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3 Der literarische Raum Großstadt in der augusteischen und

3.3 Formen der Ausdehnung. Die Größe einer literarischen

3.3.2 Mobilität als Lebensform. Bewegungsbereich Großstadt

3.3.2.1 Ländliche Bewegungsarmut

Dass Bewegung durch den literarischen Raum eine prominente Darstellungsform gerade der urbs Roma in der römischen Dichtung ist, beweist sich auch bei einem Blick auf denjenigen literarischen Raum, der gern der Stadt gegenübergestellt wird,

364 Mart. 7, 39, 1-4.

365 Die Anspielung auf eine morgendliche Bewegung durch den Raum und das Grüßen von Höher-stehenden verweist auf den Klientendienst. Der Klient verweist allerdings in seiner Rollenidenti-tät nicht automatisch auf die Stadt, da dieser Dienst auch außerhalb von Rom und einem städti-schen Kontext praktiziert wird. Vgl. Mart. 3, 58, 33 und Galán Vioque (2002), 258. Möchte man das Epigramm 7, 39 in einem literarischen Raum urbs Roma lokalisieren, bliebe allein die typische Handlung des vielen Laufens als Indiz.

dem Land.366 Häufig wird der eine dieser beiden in der römischen Dichtung als Schauplatz und der andere als raum-zeitlich getrennter Fernraum (spatio-temporally distant space) gestaltet und Unterschiede im räumlichen Erleben herausgearbeitet.

Eine derartige Kontrastierung findet sich im Epigramm 12, 18 Martials.

1 Dum tu forsitan inquietus erras clamosa, Iuvenalis, in Subura aut collem dominae teris Dianae;

dum per limina te potentiorum 5 sudatrix toga ventilat vagumque

maior Caelius et minor fatigant:

me ()

accepit mea rusticumque fecit (…) Bilbilis (…).

10 Hic ()

13 ingenti fruor inproboque somno quem nec tertia saepe rumpit hora, 15 et totum mihi nunc repono quidquid

ter denos vigilaveram per annos.367

Der Sprecher dieses Epigramms befindet sich in einer nach eigenen Aussagen ländlichen Umgebung (rusticumque fecit … Bilbilis, v. 8 f.), dem Schauplatz des Epi-gramms.368 Sein angesprochenes Gegenüber, Iuvenalis, befindet sich zeitgleich (dum, v. 1 und 4) in der Stadt, die hier als räumlich getrennter Fernraum (spatio dis-tant frame) eingeführt ist. Dieser Fernraum steht im Mittelpunkt der ersten Hälfte des Epigramms. Er ist nicht durch ein entsprechendes Toponym oder eine Gat-tungsbezeichnung näher bezeichnet, aber topographische Merk- und Wahrzeichen verweisen auf den Raum urbs Roma. Selektiert werden ein akustisch akzentuiertes (clamosa, v. 2) Stadtviertel und drei Hügel samt Schwellen, die metonymisch auf Wohnhäuser verweisen. Die Auswahl fällt somit auf weiträumigere, diffus abge-grenzte Bereiche und rückt vor allem ein topographisches Gelände in den Mittel-punkt. Der literarische Raum urbs Roma wird in disparate Inseln untergliedert, die miteinander unverbunden bleiben. Mithilfe dieser Raumaufteilung werden Optio-nen einer Tätigkeit gezeigt, deOptio-nen Iuvenalis an jeweils verschiedeOptio-nen Orten inner-halb der literarischen urbs Roma nachgehen könnte. An allen Teilorten wird als Tä-tigkeit eine vergleichbare unruhige und unablässige Bewegung des Iuvenalis vo-rausgesetzt, die in der Art ihres räumlichen Ausgreifens (inquietus erras, v. 1) bereits

366 Vgl. Abschnitt 1.3.

367 Mart. 12, 18, 1-10; 13-16.

368 Es handelt sich bei dieser Raumgestaltung eindeutig um einen literarischen Raum. Der historische Ort Bilbilis hatte einige regionale Bedeutung und eher kleinstädtischen Charakter. Vgl. Sullivan (1991), 179-184.

einen Bewegungsbereich von einiger Größe voraussetzt. Die Variation der Tätig-keiten liegt vor allem in der Art und Weise der jeweiligen Bewegung, in Kontakt mit anderen tritt er nicht. Die ersten beiden Bereiche werden mit dem aktiven Agieren des Iuvenalis verknüpft, das einmal ziellos (inquietus erras – in Subura, v.

