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2.2 Die Analyse räumlicher Physis in narrativen Texten

2.2.3 Literarisch gestaltete Wiedergabe des Raums

2.2.3.2 Erzählen von Raum

Räumliche Gegebenheiten werden in antiker Dichtung – wie dem Forschungs-bericht II bereits entnommen werden konnte – eher in Ausnahmefällen en bloc, etwa in Form einer kürzeren oder längeren descriptio loci (τοπογραφία), präsentiert.

Häufiger nehmen räumliche Gegebenheiten erst sukzessiv konkretere Gestalt für den Leser an. Als Beispiel diente im Forschungsbericht dafür der Palast des Odys-seus auf Ithaka, der – im Gegensatz zur Insel der Kalypso oder den Besitzungen des Alkinoos – an keiner Stelle der homerischen Odyssee ausführlich beschrieben wird. Dennoch, so hieß es, werde er als Schauplatz der Handlung über die Bü-chergrenzen hinweg „Raum für Raum so ausgezeichnet ausgenutzt, dass sich aus den szenischen Hinweisen der Erzählung ein Gesamtplan rekonstruieren lässt“.165 Diese „szenischen Hinweise“, aus denen sich eine Gesamtvorstellung ergibt, ent-stammen dem für poetische Literatur typischen ‚Erzählen von Ereignissen‘.166 Da jedes Ereignis nicht nur zu einem bestimmten Zeitpunkt, sondern auch obliga-torisch in, an oder bei einer räumlichen Gegebenheit stattfindet, beinhaltet jede Wie-dergabe eines Ereignisses (was?) notwendigerweise neben einer zeitlichen Einbet-tung (wann?) auch den räumlichen Kontext (wo?). Dennerlein schlägt für den hier interessierenden räumlichen Kontext eines jeden Ereignisses den Terminus ‚Ereig-nisregion‘ vor.167 Während der Lektüre ist der Leser in der Lage, Informationen über eine bereits erwähnte Ereignisregion wieder abzurufen, zu ergänzen oder zu modifizieren und so – als Endergebnis der Lektüre – aus einzelnen räumlichen Informationen eine zusammenhängende räumliche Vorstellung zu bekommen.168 Hellwig (1964) unterscheidet in ihrer Untersuchung zur Raumgestaltung in den homerischen Epen eine Mikro- und Makrostruktur. Während sich das Geschehen an wenigen großen Bereichen abspielt, wie z. B. in der Stadt, am Strand, auf dem Olymp, spielen die konkreteren Ereignisse auf kleineren Plätzen, die „Ausschnitte aus den umfassenden Gebieten sind“.169 Einen Vorschlag zur Strukturierung der

„Raumgestaltung der Gesamthandlung“ oder – wie es heute bezeichnet wird – des

165 Goebel (1971), 14. Vgl. allgemein zu dieser Darstellungstechnik Ryan (2009), 423. Dennerlein (2009), 140 zeigt, wie stabile Informationen zu räumlichen Gegebenheiten sowohl im Zusam-menhang mit Ereignissen, als auch in beschreibenden Textpassagen vergeben werden.

166 Unter dem Begriff Ereignis wird hier eine ganz allgemeine Zustandsveränderung verstanden, die durch ein Prädikat benannt wird, das eine Veränderung beschreibt. Der Begriff Ereignis sagt so-mit nichts über die Relevanz der Zustandsveränderung für die Gesamtgeschichte aus. Vgl. Hühn (2009), 80-83. Dennerlein (2009), 122 f. und 237 unterscheidet drei Arten von Ereignissen: (1) nichtintendiertes Geschehen nach den Regeln der erzählten Welt (!) (z. B. Der Blitz schlug ein.), (2) Handlungen von Figuren (z. B. Sie traten in den Garten.) und (3) intentionale Zustände (z. B. Er lag den ganzen Tag auf dem Bett.).

167 Vgl. Dennerlein (2009), 125 f. und 237.

168 Grundlegend dazu Emmott (1997), 141-174.

169 Hellwig (1964), 23.

gesamten erzählten Universums170 bietet Ronen (1986). Sie differenziert alle in-nerhalb eines narrativen Textes erwähnten räumlichen Gegebenheiten nach ihrer Mittelbarkeit zur eigentlichen Handlung. Daraus ergeben sich auch Indizien, welcher räumlichen Gegebenheit eine Relevanz zugeschrieben wird.

