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Gefährliche Enge II. Die Widerständigkeit der

3 Der literarische Raum Großstadt in der augusteischen und

3.5 Innere Strukturen. Raumnot in der literarischen Großstadt

3.5.2 Densum volgus – Wahrnehmung der Masse

3.5.2.2 Gefährliche Enge II. Die Widerständigkeit der

gebung der Schwelle (limen, v. 100) konkurrieren und dabei in einen körperlichen Kontakt (vexant, v. 100) zueinander treten.589 Hierzu gesellt sich ein Verband von Sänften590 (densissima, v. 120), die als mobile Objekte durch ihren weitaus größeren Eigenort den Eindruck der Masse, die sich vor der Schwelle ansammelt, nochmals steigert. Gründe für diesen exorbitanten Auflauf werden nicht genannt, wie auch eine genauere Verortung in den Georaum der antiken Metropole fehlt. Das kumu-lativ ausgestaltete Aufgebot entspricht nach Ansicht des Sprechers einer alltägli-chen, normalen Aufwartung in der literarischen urbs Roma und zeigt damit einen typischen innerstädtischen Zielpunkt.

Wenn in, an und bei Theatern, dem Circus und anderen Orten regelhaft hohe Kon-zentrationen an Menschen verortet werden, werden die Gründe für die Wahl die-ser Zielorte in der Regel nicht genannt. Sie ergeben sich wohl aus der Sache selbst.

Ebenso auffällig ist, dass diese Konzentrationspunkte selten eindeutig auf den Georaum der antiken Stadt Rom bezogen werden, es sich also verstärkt um fin-gierte Handlungszonen handelt, an denen dieses räumliche Merkmal der Verdich-tung ausgestaltet wird. Gewiss werden in heutigen Textausgaben die GatVerdich-tungsbe- Gattungsbe-zeichnungen circus, theatrum, forum häufig durch Großschreibung als Eigenname markiert, jedoch sind sie für einen Kenner stadtrömischer Topographie nicht ein-deutig, da es doch bekanntermaßen mehrere Theater und Fora in der antiken Me-tropole gab. Konzentrationspunkte der literarischen urbs Roma werden demzufolge als solche zwar typisiert, aber nicht konkretisiert. Sie gelten aber gerade aufgrund ihrer räumlich beengten Eigenschaften und ihrer hohen Menschendichte als eine pars pro toto für den Gesamtraum urbs Roma selbst.591

holt und in sehr unterschiedlichem Zusammenhang werden derartige Struktur-merkmale auch mit dem offenen Straßenraum in Zusammenhang gebracht. In der Exildichtung Ovids etwa beschreibt der Sprecher an mehreren Stellen Festzüge, die innerhalb der literarischen urbs Roma stattfinden, an denen er allerdings auf-grund seiner Sprechsituation – ein Mann im Exil – nicht in eigener Person teil-nehmen kann. Trotzdem schildert er sie mit sorgfältiger Genauigkeit als multisen-suelles Erlebnis.592 Im elegischen Brief Epistulae ex Ponto 4, 9 imaginiert er so den Amtsantritt seines Freundes Graecinus als Konsul. Durch wenige, aber eindeutige Referenzen auf topographische Merk- und Wahrzeichen – wie Capitolia (v. 5) – und auch durch den Anlass selbst (bis senos fasces quae tibi prima dabit, v. 4) ist der literarische Raum als urbs Roma umgehend identifizierbar. Räumlich vollzieht er eine Wegstrecke von einem ungenannten Punkt aus zum tarpejischen Felsen (v.

29) nach. Im Mittelpunkt seiner Imagination steht allerdings die räumliche Struk-tur des Festzuges selbst. Die Aufmerksamkeit des Sprechers richtet sich auf zwei Bereiche, die Formierung von Menschen um den Freund Graecinus herum und die Menge von Schaulustigen.