1 f.), einmal zielgerichtet (collem Dianae – teris, v. 3) wirkt. Im zweiten Satz werden die jeweiligen Bereiche mit einem (passiven) Reagieren verbunden: per limina potentiorum (v. 4) – te toga ventilat (v. 4 f.), vagum (v. 5) – maior Caelius et minor fatigant (v. 6).369 Die räumliche Präsentation könnte zudem als eine zeitliche Abbildung in-terpretiert werden. Kennzeichnen die ersten beiden Tätigkeiten noch eine starke körperliche Unruhe (inquietus erras, v. 1, vagum, v. 5), so beschreiben die folgenden daraus resultierende körperliche Reaktionen (sudatrix, v. 5; fatigant, v. 6).370

Dieser eindringlichen Darstellung der unruhigen, bewegungsreichen und raumaus-greifenden Tätigkeiten in der Großstadt wird im zweiten Teil des Epigramms das beschauliche Leben auf dem Lande gegenübergestellt. Dieses ist zunächst durch eine nahezu völlige und lang anhaltende Bewegungslosigkeit des Sprechers ge-kennzeichnet: Er gibt sich einem außerordentlichen und übermäßigen Schlaf hin (fruor … somno, v. 13).371 Die weiteren Ereignisse finden im Inneren eines Hauses statt. Hier werden Andere für den Sprecher tätig.372 Die besondere Akzentuierung des Innenraumes als Kontaktbereich weist auf einen begrenzten Bewegungsradius des Sprechers373 und steht im deutlichen Kontrast zum offenen Raum der literari-schen urbs Roma, in dem sich Iuvenalis unbegrenzt bewegt.374

369 Der Wechsel von Aktion zur Rezeption kann als Abbildung der körperlichen Erschöpfung ver-standen werden.

370 Das Attribut sudatrix bezieht sich auf toga, ist also vom Träger auf das Kleidungsstück übertragen worden (Enallage). Watson (2003), 145 versteht es auch als „‚which makes one sweat‘ (…) or

‚habitually sweating‘“.

371 Auffallend ist die Betonung des Exzesses beim Schlafen. Exzessive Handlungen werden in der Regel mit dem Leben in der Stadt assoziiert. Vgl. Watson (2003), 144. Vgl. ebd., 145 zum Ver-ständnis von inquietus: „Also suggested is the sense of ‚lacking sleep‘ (…) Bilbilis posed no such problems.“ Zu ingens vgl. Bowie (1993), 106: „ingens is applied to the degree or intensity of phy-sical phenomena and their sounds (winds, hail, storms etc.).“

372 Vgl. Mart. 12, 18, 17-25: Ignota est toga, sed datur petenti/ rupta proxima vestis a cathedra./ surgentem focus excipit superba/ vicini strue cultus iliceti,/ multa vilica quem coronat olla. Im Gegensatz dazu ist die räumliche Umgebung des Iuvenalis konsequent als offener Raum konzipiert. Limina bezeichnet demzufolge pointiert die räumliche Umgebung der Grenze zwischen Innen- und Außenraum, nicht den Innenraum selbst.

373 Der Sprecher selbst verlässt das Haus nicht. Über die nähere Umgebung des literarischen Rau-mes rus wird der Leser durch den Eintritt anderer in den Schauplatz informiert, etwa der Eintritt eines Jägers, der in seiner Rollenidentität auf einen Wald in näherer Umgebung verweist. Vgl.