Schauplätze, Nebenräume und Fernräume

Diejenigen räumlichen Gegebenheiten, die die tatsächlichen und unmittelbaren Ereignisse raumbildend umgeben, bezeichnet man als ‚Schauplatz‘.171 Dies ent-spricht im Drama demjenigen Raum, der durch die Bühne dargestellt wird. Die Ausdrücke tatsächlich und unmittelbar verweisen auf die besondere raum-zeitliche Konstituierung des Ereignisses. Der Schauplatz ist die faktische Umgebung einer Figur. Gemäß den Regeln der erzählten Welt muss das Ereignis also gerade tatsäch-lich geschehen, die Ereignisregion tatsächlich existieren und nicht nur der Vorstel-lung oder der Erinnerung einer Figur entspringen.172Unmittelbar weist zeitlich auf die Erzählgegenwart173 der entsprechenden Erzählebene und räumlich auf den nächstliegenden Bereich, also auf die konkrete räumliche Umgebung hin, in, an oder bei der Figuren und Ereignisse situiert werden. Bei einem Makroraum liegt es demzufolge nahe, dass nicht die Großstadt an sich, sondern eher einzelne Bereiche, die innerhalb der Großstadt situiert sind, zu einem Schauplatz werden.

Als besondere Form eines städtischen Schauplatzes möchte ich den Begriff ‚Kon-taktbereich‘ einführen, um damit zu beschreiben, dass der Autor diesen Bereich durch die gleichzeitige Anwesenheit von einer Figur und weiteren Figuren ausge-staltet hat, denn nicht notwendigerweise müssen sich an jedem Schauplatz gleich-zeitig auch weitere Figuren aufhalten. Von Interesse ist, ob die Figur in einem Kontaktbereich mit den anderen Figuren in Kontakt tritt und es sich dabei um die Schilderung eines einmaligen Ereignisses handelt, oder ob es sich um kollektive, anonym bleibende Akteure handelt, die damit zu den stabilen Eigenschaften des Raumes gerechnet werden können.

170 Vgl. Ryan (2009), 421 f.

171 Statt von Schauplatz spricht man in der Narratologie häufig auch von setting. Vgl. Ronens (1986), 423-425, bes. 423 die Definition von setting: „actual immediate surroundings of an object, a charac-ter, or an event“. Ryan (2009), 421 f. unterscheidet zwischen spatial frames als der eigentlichen Umgebung der Figuren und setting als „the general socio-historico-geographical environment in which the action takes place. In contrast to spatial frames, this is a relatively stable category which embraces the entire text.“ Setting entspräche damit einer sehr allgemeinen Formulierung wie: „Der Schauplatz der Epigramme Martials ist das kaiserzeitliche Rom.“

172 Die Tatsächlichkeit einer literarischen räumlichen Gegebenheit lässt sich nicht an ihrem Ver-hältnis zur aktualen Welt bestimmen, sondern allein anhand der Regeln, die innerhalb der erzähl-ten Welt gelerzähl-ten. Vgl. Dennerlein (2009), 129 f.

173 Ein Jetzt-Eindruck wird durch die Verortung des raum-zeitlichen Orientierungszentrums, der sogenannten Origo, erzeugt. Vgl. Dennerlein (2009), 130 f.

Innerhalb eines Textes kann eine Reihe von disparaten räumlichen Gegebenheiten in das Zentrum der Handlung gestellt werden.174 Gerade diese räumliche Flexibili-tät narrativer Texte ermöglicht es, Makroräume wie eine Irrfahrt175 oder eben eine Großstadt erzählerisch darzustellen. Dabei kann ebenso wie bei einer filmischen Montage der Erzähler zwischen simultan existierenden Schauplätzen wechseln und sie jeweils zu einer unmittelbaren und tatsächlichen Umgebung von Figuren werden lassen. Oder der Erzähler kann die einzelnen Schauplätze durch Figuren-bewegung miteinander verbinden. Im ersten Fall wären die einzelnen Bereiche ohne einen räumlichen Zusammenhang, als räumliche Inseln dargestellt.176 Eine übergreifende Struktur und Physis eines Makroraums werden durch eine derartige Aneinanderreihung einzelner Schauplätze nur sehr basal präsentiert.177 Im zweiten Fall treten die übergeordneten Strukturen eines Makroraumes und seine Physis schon deutlicher hervor. Durch die Bewegung einer oder mehrerer Figuren wer-den unterschiedliche Schauplätze zu einem zusammenhängenwer-den Raum zusam-mengefasst und seine Ausdehnung den Bewegungsradius der Figuren indirekt beschrieben.178 Aus einzelnen Inseln entsteht durch das Ereignis der Bewegung ein ‚räumliches Kontinuum‘, ein sogenannter ‚Bewegungsbereich‘.179 Durch die Bewegung der Figur(en) werden die unterschiedlichen Schauplätze in einer be-stimmten Reihenfolge verbunden, auf einen Fixpunkt hin angeordnet oder auch mehrfach untereinander verknüpft.180 Damit werden räumliche Strukturen eines Makroraums sichtbar gemacht.