20

dumque latus sancti cingit tibi turba senatus, consulis ante pedes ire iuberer eques;

et quamquam cuperem semper tibi proximus esse, gauderem lateris non habuisse locum.

nec querulus, turba quamvis eliderer, essem:

sed foret a populo tum mihi dulce premi.

aspicerem gaudens, quantus foret agminis ordo, densaque quam longum turba teneret iter.593

Die Beobachtung an dem Festzug gerät in dieser Passage zu einem dominanten Erlebnis der Masse. Dreimal wird innerhalb weniger Verse auf das hohe Men-schenaufkommen hingewiesen (turba, v. 17; 21; 24). Aus dem Festzug selektiert der Sprecher visuell zwei Gruppen, den Senat (senatus, v. 17) und die Ritter (eques, v. 18). In unmittelbarer Nähe des Freundes, in der Gruppe der Ritter, sieht der Sprecher seinen favorisierten Platz. Er beschreibt den dort zur Verfügung stehen-den Raum für einen Einzelnen als äußerst klein: Den Körper seines Freundes

592 Vgl. Ov. Pont. 4, 4, 27 f. und 43 f.: cernere iam videor rumpi paene atria turba,/ et populum laedi deficiente loco,/ (…)/ me miserum, turba quod non ego cernar in illa,/ nec poterunt istis lumina nostra frui! Vgl. auch Ov. trist. 4, 2, 15 f., indem zum visuellen Eindruck der akustische hinzugenommen wird: Ov.

trist. 4, 2, 49 f.: quaque ibis, manibus circumplaudere tuorum,/ undique iactato flore tegente vias. Ov. trist. 4, 2, 53 f.: ipse sono plausuque simul fremituque canente/ quadriiugos cernes saepe resistere equos. Eine ausge-prägt visuelle Wahrnehmung findet sich in Ov. Pont. 2, 1. Durch die im Triumphzug getragenen Waffen funkelt das Forum golden. Vgl. Ov. Pont. 2, 1, 40-42: armaque cum telis in strue mixta sua,/

deque tropaeorum, quod sol incenderit, auro/ aurea Romani tecta fuisse fori, (…).

593 Ov. Pont. 4, 9, 17-24.

sieht er von der Seite und von vorn umschlossen (latus … cingit tibi turba, v. 17; ante pedes ire iuberer, v. 18). Auch für den Sprecher herrschte dort Platzmangel (lateris non habuisse locum, v. 20). Trotz dieser räumlichen Beengtheit auf horizontaler und sagittaler Achse fokussiert er keine weiteren visuellen Details, beschränkt sich viel-mehr auf die Beschreibung des zur Verfügung stehenden Raumes für seinen Freund und sich selbst aus dem Inneren heraus, um den ungeheuren Andrang her-vorzuheben.

Der Sprecher nimmt sodann einen imaginierten Standortwechsel vor (21-24): Er sähe sich auch gern inmitten einer weiteren Gruppe, nämlich der schaulustigen Bevölkerung (populo, v. 22). An seinem Bewegungsspielraum verändert sich hier wenig: Erneut dominiert der Eindruck räumlicher Enge, die nicht mehr über vi-suelle Raumvermessungen, sondern als Erfahrung am eigenen Körper beschrieben wird (turba eliderer, v. 21; a populo premi, v. 22). Seine Nachbarn nimmt er taktil, jedoch nicht als Individuum, sondern immer noch als Masse wahr.

Durch diesen Standortwechsel verändert sich auch die Blickinszenierung auf den wahrgenommenen Festzug: Statt einer Fokussierung auf kleinste räumliche Ver-hältnisse wird eine Außenansicht als Großaufnahme geboten: Der Sprecher lässt das dichte Gedränge (densa turba, v. 24) derjenigen, die seinen Freund geleiten, an sich vorüberziehen und überblickt nun den vollen Umfang dieser Menschenfor-mation (quantus … agminis ordo, v. 23; quam longum … teneret iter, v. 24). Durch die Kombination beider Blickinszenierungen gelingt es, die enorme Dichte in einem großräumigen transitorischen Raum zu gestalten.

