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Zu weit. Entfernungen in einer literarischen Großstadt

3 Der literarische Raum Großstadt in der augusteischen und

3.3 Formen der Ausdehnung. Die Größe einer literarischen

3.3.1 Zu weit. Entfernungen in einer literarischen Großstadt

In der Satire 1, 9 des Horaz befindet sich der Sprecher auf offener Straße, die als

‚Bewegungsbereich‘ der Schauplatz dieser Satire ist. Durch die Begegnung mit einem aufdringlichen Anonymus und weiteren Figuren ist diese zudem als ein Kontaktbereich gestaltet. Bereits der erste Vers enthält mit einer topologischen Lokalisation Ibam forte via sacra einen impliziten Hinweis auf die urbs Roma, die während der gesamten Satire zwar nicht explizit, aber mit der Gattungsbezeich-nung (urbem, v. 13) benannt wird. Andere topographische Merk- und Wahrzeichen wie der Tiber (v. 17), die Gärten Caesars (v. 17) oder der Tempelbezirk der Vesta (ad Vestae, v. 35) werden im Verlauf der Satire erwähnt und erhöhen den „Wieder-erkennungswert“316 des literarischen Raums.

Der Schauplatz der Satire, die innerstädtische317 Straße sacra via, wird räumlich kaum ausgestaltet.318 Als einzige Station der zurückgelegten Wegstrecke wird der

316 Piatti (2008), 16. Weitere innerstädtische räumliche Gegebenheiten ergeben sich metonymisch aus den erwähnten typischen Handlungen: Der räumliche Bereich des Forums (vgl. Hor. sat. 1, 9, 36 f.: et casu tum respondere vadato/ debebat, quod ni fecisset, perdere litem, und ebd., Hor. sat. 1, 9, 37-43. Zu den juristischen Termini technici vgl. Fedeli (1994), 495), das Haus des Maecenas (Hor. sat.

1, 9, 57 f.: muneribus servos corrumpam; non, hodie si/ exclusus fuero, desistam.). Vorschläge zum Bezug auf den Georaum, auch über die erwähnten topographischen Merkzeichen hinaus bietet Schmit-zer (1994).

317 Von den in dieser Satire erwähnten Teilelementen zeichnen vor allem verschiedene Straßentypen den Raum als städtisch aus, da sie auf ein differenziertes Straßennetz schließen lassen. Vgl. Hor.

sat. 1, 9, 1: via; 13: vicos und 59: in triviis. Viae waren üblicherweise so breit, dass zweispuriger Wagenverkehr – also in beide Richtungen – möglich war. Vgl. Kolb (2005), 161. Die Erwähnung

Tempelbezirk der Vesta lediglich genannt (ventum erat ad Vestae, v. 35). Durch ein erzähltes Ereignis erschließt sich in seiner unmittelbaren Nähe ein weiterer Be-reich: Der Begleiter wird zu einem Gerichtstermin gerufen, dem er in Begleitung des Sprechers unverzüglich nachkommen kann.319

Von den in der Satire erwähnten räumlichen Gegebenheiten wird nur ein Bruch-teil von den Figuren abgeschritten. Deren Erwähnung aber leistet einen zentralen Beitrag zur Veranschaulichung der Ausdehnung des literarischen Gesamtraums.

Der Sprecher nennt seinem Begleiter auf dessen Ankündigung hin, ihm überall hin folgen zu wollen, als Ziel seines Weges ein Privathaus320, das in einiger Entfernung zu seinem gegenwärtigen Standort liegt:

16 ,(…) persequar hinc quo nunc iter est tibi.‘ ‚nil opus est te circumagi: quendam volo visere non tibi notum;

trans Tiberim longe cubat is prope Caesaris hortos.‘

‚nil habeo quod agam et non sum piger: usque sequar te.321

Das Privathaus befindet sich laut der Ortsbestimmung jenseits des Tibers, in Nähe der Gärten Cäsars. Dass es sich bei dieser standortabhängigen Positionierung le-diglich um eine ungefähre Positionierung handelt, ist an dem jeweiligen weiträu-migen Eigenort beider räumlicher Gegebenheiten ersichtlich, aus der sich eine recht großräumige Umgebung ergibt, in der das Haus des Freundes liegen kann.

