Polemik allerdings durch die Anstrengungen des Ich, selbst landwirtschaftlich tätig zu sein und Kartoffeln anzubauen [„von den Feldern kartoffelähnliches geholt. – Wird wohl nichts werden !“ (SP, 229)].

Auffallend ist jedoch die Zerrissenheit des Protagonisten. So ist das Spektrum seiner Verachtung weit gefasst: von einzelnen Individuen bzw. Berufsgruppen auf der einen Seite bis hin zu einem allgemeinen Menschenhass, der auch seine eigene Person mit einbezieht, auf der anderen Seite.

Auch keimt im Protagonisten durchaus der Wunsch nach Gesellschaft auf, allerdings meist in Verbindung mit erotischen Motiven.693 Als er in Hamburg seine Vorräte vervollständigt und auf der Suche nach kulturellen „Schätzen“ in die Kunsthalle geht, projiziert er sich hinter einen Tisch „ein kleines dralles ernsthaftes Mädchen; kaufmännische Angestellte, mit kurzen biederen Brüsten und blauem Cheviot-Rock“ (SP, 226) und kommentiert diese Vorstellung mit einem „lasterhaften Lächeln“ (SP, 226). Sein Gedankenspiel endet mit den Worten: „wenn sie bloß hier wäre“ (SP, 226). Auffallend ist sein verändertes Verhalten in der Stadt. Ist er zwar auch in seiner neuen Heimat immer wieder im Wechselbad der Gefühle (Trauer, Hass, Sehnsucht), so scheint sein Gemüt in Hamburg verstärkt von Schwankungen betroffen zu sein. Die Stadt als Sinnbild der menschlichen Zivilisation erschwert dem Protagonisten den Umgang mit seiner Situation.

Die Erfahrung des Verlustes jeglichen menschlichen Gegenübers lässt sich im Text an mehreren Stellen nachweisen [„und dann kam die herrliche einsame Zeit, viele Jahre lang“ (SP, 220))]. Zwar nutzt der Ich-Erzähler jede Gelegenheit, um die Vernichtung der Menschheit zu glorifizieren und sich über diese zu erheben [„es lebe die Einsamkeit !“ (SP, 210)], doch erscheinen Äußerungen wie „Ich brauchte Niemanden ! –“ (SP, 211) oder „Seit fünf Jahren hatte ich keinen Menschen mehr gesehen, und war nicht böse darüber“ (SP, 203) als Trotzreaktion, die sich in fast schon infantiler Art und Weise des Protagonisten bemächtigt.

Hinzu kommt, dass der Erzähler offensichtlich nicht restlos von seiner alleinigen Existenz überzeugt ist, auch wenn seine bisherigen Beobachtungen dagegen sprechen. So versucht der Protagonist nicht nur, potentielle Besucher in die Irre zu führen und somit von seinem Haus wegzulocken (vgl. SP, 220), sondern er

693 Vgl. ebd., 59.

trägt auch „Tarnkleidung“ (SP, 231), legt eine „Notwohnung“ (SP, 238) an und verriegelt seine Wohnungstür (vgl. SP, 228), um ungebetene Gäste zu vermeiden.

Diese Aktionen verdeutlichen, dass der Erzähler durchaus noch mit weiteren Überlebenden rechnet. Impliziert die Begegnung mit anderen Menschen einerseits eine Bedrohung, zeigt das Interesse des Erzählers an einem Radio [„Ob außer mir überhaupt noch jemand übrig war ? Wohl kaum; vielleicht auf den Südzipfeln der Kontinente, die vermutlich noch am wenigsten abgekriegt hatten;

man müßte ein Radio in Betrieb setzen können.“ (SP, 221)], dass ihm Gesellschaft zumindest in der Ferne nicht unangenehm wäre; so bastelt er später einen Detektorapparat und kommentiert dieses Unterfangen: „[…] (ich weiß : es war verrückt !) aber ich versuchte es doch. Zog beim Appenrodt eine gute Antenne aus Kupferlitze; saubere Erde. – Nichts.“ (SP, 229). Der Erzähler verbringt geschlagene drei Stunden vor dem Apparat, bildet sich schließlich ein Pfeifen ein, das er aber als Selbsttäuschung entlarvt. Schließlich fragt er sich, warum er überhaupt noch „diariiere“, denn er „habe keine Lust mehr, im Sinnlosen zu stochern“ (SP, 229). Die Hoffnung kann er dennoch nicht gänzlich abschütteln. Bei aller Kritik an den Menschen, derer er fast den ganzen Roman lang nicht müde wird, bleibt dem misanthropischen Ich deren Gesellschaft doch unverzichtbar.694