174 Zum Schauplatzwechsel in Verbindung mit dem Wechsel der Erzählebene vgl. Ronen (1986), 423; Konstan (2002), 2.

175 Vgl. Hellwig (1964), 1 und 31.

176 Vgl. Lynch (1975), 107. Meist werden mit diesem Verfahren auch zwei parallele Erzählstränge gelegt. Ein prominentes Beispiel für eine derartige Raumkonstellation ist der Anfang der see. Nach einem kurzen Schwenk auf die Insel Ogygia und deren Bewohner, Kalypso und Odys-seus, wird über Äthiopien, dem derzeitigen Aufenthalt des Poseidon, zum Olymp „geschwenkt“, auf dem eine Götterversammlung anberaumt ist. Die Handlung setzt sich sodann in Ithaka fort und schwenkt erst in Buch 5 auf die Insel Ogygia zurück. Während der ersten vier Bücher ist somit die Insel Ogygia größtenteils kein Schauplatz. Im Buch Ε ändert sich deren Status wieder.

Hellwig (1964), 1 spricht in diesem Zusammenhang von verschiedenen Handlungssträngen, durch die bestimmte Bereiche im Vordergrund und Hintergrund dargestellt werden. Die Hinter-grundhandlung ruht, wird aber anschließend wieder aufgenommen, vgl. auch ebd., Fn. 2.

177 Aus einer solchen räumlichen Darstellung ergäbe sich die „partikulare“ Sicht, wie sie Stierle (1993) der antiken Literatur im Hinblick auf die Großstadt attestiert.

178 Vgl. Konstans Definition eines continuous action space: „Though characters move from one spot to another, as long as they (or some of them) are continually in sight, so to speak, their movements constitute what I call a trail. If any agent leaves a trail, the action space is continuous.“ Konstan, Narrative Space, in: Paschalis/Frangoulidis (2002), 2.

179 Dennerlein (2009), 126 f. und 237.

180 Vgl. Lynch (1975), 107-108. Lynch unterscheidet vier Raumtypen: 1) Einen Inselraum, beste-hend aus Bereichen, die unverbunden nebeneinander bestehen, und zwischen denen es „weiße Stellen“ gibt. 2) Einen Raum, bestehend aus Bereichen, die auf Zentralpunkte hin angeordnet sind, aber untereinander nicht verbunden sind. 3) Einen Raum, bestehend aus Bereichen, die in

Wird die Bewegung einer Figur selbst erzählt und zusätzlich beispielsweise die Art bzw. das Tempo der Bewegung (mit dem Pferd, zu Fuß, schlendern, rennen) oder die zu überwindenden Hindernisse genannt, wird eine räumliche Vorstellung über die Länge und Beschaffenheit der zurückgelegten Strecke und damit gleichzeitig über die räumliche Ausdehnung des Makroraumes vermittelt.181 Die erzählte Bewegung ist eine weit anschaulichere Wiedergabe räumlicher Physis.182

Diesen Überlegungen zufolge sind nicht alle räumlichen Gegebenheiten, die in narrativer Dichtung erwähnt werden, Schauplätze. Dennoch liegen bisweilen über den eigentlichen Schauplatz recht spärliche Informationen vor, während ein Er-zähler oder eine Figur über entfernte räumliche Gegebenheiten zahlreiche Details präsentiert. Man unterscheidet daher wie im Drama einen Schauplatz als denjeni-gen Raum, in dem sich die Figuren aufhalten, von demjenidenjeni-gen, der in Berichten anderer, der Phantasie oder der Erinnerung von Figuren präsentiert wird.