Dem Sprecher liegt auch nichts an einer genauen Aufklärung des Standortes (quendam … non tibi notum, v. 17), sondern es geht ihm um den Hinweis, dass sich

der Straßen über den konkreten Schauplatz hinaus (vicos, v. 13) entspringt jedoch nicht der un-mittelbaren Wahrnehmung der beiden Spaziergänger. Denn ein Verb der Wahrnehmung, das dieses Ereignis anzeigte, fehlt in diesem Zusammenhang. Demzufolge gibt der Begleiter ein all-gemeines Wissen über den literarischen Raum wieder, wie es auch die allgemeinbleibende Aus-sage (urbem laudaret, v. 13) nahelegt. Vgl. dagegen Fedeli (1994), 489: „I vici sono le vie seconda-rie che confluiv ano nella via Sacra.“

318 In ihrer Länge ist die Wegstrecke allein von der Textgrundlage her nicht vorstellbar. Denn die verschiedenen Bewegungstempi, in denen die beiden Figuren unterwegs sind, geben kaum über die zurückgelegte Entfernung Auskunft. Vgl. Hor. sat. 1, 9, 8 f.: discedere quaerens/ ire modo ocius, interdum consistere. Ebenfalls dient die Nennung der Uhrzeit eher dem Hinweis, dass zufällig die übliche Zeit der für den Fortgang des Geschehens relevanten Gerichtstermine gekommen ist.

Sie dient als Indiz einer bereits hinter sich gelassenen Wegstrecke. Vgl. Fedeli (1994), 495 zu ebd., 35 f.: quarta iam parte diei/ praeterita.

319 Zu einer weiteren räumlichen Veranschaulichung des Bewegungsbereichs tragen einzelne Figu-ren bei, die den beiden entgegenkommen (Hor. sat. 1, 9, 60 f.: ecce Fuscus Aristius occurrit; Hor. sat.

1, 9, 74 f.: venit obvius …/ adversarius), und eine Gruppe von Menschen unbekannter Zahl, die zum Abschluss der Satire sich aus verschiedenen Richtungen kommend einfindet (Hor. sat. 1, 9, 78: undique concursus).

320 Auf das Haus wird metonymisch über den intentionalen Zustand des Liegens (Hor. sat. 1, 9, 18:

cubat) referiert.

321 Hor. sat. 1, 9, 16-19.

der Zielort weit jenseits des Tiber befindet (trans Tiberim longe, v. 18). Genau diese Tatsache soll der Beendigung des gemeinsamen Weges dienen.322 Jedoch reagiert das Gegenüber unerwartet: Zwar teilt der Anonymus die Einschätzung, dass es sich um eine stattliche Entfernung handelt. Jedoch erklärt er sich – für den Spre-cher überraschend – zu dem damit verbundenen körperlich-zeitlichen Einsatz bereit: Er habe Zeit und sei bereit, diese Wegstrecke auf sich zu nehmen (‚nil habeo quod agam et non sum piger: usque sequar te.‘, v. 19).

Die Distanz innerhalb des hier präsentierten literarischen Raumes urbs Roma ist demzufolge entsprechend den Regeln der erzählten Welt objektiv weit. Die Ver-messung der Wegstrecke liegt als körperlich-sinnliche Erfahrung bei beiden Figu-ren bereits vor. Obwohl sie einem Fußgänger nicht umstandslos zumutbar ist, entspricht sie dennoch nur einem Radius innerhalb des literarischen Raumes, nicht der Ausdehnung des Gesamtraumes.