Dieser Aufzug an Menschen soll in dieser Elegie wohl als Zeichen einer besonde-ren Wertschätzung eines außergewöhnlichen städtischen Ereignisses und im Be-sonderen der Persönlichkeit des Freundes dienen. Der aus dem Alltag herausra-gende Moment ist eine Ausnahmesituation, die als ein räumliches Erlebnis der Masse gestaltet ist. Die eingeschränkte Wahrnehmungsperspektive des Sprechers, der gemäß der literarischen Fiktion keine Wahrnehmungsinstanz in der literari-schen urbs Roma sein kann, wird von ihm offen problematisiert:

35 hic ego praesentes inter numerarer amicos, mitia ius urbis si modo fata darent, quaeque mihi sola capitur nunc mente voluptas,

tunc oculis etiam percipienda foret.594

Die Irrealität seines Blickwinkels signalisieren die Konjunktive (numerarer, v. 35;

darent, v. 36). Nicht durch eigene, direkte Anschauung (oculis, v. 38), sondern allein mit Hilfe der mens (v. 37) kann er die Ereignisse dieses besonderen Tages antizi-pieren. Daher wahrt er im Sinne dieser literarischen Nicht-Faktualität im entschei-denden Detail auch eine entsprechende Zurückhaltung und formuliert lediglich als

594 Ov. Pont. 4, 9, 35-38.

Wunsch: spectarem, qualis purpura te tegeret.595 Seine Imagination geht diesem Duktus zufolge nicht über das Allgemeine hinaus und spiegelt vor allem seine Wünsche für seinen Freund wider. Die Beschreibung des Besonderen, des Festtages, steht genau im Spannungsverhältnis zwischen einer als Wissen präsentierten Standardsi-tuation und einem Ausnahmeereignis. Eine derartige Konzentration an Menschen ist dem Duktus der Elegie folgend kein einmaliges Ausnahmeereignis, aber auch nicht alltäglich.

Verdichtungen auf innerstädtischen Straßen durch ein hohes Menschenaufkom-men werden jedoch auch als regelhaft wiederkehrend sowohl in augusteischer als auch in kaiserzeitlicher Dichtung präsentiert. Demgemäß beschreibt der Sprecher der Satire 2, 6 des Horaz eine Wegstrecke vom Forum zum Esquilin, die täglich von ihm zurückzulegen ist.596

luctandum in turba et facienda iniuria tardis.

‚quid tibi vis, insane?‘ et ‚quam rem agis?‘ inprobus urget 30 iratis precibus, ‚tu pulses omne quod obstat,

ad Maecenatem memori si mente recurras.‘597

Diese Wegstrecke wird als ein widerständiger Bereich präsentiert, dessen innere Struktur sich aus einem hohen Aufkommen von Passanten ergibt (turba, v. 28).

Der Sprecher taucht in diese räumliche Struktur mit dem eigentlichen Vorhaben ein, diesen Bereich zügig zu passieren (recurras, v. 31).598 Innerhalb der Menschen-menge beschreibt der Sprecher jedoch enorme Einschränkungen des eigenen Bewegungsspielraums mit der Vielzahl an taktilen Kontakten und bezeichnet das Durchqueren als einen groben Ringkampf, an dem man sich gezwungenermaßen beteiligt (luctandum, v. 28, urget, v. 29, iratis precibus, v. 30; tu pulses, v. 30), da ihm der Weg versperrt ist (omne, quod obstat, v. 30). Indirekt ergibt sich aus dieser Ausgestal-tung die innere Struktur, der Abstand, den die Passanten innerhalb dieses Kon-taktbereichs zueinander einnehmen: Sie kommen sich auf Armeslänge nahe.

Des Weiteren gibt der Sprecher in autonomer direkter Rede599 einen kurzen Ge-sprächsfetzen wieder, in dem sich ein namenlos bleibender600 Grobian (inprobus, v.

595 Ov. Pont. 4, 9, 26.

596 Diese Passage wurde bereits im Abschnitt 3.3.2 unter dem Gesichtspunkt der Ausgestaltung räumlicher Ausdehnung vorgeführt.

597 Hor. sat. 2, 6, 28-31.

598 Die Präpositionalphrase in turba zeigt an, dass dieser Menschenmenge Eigenschaften einer räum-lichen Gegebenheit zukommen, da man in sie hineingehen kann.