Mart. 12, 18, 22-25. venator sequitur, sed ille quem tu/ secreta cupias habere silva;/ dispensat pueris rogatque longos/ levis ponere vilicus capillos. Ein expliziter Verweis auf den Wald findet sich in Mart. 12, 18, 20: vicini strue … iliceti. Zum Verständnis von venator sequitur vgl. Watson (2003), 149: „next a hunter arrives“ und Mart. 1, 49, 29, gegen Barié (1999), 1412: „Ein Jäger begleitet mich: der jung, hübsch und dem Herrn gefügig ist.“ Der Jäger kommt als Gast zum Abendessen. „The absence of companions other than the vilica, venator, vilicus emphasises M[artial]’s release from the social

Auch in Horazens Satire 2, 6 lassen sich im Hinblick auf die unterschiedlich aus-greifenden Bewegungsradien derselben Figur vergleichbare Unterschiede in den jeweiligen literarischen Räumen rus und urbs ausmachen. Im Gegensatz zum deut-lich herausgearbeiteten Bewegungszwang im offenen Raum der urbs Roma sind die Tätigkeiten, die der Sprecher für das Landleben antizipiert, auffallend bewegungs-arm:

60 o rus, quando () licebit

nunc veterum libris, nunc somno et inertibus horis ducere sollicitae iucunda oblivia vitae?

o quando faba ()

uncta satis pingui ponentur holuscula lardo?

65 o noctes cenaeque deum, quibus ipse meique ante Larem proprium vescor vernasque procacis pasco libatis dapibus.375

In dieser Emphase verbindet der Sprecher mit dem literarischen Raum rus Tätig-keiten wie Lesen und Schlafen, also räumlich kaum ausgreifende TätigTätig-keiten der Muße (inertibus horis, v. 61).376 Des Weiteren beschwört er abendliche Gastmähler und dabei besonders Speisen, die ihm vorgesetzt werden (ponentur, v. 64). Die Wünsche verweisen allesamt auf einen privaten Innenraum eines Landhauses und erfordern wenig Eigen-Bewegung.377 Die cena dient als Anlass von Gesprächen unter Vertrauten. Räumlich befindet sich dieser Kontaktbereich deutlich im Inne-ren des Hauses, genauer in der unmittelbaInne-ren räumlichen Umgebung eines Tisches (ante Larem proprium, v. 66). Auch diese räumliche Präsentation charakterisiert das Landleben vor allem als eine Existenz auf beschränktem Raum.

Die Beobachtung zur geringen Raumnahme des Sprechers deckt sich auch mit den Beschreibungen der räumlichen Umgebung des Landhauses, mit denen die Satire 2, 6 einsetzt:

obligations incumbent on the cliens in Rome.“ Zur Erotisierung des Zusammenseins vgl. Watson (2003), 149 f.

374 Hastige und räumlich ausgreifende Eigenbewegungen werden auch in anderen Bereichen des Landlebens nicht dargestellt: Seine Landarbeit kennzeichnet er in Form eines Oxymoron. Vgl.

Mart. 12, 18, 7-11: me (…)/ accepit mea rusticumque fecit/ auro Bilbilis et superba ferro./ Hic pigri colimus labore dulci/ Boterdum Plateamque (…). Vgl. dagegen Hor. sat. 1, 9, 19 über die Bereitschaft, große Entfernungen in der urbs Roma auf sich zu nehmen: non sum piger. Zum literarischen Spiel mit der Bedeutung von colere vgl. Bowie (1993), 105.

375 Hor. sat. 2, 6, 60-67.

376 Im Gegensatz zum Klienten als typischen Städter, bezeichnen sich die Figuren auf dem Land zwar als rusticus, gehen aber vor allem Tätigkeiten des städtischen otium nach.

377 Als einzige Bewegung wird nur das Füttern (sic!) der Haussklaven genannt. Vgl. Hor. sat. 2, 6, 66 f.: (…) vernasque procacis/ pasco libatis dapibus.