Derartige Entfernungen zwischen einzelnen Bereichen werden dem literarischen Raum urbs Roma auch in den Epigrammen Martials zugeschrieben. Ein der hora-zischen Satire 1, 9 inhaltlich nahestehendes Beispiel ist das Epigramm 1, 117. Ein Sprecher versucht hier ebenfalls sich eines Bekannten zu erwehren, indem er ihn auf die enormen Entfernungen zwischen ihren beiden Wohnorten aufmerksam macht.

Zu Beginn des Epigramms führt der Sprecher in die Situation ein: Er trifft einen hier angeredeten Lupercus häufiger (Occurris quotiens, Luperce, v. 1), der ihm ange-kündigt hat, einen Diener vorbeizuschicken, um sich von ihm ein Buch auszulei-hen. Von diesem Vorhaben versucht ihn der Sprecher abzuhalten:

5 Non est quod puerum, Luperce, vexes.

longum est, si velit ad Pirum venire, et scalis habito tribus sed altis.

quod quaeris propius petas licebit.

Argi nempe soles subire Letum:

10 contra Caesaris est forum taberna scriptis postibus hinc et inde totis, omnis ut cito perlegas poetas.

(…) Nec roges Atrectum —

hoc nomen dominus gerit tabernae —: (…).323

An den topographischen Merkzeichen (Argi … Letum, v. 9; Caesaris … forum, v.

10) wird der literarische Raum als urbs Roma erkennbar. Die städtische Landschaft

322 Laut Fedeli (194), 490 ist das Verbum circumagi mit der Vorstellung eines weiten Fußweges ver-bunden.

323 Mart. 1, 117, 5-14.

besteht in diesem Epigramm aus zwei Straßen, einem Wohnkomplex (insula) mit mindestens drei Etagen, einem wohl innerstädtischen Merkzeichen, das „Birn-baum“324 genannt wird, dem Caesar-Forum und einem Buchladen. Für die jeweili-ge Positionierung der drei Bereiche innerhalb der literarischen Großstadt wird ein absolutes Referenzsystem eingesetzt, jedoch in unterschiedlicher Präzision:325 Über die Lage des Aufenthaltsorts des namentlich angesprochenen Lupercus wer-den keinerlei Angaben gemacht; der Aufenthaltsort des Sprechers dagegen wird in der räumlichen Umgebung des „Birnbaums“ positioniert (ad Pirum, v. 6); weit realistischer326 aber wirkt die Positionierung des Bücherladens, der sich an einer namentlich genannten Straße gegenüber dem Caesarforum befindet und dessen Ge-bäude von außen durch entsprechende Reklame identifizierbar ist.327

Die Entfernung zwischen dem Aufenthaltsort des Lupercus und dem des Spre-chers wird explizit als weit bezeichnet (longum est, v. 6).328 Über diese direkte Attri-buierung hinaus wird die Wegstrecke auch als unzumutbare körperliche Anstrengung für den Laufjungen charakterisiert (puerum … vexes, v. 5)329 und um eine vertikale Eigenschaft ergänzt: Zu dem Aufenthaltsort des Sprechers führen drei hohe Trep-pen (et scalis habito tribus sed altis, v. 7). Die Entfernung zwischen dem Aufenthalts-ort des Lupercus und dem Buchladen dagegen wird sowohl explizit als näher be-zeichnet (propius, v. 8), als sich dieser auch dadurch empfiehlt, dass der angespro-chene Lupercus dort regelmäßig vorbeikommt (Argi nempe soles subire Letum, v. 9).

Diesem Epigramm zufolge ist das Überwinden von Distanzen innerhalb der urbs Roma eine selbstverständliche Erfahrung. Jedoch unterscheidet der Sprecher zwi-schen körperlich zumutbaren und unzumutbaren Entfernungen.

Im Epigramm 2, 5 Martials wird ebenfalls und zudem mit großem Nachdruck auf die erheblichen Distanzen zwischen zwei Bereichen hingewiesen.