599 Zur Begrifflichkeit vgl. Martinez/Scheffel (52003), 51, 62.

600 Dieser aus Sicht des Sprechers Unbekannte kennt jedoch den Sprecher. Er weiß, wohin der Sprecher unterwegs ist, nämlich zu Maecenas. Wiederholt klagt der Sprecher in dieser Satire, dass seine Freundschaft zu Maecenas nach seinem Geschmack von zu großem öffentlichem In-teresse ist. Diese Asymmetrie der Bekanntschaft bei den Begegnungen im öffentlichen Raum ist hier als ein erster Hinweis gestaltet. Vgl. dazu Kießling/Heinze (1959), 305 f.

29) über das handfeste Vorgehen des Sprechers beschwert. So unvermittelt, wie diese Figur aufgetaucht ist, scheint sie jedoch auch wieder verschwunden zu sein.601 Der Vorwurf bleibt unbeantwortet und die akustisch akzentuierte, flüch-tige Begegnungveranschaulicht damit exemplarisch, dass die gesamte Menschen-menge in diesem transitorischen Raum in Bewegung ist. Trotz des Bildes vom Ringkampf besteht folglich innerhalb der turba zwischen den Einzelnen kein Kon-takt von Dauer. Im Gegenteil: Gerade der individuellen Eigengeschwindigkeit wird explizit eine Bedeutung zugewiesen, denn Schnelligkeit wird zu einer zentra-len Voraussetzung erklärt, um innerhalb dieses Bereichs unausweichlicher Prügel zu entkommen (facienda iniuria tardis, v. 28).602 Werden diese Gefahren für den eigenen Körper als für alle Passanten geltende Erfahrungen und als notwendig dargestellt, so bezeichnet der Sprecher sie doch als Unrecht (iniuria, v. 28) und tritt damit zu den Erfordernissen, die diese Straßensituation von ihm abverlangt, in Distanz.

Aufgrund der personengebundenen Perspektive aus dem Inneren heraus bleibt ein genauerer räumlicher Umfang des Bewegungsbereichs diffus. Lediglich durch seinen Anfangs- und Zielpunkt ist er vage begrenzt. Auch einen Anlass für diese Bevölkerungskonzentration nennt der Sprecher nicht, sondern er präsentiert sei-nen Erlebnisbericht als eine unausweichliche Alltagserscheinung. Das räumliche Merkmal dieser Wegstrecke, nämlich ihre Dichte, gehört dieser literarischen Aus-gestaltung nach zu den festen Eigenschaften ihrer inneren Struktur.

Eine vergleichbare, jedoch viel differenziertere Veranschaulichung von Verdich-tungen auf einer innerstädtischen Wegstrecke findet sich in der dritten Satire Ju-venals. In erzählter Wahrnehmung schildert der Sprecher Umbricius, der hier in der ersten Person Plural und Singular von sich spricht, im iterativen Erzählmodus folgendes:

239 Si vocat officium, (…) 243 nobis properantibus obstat

unda prior; magno populus premit agmine lumbos 245 qui sequitur; ferit hic cubito, ferit assere duro

alter, at hic tignum capiti incutit, ille metretam.

pinguia crura luto, planta mox undique magna calcor, et in digito clavus mihi militis haeret; (…).603

Wenn man in Erfüllung von Verbindlichkeiten (officium, v. 239) eilig zu Fuß in der urbs Roma unterwegs ist (nobis properantibus, v. 243), befindet man sich laut

601 Kießling/Heinze (1959), 304 kommentieren diese Begegnung: „Erst bei näherem Hinsehen er-kennt der Schimpfende, wen er vor sich hat, den Vertrauten des Maecenas (der also als solcher stadtbekannt ist).“ Diese visuelle Perspektive ist im Text aber nicht angelegt.