Die Mittelbarkeit und Präsenz aller räumlichen Einheiten des gesamten erzählten Universums unterscheidet Ronen (1986) nach ihrer räumlichen Distanz183 oder – anders formuliert – nach der topologischen Beziehung zum Schauplatz. Befindet sich die räumliche Gegebenheit in unmittelbarer Nachbarschaft zum Schauplatz will Ronen von einem ‚Nebenraum‘ (secondary frame) sprechen.Sein Kennzeichen ist, dass er unmittelbar an den Schauplatz anschließt.184 Eine Figur kann vom Schauplatz aus ihre Wahrnehmung auf diesen Raum ausdehnen, sie kann Geräu-sche hören, Gerüche riechen oder aus dem Fenster hinausschauen und ihre Wahr-nehmungen mitteilen, Figuren können aus diesem Nebenraum auf die Bühne treten. Damit gehört der Nebenraum zu demselben räumlichen Kontinuum wie der Schauplatz. In einem erzählerischen Text wird eine derartige strukturelle

einer bestimmten Reihenfolge miteinander verbunden sind. 4) Einen Raum, bestehend aus Be-reichen, die mehrfach untereinander verknüpft sind, und unter denen es kaum Leerstellen gibt.

Zur Anwendung auf die Literaturwissenschaft vgl. Dennerlein (2009), 191. Beschrieben wurde dieses Phänomen bereits anhand der inneren Struktur der Stadt Troja im Buch 6 der Ilias. Vgl.

Abschnitt 1.2.

181 Zur Bewegung von Figuren vgl. auch Abschnitt 2.2.3.3.

182 Vgl. Aristot. an. 425 a. Bal (32009), 139 formuliert dieselbe Beobachtung m. E. aus einer anderen Perspektive, wenn sie meint, dass die Größe des Raumes erst eine bestimmte Handlung er-möglicht: „A dynamically functioning space is a factor which allows for the movement of char-acters. Characters walk, and therefore need a path. They travel, and so they need a large space, countries, seas, air. The hero of a fairy tale has to traverse a dark forest to prove his courage. So there is a forest.“

183 In der Erzähltheorie wird der Grad der Mittelbarkeit von Rede und Gedanken bei der Präsenta-tion des Erzählten als Distanz zum Erzählten unterschieden, vgl. Martinez/Scheffel (52003), 47-63; als Übersicht 62. Auf den Raum übertragen bezeichnet Distanz verschiedene Grade an Mit-telbarkeit der räumlichen Präsentation, vgl. Ronen (1986), 425. Vgl. entsprechend Chatman (1980), 139-141 über die Frage nach Kriterien für einen Protagonisten.

184 In einem Drama wäre ein Nebenraum derjenige Raum, der sich hinterszenisch unmittelbar an die Bühne anschließt, der mittels einer Tür oder einem Fenster o. ä. auf der Bühne bereits ange-deutet wird.

derung entweder durch Referenzen auf Grenzen (Wand, Mauer, Zaun) explizit benannt oder sie ist entsprechend des Alltagswissens als bekannt voraussetzbar.185 Neben der Tatsache, dass die Einbindung solcher Nebenräume der räumlichen Anschaulichkeit dient, wird dadurch der zusammenhängende Raum in einer feine-ren Untergliederung wiedergegeben. Gleichzeitig verdienen derartige Strukturen eine erhöhte Aufmerksamkeit, da sie in der Regel den beiden Bereichen unter-schiedliche Funktionen186 oder räumliche Eigenschaften zuweisen und zusätzlich als innen-außen, privat-öffentlich, betretbar-unbetretbar usw. gekennzeichnet sind.187 Als weitere Raumkonstellation kommt einer räumlichen Gegebenheit besondere Aufmerksamkeit des Interpreten zu, wenn diese nicht unmittelbar an den Schauplatz anschließt und sowohl vom eigentlichen Schauplatz räumlich als auch von der Er-zählgegenwart zeitlich entfernt liegen kann.188 Ronen bezeichnet sie als ‚raum-zeitlichen Fernraum‘ (spatio-temporally distant frame).189 Nach Ronen wird der Schauplatz häufig mit ihm um eines Kontrastes willen in Beziehung gesetzt190, der sich auch in der Darstellung ihrer jeweiligen Physis spiegeln kann.191