Boy Hinrichs sieht im Protagonisten eine Ausnahme von einer Verbrennungs- und Vernichtungsanlage eines Schöpfers.695 Die Umstände seines Überlebens werden aber an keiner Stelle explizit benannt. Die einzige Rechtfertigung seiner Existenz bestehe darin, „dass diese Realität mitgeteilt werden muß“696. Der Rückzug in die Isolation ist bei Arno Schmidt auch biografisch bedingt. In diesem Sinne scheint der „Letzte Mensch“ paradigmatisch für die Situation des Autors zu stehen.697 Die Selbstisolation, die Hinwendung zur Literatur und die Beschränkung auf den Umgang mit wenigen Personen bestimmen auch Schmidts literarisches Werk.698 Die Projektion einer Wunschvorstellung ist, ähnlich wie bei Marlen Haushofer, eng mit autobiografischen Zügen verknüpft.

Letztlich ist das Geschehen, das in der „postapokalyptischen Robinsonade“

geschildert wird, ambivalent zu bewerten, angesiedelt zwischen Wunschvision

694 Vgl. ebd., 63.

695 Vgl. Boy Hinrichs, a. a. O., 201.

696 Ebd.

697 Vgl. Wolfgang Proß, „Arno Schmidt“, Verlag C.H. Beck, Verlag edition text + kritik, München 1980, 30ff.

698Vgl. ebd., 71.

und Wahnvorstellung. Es handelt es sich um die „Wunschutopie eines zivilisationsmüden, doch kulturenthusiastischen Intellektuellen“699.

Die Katastrophe fungiert hier einerseits als Befreiung und als Grundlage einer neuen Existenz. Auf der anderen Seite kann das Ich in der Beziehung zu Lisa, die im zweiten Teil des Romans erscheint, doch Liebe zu einem Menschen empfinden. Sein Hass zielt also speziell auf die Unkultur und die Geistlosigkeit der Menschen ab.

Immer wieder fällt die gesteigerte Polemik des Protagonisten auf: Kai U. Jürgens macht zurecht darauf aufmerksam, dass hinter dieser der Hang zur Selbstvergewisserung deutlich werde, bei der die Schmähung des Verlorenen über dessen offenbar doch erlebten Verlust hinwegtäuschen soll.700

Darin zeigt sich auch der sogenannte „methodische Solipsismus“ des Denkers, der sein Leben allein auf die Selbstbehauptung im Geist ausrichtet und letztlich zurückzuführen ist auf die Philosophie Schopenhauers.701 Darauf basiert auch ein zentrales Motiv Schmidts: Jegliche Gemeinschaft, sei es Familie, Staat, die Kirche, Vereine oder das Militär, wird von seinen Figuren bekämpft und geflohen.

Dabei erfolgt eine nahezu obsessive Abarbeitung an Wissenschaft und Kunst als Telos, und diese kann nur funktionieren, wenn der Einzelne versucht, sich gegen die Vereinnahmung der Masse zu behaupten.702

Eine Ideologie des Schmidtschen Misanthropen könnte entsprechende Aspekte beinhalten: die skurril anmutende Leibfeindlichkeit703, der Dualismus des Misanthropen als Form des Manichäismus704, ein gnostisches Weltbild.705