602 Vgl. Kießling/Heinze (1959), 303 kommentieren tardis: „die ich also überholen will.“

603 Iuv. 3, 239, 243-248.

cius unmittelbar in einem widerständigen Bewegungsbereich: Auf sagittaler Achse steht (!) einer beliebigen Wahrnehmungsinstanz eine Menschenmenge entgegen, die mit der räumlich diffusen Referenz unda bezeichnet wird.604 Es handelt sich dieser Metapher zufolge um eine unspezifische, jedoch wohl übermächtige Masse, deren Eigenbewegung (unda, v. 244) in diesem Bewegungsbereich bereits zum Erliegen gekommen ist (properantibus obstat, v. 243 f.).605 In der entgegengesetzten Richtung – der visuellen Wahrnehmung damit entzogen – befindet sich ebenfalls ein Kollektiv von Menschen: Eine formierte, große Volksmenge (magno populus agmine, v. 244) drückt von hinten nach. Deren noch anhaltende Bewegung nimmt die Wahrnehmungsinstanz taktil wahr, da sie sich an ihre Lenden presst (premit … lumbos, v. 244). Auf sagittaler Achse ergibt sich daraus für den Einzelnen eine äu-ßerst beengte und in gleicher Weise ausweglose räumliche Konstellation: Während im Rücken die Menge ihn vor sich her bewegt, stößt sie ihn auf eine weitere Men-schenmenge zu, die ins Stocken geraten ist.

Jedoch auch auf horizontaler und vertikaler Achse zeigt sich der Bewegungsbe-reich eingeschränkt und widerständig. Von einzelnen Menschen (hic, alter, hic, ille) und den von ihnen transportierten Gegenständen wird die Wahrnehmungsinstanz an verschiedenen Gegenden ihres Körpers traktiert: Einer schlägt mit dem Ellen-bogen, ein anderer mit einer harten Stange, einer trifft mit einem Balken ihren Kopf und ein vierter mit einem Tongefäß; ihre Beine strotzen vom Straßendreck, sie wird wiederholt auf den Fuß getreten und hat den Schuhnagel eines Militärs im Zeh. Die verschiedenen taktilen Stöße treffen den gesamten Körper: von der Hüf-te aufwärts über den Oberkörper zum Kopf (cubito, v. 245, capiti, v. 246), von den Unterschenkeln abwärts über die Füße zum Zeh (crura, v. 247; calcor … in digito, v.

248). Der räumliche Abstand zu den anderen ist in diesem Bewegungsbereich folglich auf ein Minimum reduziert606: der Wahrnehmungsbereich fällt nicht nur mit einem Wahrnehmungsstandort und dessen räumlicher Umgebung, sondern mit der Wahrnehmungsinstanz selbst zusammen. In dieser extrem beengten und zugleich äußerst gefahrenträchtigen räumlichen Situation bleibt sie selbst aller-dings – im Gegensatz zur Figur aus der eben vorgestellten horazischen Satire – völlig passiv und verteidigt ihre räumliche Umgebung nicht.

Über die jeweiligen Gegenstände und Stöße nimmt die Wahrnehmungsinstanz taktil eine äußerst heterogen gestaltete, nächste räumliche Umgebung wahr, visuel-le Details dagegen werden nicht sevisuel-lektiert. Es überwiegen vielmehr Referenzen auf

604 Vgl. auch Verg. georg. 2, 461 f.

605 Vgl. OLD (1992), 1225, s.v. obsto 2 a: „To be or stand in the way (of), constitute a physical barri-er (to), block the path (of)“ und Stat. Theb. 8, 350: currus propbarri-erantibus obstant.

606 Vgl. auch Iuv. 3, 254: scinduntur tunicae sartae modo. Das Zerreißen des Unterkleides weist darauf hin, dass sich das Geschehen in gefährlicher Nähe zum eigenen Körper abspielt. Die Grenzen des Eigenorts werden von allen Seiten wie bei einem „Nahkampf“ mit verschiedenem Geschütz angegriffen, vgl. Schmitz (2000), 212. Zur epischen Kampfmetaphorik in dieser Szene vgl.

Braund (1996), 217 und Schmitz (2000), 212-221.

diffuse Konzentrationen von Menschen, von denen besonders poetisch der Aus-druck unda ist. Durch die Formierung der Menge (magno … agmine, v. 244) und die eingeschränkte Situation der Wahrnehmungsinstanz entsteht der Eindruck, als ob auch sie gefordert ist, zu einem Teil dieser Masse zu werden und vollständig in sie einzutauchen. Im starken Kontrast zu diesen Anzeichen einer Kollektivierung steht die heterogene taktile Wahrnehmung dieses Transitraumes.