1 Hoc erat in votis: modus agri non ita magnus, hortus ubi et tecto vicinus iugis aquae fons et paulum silvae super his foret. auctius atque di melius fecere. bene est. nil amplius oro, (…).378

Die Satire beginnt mit der Darstellung eines Wunschortes, eines nicht bestehen-den Raumes (frame with a non-factual status). Als Teilelemente dieses literarischen Raumes rus werden ein freies Feld379, ein Garten, ein Haus, eine Quelle und ein Wald genannt. Das Feld soll wunschgemäß nicht allzu groß sein. Auf diesem Ge-biet (ubi, v. 2) soll sich ein Garten und eine Wasserquelle befinden, die in räumli-cher Nähe zum Haus liegen sollte. Hinter dieser Gesamtanlage sollte ein Wald an-schließen (super, v. 3).

Diese Wünsche wurden von den tatsächlichen räumlichen Gegebenheiten über-troffen und der Sprecher bezeichnet sich als mehr als zufriedengestellt. Über die genaueren Verhältnisse des Schauplatzes wird der Leser jedoch nicht aufgeklärt.

Da der Sprecher ihn aber im Folgenden summarisch mit arx (v. 16) bezeichnet und darüber hinaus allein den Innenraum des Landhauses zum Kontaktbereich ausgestaltet, dominiert weiterhin der Eindruck eines eher kleinen, räumlich be-schränkten und überschaubaren380 Anwesens. Ein Abmessen des Schauplatzes qua eigener Bewegung oder eine Bewegung zu anderen Bereichen innerhalb des Raums rus werden nicht realisiert.

Dem Bewegungsreichtum im literarischen Raum urbs Roma wird in beiden aus-gewählten Beispielen die Bewegungsarmut auf dem Land gegenübergestellt. Zur räumlichen Gestaltung des literarischen Raums rus werden einzelne Ereignis-bereiche selektiert, die auf Innenräume verweisen und als überschaubare und per-sönliche Kontaktbereiche gekennzeichnet sind. Er wird damit als ein klar um-grenztes Gebiet381 gestaltet, das auf die villa und ihre unmittelbare Umgebung

378 Hor. sat. 2, 6, 1-4.

379 Vgl. Georges (1969), Bd. 1, s.v. ager, I a), Sp. 242: „(…) im G[e]g[en]s[a]tz zu Plätzen, die von Häusern od[er] Wald schon bedeckt sind, das Feld; (…) im G[e]g[en]s[a]tz zur Stadt, das flache Land“.

380 Vgl. auch Hor. sat. 2, 6, 8 f.: si veneror stultus nihil horum ‚o si angulus ille/ proximus accedat, qui nunc denormat agellum!‘; Iuv. 3, 226-231: hortulus hic puteusque brevis nec reste movendus/ in tenues plantas facili diffunditur haustu./ vive bidentis amans et culti vilicus horti/ unde epulum possis centum dare Pythagoreis./ est aliquid, quocunque loco, quocunque recessu,/ unius sese dominum fecisse lacertae.

381 Vgl. Verg. ecl. 1, 46 f.: rura (…) tibi magna satis; Hor. carm. 2, 16, 37: parva rura; Hor. carm. 2, 18, 14: satis beatus unicis Sabinis; Mart. 10, 96 [explizit v. 5: res parva]; Mart. 12, 31, 8: parva regna; Mart.

12, 57, 1: parva rura; Stat. silv. 4, 5, 1: Parvi beatus ruris honoribus. Die Darstellung von Innen-räumen ist nicht nur auf den literarischen Raum rus beschränkt. Es finden sich in der au-gusteischen und frühkaiserzeitlichen Dichtung zahlreiche Belege über abendliche cenae, über den Besuch von Badeanstalten usw., die innerhalb eines literarischen Raums urbs Roma lokalisiert werden.

beschränkt ist. Im Gegensatz zum literarischen Raum urbs bleiben Hinweise auf ein Wegenetz oder die Darstellung von ausgreifenden Bewegungen von Figuren selten.382 Gerade der literarische Raum rus wird folglich in Absetzung zur literari-schen urbs Roma überraschenderweise kaum als ein zusammenhängender, weit-räumiger oder offener Raum gestaltet.

3.3.2.2 Tempo Großstadt. Schnelle und langsame Bewegungen in der Stadt