1 Ne valeam, si non totis, Deciane, diebus et tecum totis noctibus esse velim.

sed duo sunt quae nos disiungunt milia passum:

quattuor haec fiunt, cum rediturus eam.

324 Vgl. dazu Neumeister (1991), 40.

325 Der Aufenthaltsort des Sprechers ist nur vage lokalisierbar. Dies fügt sich recht gut zur Absicht des Sprechers, sein Gegenüber von einem Besuch abzuhalten.

326 Vgl. dazu Abschnitt 2.2.2.2.

327 Vgl. Howell (1980), 349.

328 Ob die räumliche Beschreibung und Einschätzung innerhalb der literarischen Kommunikation von Anderen geteilt wird oder ob sie eine Übertreibung darstellen soll, bleibt von der Text-grundlage her offen. Im Gegensatz zur imaginierten Sprechsituation in der Satire 1, 9 des Horaz, in der Einvernehmen über die räumliche Entfernung herrscht, wird die Einschätzung hier von keiner weiteren Figur bestätigt.

329 Vgl. Howell (1980), 349: „vexes: ‚trouble‘, ‚bother‘, a colloquial usage.“

5 saepe domi non es, cum sis quoque, saepe negaris:

vel tantum causis vel tibi saepe vacas.

te tamen ut videam, duo milia non piget ire;

ut te non videam, quattuor ire piget.330

Es ergeben sich jedoch einige Probleme bei der Identifizierung des literarischen Raums. Dass die Ereignisse innerhalb der literarischen urbs Roma stattfinden, ist durch keine Referenz eindeutig zu belegen. Auch wird kaum ein zwingend städ-tischer Raum durch etwaige typische Teilelemente vorausgesetzt. Allein die als möglich hingestellte Tätigkeit des angeredeten Decianus (v. 1), dass er sich näm-lich mit Rechtsfällen beschäftige331, verweist auf ein städtisches Lebensumfeld.

Fest steht jedoch, dass beide Bereiche zu einem räumlichen Kontinuum gehören, da es eine verbindende Wegstrecke zwischen ihnen gibt und da das Überschreiten von räumlichen Grenzen nicht angezeigt ist. Zudem ist der Sprecher bereit, diese Wegstrecke täglich zurückzulegen, um mit dem angeredeten Decianus zusammen zu sein, wie er zu Beginn des Epigramms zu verstehen gibt.

Die Angabe der Distanz erfolgt an dieser Stelle sogar mittels einer metrischen Angabe (duo sunt … milia passum, v. 3). Weit entfernt ist dieser Ort zwar weiterhin allein aus der Sicht des Sprechers, durch das wiederholte Insistieren auf die räum-liche Distanz bei einem Hin- und Rückweg wird jedoch ersichtlich, dass er inner-halb der literarischen Kommunikation mit einer Zustimmung rechnet, diese Stre-cke als lang kennzeichnen zu dürfen.332 Zudem führt er die räumliche Distanz, die er bereit ist, für den hier angeredeten Decianus täglich zu überwinden, dominant als Zeichen seiner Freundschaft an. Die Entfernung ist somit eine Last, die aber für ihn zumutbar wäre, wenn der Weg nicht vergeblich wäre.

Der völlige Verzicht auf stadtrömische, ja sogar explizit städtische Referenzen führt zu der Vermutung, dass die hier im Mittelpunkt stehende Entfernung zwi-schen zwei Bereichen, die zwar für einen Fußgänger kaum zumutbar ist, aber täg-lich zurückzulegen ist, wohl bereits als ein Alleinstellungsmerkmal des literarischen Raumes urbs Roma in römischer Dichtung verstanden wurde. Es wäre in diesem Epigramm das einzige Indiz, dass es sich hier um den literarischen Raum urbs Roma handeln soll.