In einem weiteren Abschnitt teilt die Wahrnehmungsinstanz visuelle Beobachtun-gen mit, jedoch ausnahmslos von mobilen Objekten: Sie beschreibt verschiedene Transportmittel, die sich ebenfalls innerhalb des Bewegungsbereichs befinden.

longa coruscat 255 sarraco veniente abies, atque altera pinum

plaustra vehunt; nutant alte populoque minantur.

nam si procubuit qui saxa Ligustica portat axis et eversum fudit super agmina montem, quid superest e corporibus?607

Fokussiert wird die Ladung dreier Wagen: Zwei von ihnen transportieren Bauholz (abies … pinum, v. 255), ein weiterer Marmor (saxa Ligustica, v. 257). Von diesen Materialien wird ihr Volumen (longa, v. 254) und ihr Gewicht (nam si procubuit qui saxa … portat/ axis, v. 257 f.) herausgestellt. Für die Ausgestaltung ihrer jeweiligen räumlichen Umgebung ist relevant, dass sich dieses Transportgut nicht nur raum-nehmend durch den Straßenraum hindurch bewegt, sondern sich auch in sich be-wegt (coruscat, v. 254; nutant, v. 256). Gerade diese Eigenbewegung stellt nämlich für die Passanten eine Bedrohung von oben dar (alte populoque minantur, v. 256): Von herausfallendem Marmor, der sich wie ein Berg über der Masse ergießt (!) (fudit super agmina, v. 258), wird man womöglich bis zur Unkenntlichkeit zerquetscht (quid superest e corporibus?, v. 259). Die Grenzen des menschlichen Körpers wären damit endgültig überschritten. Der Bewegungsbereich ist mit dem Einbezug der vertikalen Achse nun auf allen Seiten zu einer Gefahrenzone für den eigenen Körper ausgestaltet.

Dass die eingeschränkten Möglichkeiten in einer sozialen Stellung begründet lie-gen, lässt der Sprecher nicht unerwähnt. Diese Darstellung der ausweglosen un-mittelbaren Umklammerung seines Körpers wird mit einem anderen städtischen Transitraum kontrastiert, in dem sich gegenteilige Bedingungen bieten.

turba cedente vehetur

240 dives et ingenti curret super ora Liburna atque obiter leget aut scribet vel dormiet intus;

607 Iuv. 3, 254-259.

namque facit somnum clausa lectica fenestra ante tamen veniet: (…).608

Oberhalb der Köpfe (super ora, v. 240)609, also von ihrem Bewegungsbereich aus, nimmt die Wahrnehmungsinstanz eine gewaltige Sänfte wahr. Diese Sänfte bewegt sich mühelos und in raschem Tempo (turba cedente vehetur, v. 239; curret, v. 240).610 Mit der Bezeichnung der Sänfte als Kriegsschiff (ingenti … Liburna, v. 240) bleibt die Wahrnehmungsinstanz im poetischen Bild: Es befindet sich auf der als unda (v.

244) bezeichneten Menschenmasse. Die Sänfte bzw. der Getragene entgeht durch diese räumlich enthobene Position dem taktilen Kontakt mit der Masse. Doch der Rückzug geht noch darüber hinaus: Deutlich akzentuiert wird die Sänfte als ein unbetretbarer Raum (inaccessible frame): Ihre Grenzen, die Fenster, sind geschlossen (clausa lectica fenestra, v. 242). Jedoch sind die Vorgänge im Inneren (intus, v. 241) dem Sprecher bekannt. In der Sänfte beschäftigt sich die Figur (dives, v. 240) mit Lesen, Schreiben, Schlafen. Diese Beschäftigungen setzen eine akustisch ungestör-te Umgebung – zudem über einen längeren Zeitraum – voraus. Die Figur nimmt folglich über den visuellen, wie auch akustischen Fernsinn nichts von ihrer unter ihr befindlichen räumlichen Umgebung wahr. Auch räumlichen Beschränkungen ist sie nicht ausgesetzt. Die widerständige Menschenmasse weicht ihr aus (turba cedente, v. 239), so dass sie sich zügig oberhalb von ihr fortbewegen kann (curret supra ora, v. 240).