699 Hiltrud Gnüg, „Utopie und utopischer Roman“, a. a. O., 210.

700 Vgl. Kai U. Jürgens, a. a. O., 66.

701 Vgl. Jan Süselbeck, a. a. O., 111. Vgl. Arthur Schopenhauer, „Aphorismen zur Lebensweisheit“, Dr. L. W. Winter (Hg.), Wilhelm Goldmann Verlag, München 1966, 29 (Im Folgenden zitiert als: Arthur Schopenhauer, „Aphorismen“.): „Der geistreiche Mensch wird vor allem nach Schmerzlosigkeit, Ungehudeltsein, Ruhe und Muße streben, folglich ein stilles, bescheidenes, aber möglichst unangefochtenes Leben suchen und demgemäß, nach einiger Bekanntschaft mit den sogenannten Menschen, die Zurückgezogenheit und, bei großem Geiste, sogar die Einsamkeit wählen. Denn je mehr einer an sich selber hat, desto weniger bedarf er von außen, und desto weniger auch können die übrigen ihm sein. Darum führt die Eminenz [Erhabenheit] des Geistes zur Ungeselligkeit.“

702 Vgl. Jan Süselbeck, a. a. O., 112. Vgl. Arthur Schopenhauer, „Aphorismen“, a. a. O., 132: „Ganz „er selbst sein“ darf jeder nur, solange er allein ist. Wer also nicht die Einsamkeit liebt, der liebt auch nicht die Freiheit: denn nur wann man allein ist, ist man frei. Zwang ist der unzertrennliche Gefährte jeder Gesellschaft, und jede fordert Opfer, die um so schwerer fallen, je bedeutender die eigene Individualität ist. Demgemäß wird jeder in genauer Proportion zum Werte seines eigenen Selbst die Einsamkeit fliehen, ertragen oder lieben. Denn in ihr fühlt der Jämmerliche seine ganze Jämmerlichkeit, der große Geist seine ganze Größe, kurz jeder sich, als was er ist.“

703 Vgl. Bernhard Sorg, „Der Künstler als Misanthrop“, a. a. O., 79.

704 Ebd., 84: „Der Manichäismus wäre kurz zu bestimmen als eine Ausprägung der gnostischen Lehren, der Prototyp und die Vollendung der Gnosis. Die Lehre des persischen Religionsstifters Mani (216-276 n. Chr.) mischt christliche Häresie mit

Rekurrierend auf Schmidts Theorie des Längeren Gedankenspiels lässt sich an der grafischen Darstellung von Funktionen mit komplexen Variablen auch das Dilemma des Solipsisten aufzeigen, der im Gehäuse seines Kopfes eingesperrt ist und dem die Welt – Schmidt steht hier in der Tradition Schopenhauers – zur Vorstellung wird. So gerät der Einheitskreis als schwarzer Spiegel zum Symbol für den Menschen und Künstler, in dem sich Vorstellungen spiegeln, die sich letztlich nur als Täuschung über die Welt draußen herausstellen, ohne ihrer wirklich habhaft werden zu können. Was wir als Welt bezeichnen, wird damit zum Roman des sich immer nur selbst spiegelnden Inneren. Das ist eine Lieblingsvorstellung Arno Schmidts, die sich bis ins Spätwerk hinein findet.706 So setzt schon Kant die sozialkritische Komponente der hier behandelten Misanthropie in eine interessante Relation zur Robinsonade:

Gleichwol giebt es eine (sehr uneigentlich sogenannte) Misanthropie, wozu die Anlage sich […] in vieler wohldenkenden Menschen Gemüth einzufinden pflegt, welche zwar, was das Wohlwollen betrifft, philanthropisch genug ist, aber vom Wohlgefallen an Menschen durch eine lange traurige Erfahrung weit abgebracht ist, [:] wovon der Hang zur Eingezogenheit, der phantastische Wunsch auf einem entlegenen Landsitze, oder auch (bei jungen Personen) die erträumte Glückseligkeit auf einem der übrigen Welt unbekannten Eilande, mit einer kleinen Familie, seine Lebenszeit zubringen zu können, welche die Romanschreiber, oder Dichter der Robinsonaden[,] so gut nutzen zu wissen, Zeugniß giebt. [sic!]707

Im Dokument "Jedes Ende ist auch ein neuer Anfang" (Seite 188-199)