Für diese Vermutung, dass räumliche Entfernungen zwischen Figuren, die den-noch in einer sozialen Verbindung miteinander stehen, ein typisches Merkmal der

330 Mart. 2, 5.

331 Der Beruf des Rechtsanwalts steht in vielen literarischen Beispielen exemplarisch für den Städ-ter, vgl. Hor. sat. 1, 1, 9 f. Als explizite Referenz auf eine räumliche Gegebenheit ist – kaum ein-deutig – domus (Mart. 2, 5, 5) zu werten.

332 Mart. 2, 5, 2 f. Zur Berechnung der Wegstrecke vgl. Williams (2004), 38 f. Ob die Einschätzung, eine derartige Wegstrecke als lang zu bezeichnen, wirklich geteilt wird, bleibt innerhalb des Epi-gramms offen.

literarischen urbs Roma sind, spricht neben den aufgezeigten Beispielen noch eine weitere Beobachtung: Im Zusammenhang mit dem literarischen Raum urbs Roma wird räumliche Nähe und Nachbarschaft – wie sie ja aus der römischen Komödie durchaus als Schauplatz vertraut ist – auffallend selten ausgestaltet und themati-siert, obwohl es zur Darstellung gerade alltäglicher Abläufe naheliegender wäre, ein nachbarschaftliches räumliches Ensemble in den Mittelpunkt zu stellen.

In diesem Zusammenhang ist ein Epigramm Martials (1, 86) ein bemerkenswertes Beispiel. In ihm wird die räumliche Nähe und Nachbarschaft zweier Figuren gar zum Ausgangspunkt eines Paradoxons.

1 Vicinus meus est manuque tangi de nostris Novius potest fenestris.

quis non invideat mihi putetque horis omnibus esse me beatum, 5 iuncto cui liceat frui sodale? ()

non convivere, nec videre saltem, non audire licet, nec urbe tota

quisquam est tam prope tam proculque nobis.

Migrandum est mihi longius vel illi (…).333

Durch die Gattungsbezeichnung urbs (v. 9) ist der räumliche Hintergrund dieses Epigramms als großstädtisch ausgegeben. Der genaue Schauplatz, ein Wohnhaus, in dem der Sprecher und ein gewisser Novius wohnen, wird jedoch nicht näher lokalisiert.

Das Epigramm beginnt ebenfalls mit der Benennung von zwei räumlichen Koor-dinaten, nämlich zwei Fenstern, deren Abstand mittels des Einsatzes des taktilen Sinnes als besonders nah gekennzeichnet ist (manuque tangi/ de nostris … potest fenestris, v. 1 f.).334 Die erste Pointe335 des Epigramms liegt nun darin, dass der Sprecher seinen Nachbarn trotz dieser ausgewiesenen räumlichen Nähe nicht nur nicht trifft, sondern ihn sogar weder sieht noch hört. Die über den taktilen Sinn vermit-telte potentielle räumliche Nähe steht im Gegensatz zu einer tatsächlichen – über den visuellen und auditiven Sinn vermittelten – räumlichen Entfernung: Novius ist für den Sprecher selbst über diese Fernsinne nicht wahrnehmbar. Aus dieser para-doxen räumlichen Situation schließt der Sprecher, dass er selbst oder sein Nachbar den Standort innerhalb des literarischen Raumes wechseln muss.

333 Mart. 1, 86, 1-5; 8-11.

334 In welcher Weise diese Fenster zueinander liegen, ob unter-, nebeneinander oder gegenüber, wird nicht gesagt, allerdings deutet inquilinus (v. 12) daraufhin, dass beide Nachbarn im gleichen Mietshaus sind. Vgl. zum Fern- und Nahsinn auch Stat. silv. 1, 3, 30 f.: datur hic transmittere uisus/

et uoces et paene manus.