In beiden Bewegungsbereichen – oben und unten – werden Entfernungen inner-halb des literarischen Raumes zurückgelegt. Die Geschwindigkeit der Sänfte wie auch der Hinweis auf die Tätigkeiten, denen die Figur in der Sänfte unterwegs nachgeht, weisen implizit darauf hin, dass es sich um recht große Entfernungen handelt, die von beiden zurückzulegen sind. Die Wegstrecke ist für den Fußgänger und den Getragenen damit identisch. Das Wettrennen innerhalb der literarischen urbs Roma beantwortet die Sänfte jedoch für sich: ante … veniet (v. 243). Denn die Unterschiede zwischen den beiden Konkurrenten bestehen nicht darin, ob eine Entfernung zurückzulegen ist oder nicht, sondern in den Möglichkeiten, sich einer inneren Struktur der literarischen urbs Roma zu entziehen. Die Verdichtungen im offenen Straßenraum werden in dieser Passage damit zu einem zentralen Merkmal der literarischen urbs erklärt, anhand derer der Erzähler Umbricius die Möglichkei-ten seiner Person mit den Chancen der vom Stadtleben PrivilegierMöglichkei-ten gegenüber-stellt.

608 Iuv. 3, 239-243.

609 Vgl. OLD (1992), 1273, s.v. os 7: „The face as implying the head“ und Iuv. 6, 43. Braund (1996), 217: „super ora suggests the upturned faces of those less fortunate.“

610 Vgl. Braund (1996), 216 f. Zum gnomischen Futur vgl. Courtney (1980), 187.

Zusammenfassung

Die intensive Nutzung von öffentlichem Raum wird anlässlich einmaliger, vom Duktus her herausragender, Ereignisse ebenso beschrieben wie als eine alltägliche Erfahrung innerhalb der literarischen urbs Roma. Dabei tritt neben die direkte At-tribuierung und die Wahl von Referenzen auf kollektive Formierungen von Men-schen eine lebendige Ausgestaltung räumlicher Dichte.

Eine Lokalisierung derartiger Bewegungsbereiche in einem innerstädtischen Ver-kehrsnetz der literarischen urbs Roma findet allenfalls vage statt. Es fehlt der Hin-weis auf weitere städtische Teilelemente oder topographische Wahr- und Merk-zeichen, an denen die Wegstrecken entlangführen. Es handelt sich daher um zona-le Schauplätze mit in erster Linie städtischem Charakter. Gründe für die intensive Nutzung, etwa eine besondere Straßenführung oder die Konzentration wichtiger Eigenschaften, werden nicht angeführt. Die vorausgesetzte Bewegung aller Betei-ligten charakterisiert diese Bereiche daher jeweils als einen großräumigen Knoten-punkt im Sinne einer intensiven Nutzung durch eine innerstädtische Mobilität.

Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass jeder Hinweis auf ein weiterführen-des Straßennetz von Haupt- und Nebenstraßen, in dem die Figuren navigieren könnten, fehlt. Für die Wahrnehmungsinstanz ergibt sich die Begegnung mit die-sem widerständigen Bewegungsbereich gemäß der Illusionsbildung vielmehr alter-nativlos und zwingend, der iterative Erzählmodus stellt die Eigenschaften des

‚transitorischen Raums‘ als eine typische innere Struktur dar.

Dargestellt wird der Bewegungsbereich als ein auf mehreren Achsen dichter und widerständiger Raum. Zur räumlichen Vermessung der Dichte – weniger zur Wahrnehmung räumlicher Verdichtung – wird wiederholt die taktile Wahrneh-mung genutzt, die Auskunft über die Abstände, den Grad des Widerstands und über Varianz und Heterogenität des Bewegungsbereichs gibt. Der Einzelne befin-det sich dabei inmitten einer unbekannten Vielzahl von Menschen, von denen er visuell trotz des geringen Abstands kaum individuelle Merkmale wiedergibt. Trotz ausgewiesener Kontaktbereiche werden keine persönlichen Bindungen unter den Nutzern des öffentlichen Raums sichtbar. Es handelt sich um einen Bereich von vorwiegend anonym handelnden Akteuren, inmitten derer allein über die Gefah-ren, die sich für das Individuum aus der räumlichen Situation heraus ergeben, re-flektiert wird. Im Mittelpunkt steht folglich die Betrachtung und Wahrnehmung eines räumlichen Merkmals in seinem direkten Lebenszusammenhang, das in sei-nen Eigenschaften als typisch für die innere Struktur einer urbs Roma präsentiert wird.