335 So auch Neumeister (1991), 41: „Damit [d. h. mit Vers 10, Anm. d. Verf.] könnte das Epigramm schließen; das Oxymoron wäre als Schlusspointe gut geeignet.“

Die räumliche Ausgestaltung und damit die Betonung der Tatsache, dass die hier vorgeführte Begebenheit in allernächster Nachbarschaft spielt, macht darauf auf-merksam, dass in der innerliterarischen Kommunikation das Auseinanderliegen von Gegenden innerhalb der literarischen urbs Roma als ein selbstverständliches Charakteristikum angesehen wird.336 Wenn dieses Beispiel also ein Ausnahme-zeugnis ist, und die räumliche Konstellation auch als ein solches beschrieben wird, fügt sich dieses Epigramm recht gut zu der Vermutung, dass das Auseinanderlie-gen einzelner Bereiche, die täglich zu erreichen sind, als ein Alleinstellungsmerk-mal der literarischen urbs Roma anzusehen wird.

Zusammenfassung

Große Entfernungen innerhalb des Raumes urbs Roma zurückzulegen, gehört zu den Selbstverständlichkeiten, die seine literarischen Bewohner auf sich nehmen.

Die Vermessung dieser Entfernungen wird von ihnen selten metrisch angegeben, sondern sehr viel häufiger als eine körperlich-sinnliche Erfahrung kommuniziert.

Die Figuren kennen den zeitlichen und körperlichen Einsatz, der mit dem Über-winden dieser Distanzen verbunden ist, und nennen es eine körperliche Quälerei.

Sie unterscheiden daher zwischen zumutbaren und unzumutbaren Entfernungen.

Dass man jedoch überhaupt über einen so weit gespannten Raum soziale Kontak-te pflegt oder seinen Verpflichtungen nachkommt, wird von keiner Figur infrage gestellt. Im Gegenteil: Das Überwinden von räumlichen Distanzen gilt als Norma-lität. Dies konnte in unterschiedlichen Gattungen der römischen Dichtung gezeigt werden.

In allen Beispielen liegen die Anfangs- und Zielpunkte nicht an den Grenzen oder außerhalb des literarischen Raumes. Die Entfernungen, die es zu überwinden gilt, sind Wegstrecken innerhalb der urbs Roma. Die Ausdehnung dieses literarischen Raumes geht somit gemäß der Illusionsbildung für den Leser über die genannten Distanzen hinaus. Wie die räumlich ausgreifenden Bewegungen der Figuren zu ihrem unmittelbarem Lebensalltag gehören, so stellt die enorme flächige Ausdeh-nung ein markantes Merkmal des literarischen Raumes urbs Roma dar.

336 Weitere Hinweise auf Entfernungen in der literarischen urbs Roma: Hor. epist. 2, 2, 70: intervalla vides humane commoda; Hor. epist. 1, 7, 48 f.: dum redit atque foro nimium distare Carinas/ iam grandis natu queritur, (…). In Martials Epigramm 1, 108 wird ebenfalls zunächst eine Wegstrecke zwi-schen zwei Orten innerhalb des literarizwi-schen Raumes urbs Roma abgesteckt: Ein im Epigramm angeredeter Gallus wohnt in einem Haus jenseits des Tibers, der Sprecher selbst in einer Dach-kammer. Die dazwischen liegende Wegstrecke hat der Sprecher schon häufiger zurückgelegt.

Hyperbolisch bezeichnet er sie als Wanderung. Vgl. Mart. 1, 108, 5: migrandum est, ut mane domi te, Galle, salutem. Dazu Howell (1980), 332: „migrandum: here in the sense ‚make a long journey‘“.

In Mart. 10, 20 (19) wird eine geringe körperliche Anstrengung zwischen zwei Bereichen innerhalb der urbs Roma für erwähnenswert gehalten: i perfer: brevis est labor peractae/ altum vincere tramitem Suburae (v. 4 f.). Räumliche Nähe vgl. Ov. trist. 1, 3, 29 f.