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Die Großstadt als erklärter Gegenstand römischer Dichtung

4 Die Großstadt als erklärter Gegenstand

Ein Blick in Überblicksdarstellungen über diejenige Literatur, die in das Bezugs-feld der ersten Großstadt der griechischen Welt, nämlich der Metropole Alexan-dria, gehört,617 lehrt sogar eher das Gegenteil: Denn erstaunlicherweise gilt zwar als besondere literarische Entdeckung dieser Epoche durchaus ein Raum, aber gerade nicht die Stadt, sondern das Land. Womöglich – so wird verschiedentlich vermutet618 – schuf Theokrit, der aus Syrakus stammte, aber auch Alexandria kannte, als Archeget seine ländlichen Idyllen ex negativo, als Kontrast zu einer als Überforderung wahrgenommenen großstädtischen Lebensweise.619 So wäre die Entdeckung des Ländlichen ein antiurbaner Reflex auf eine neue Erfahrungswelt, eine Art literarische Landflucht des Großstadtdichters. Diese weitverbreitete Deu-tung der Entdeckung eines Raumes, mit der eine sehr erfolgreiche europäische Gattungsgeschichte begann,620 wird jedoch von einigen Forschern auch für eine vereinfachende Erklärung gehalten: Nicht der Tadel an einer negativ

617 Hunter (1997), 246: „Von der Dichtung wurde das meiste im 3. Jh. in Alexandria geschrieben oder ist mit Alexandria verbunden.“ Von der Dichtung des 2. und 1. Jahrhunderts v. Chr. ist sehr wenig erhalten.

618 Vgl. Vischer (1965), 126: „In der Bukolik des Theokrit findet man eine Flucht des Großstadt-menschen vor der übersteigerten Zivilisation seiner Zeit und ein Verlangen nach der verlorenen Einfachheit.“ Kolb (2005), 125 f.: „In Verbindung mit der Großstadt Alexandria wird nun aber auch – wohl zum ersten Mal in der Weltgeschichte – der Lobpreis des Landlebens als Kontrast zur städtischen Lebensweise literarisch formuliert. Zwar treffen wir schon im 4. Jahrhundert bei Xenophon und Platon auf eine negative Bewertung eines bestimmten Typs Stadt, wie ihn Athen verkörpert. (…) Das Bewertungskriterium ist hier jedoch moralisch-politischer Art, während in der bukolischen Dichtung das persönliche Glücksgefühl zum Maßstab erhoben wird. Die dort in Gedichten zum Ausdruck kommende Sehnsucht des hellenistischen Großstädters nach grünen Wiesen (…) bezeichnet die Entdeckung der Natur durch den antiken Menschen; möglich wurde dies wohl nur vor dem Hintergrund einer großstädtischen Zivilisation“. Green (2008), 60 f.:

„Theocritus, indeed, presents a virtually new genre, the pastoral or bucolic idyll, a sanitized and idealized version of country matter calculated to appeal to city-based intellectuals and others hankering after the simple life but disinclined to face its harsh realities. In these poems the sun is always shining, and the flocks can seemingly take care of themselves. Mixed in with rustic piping and elegantly bawdy peasant banter is much enthusiastic flattery of Ptolemy: (…) It is essentially city-based.“ Fitter (1995), 40 f.: „Theocritus’ idylls indeed offer ‚milieu studies‘ (…): his land-scapes are always figure-related, always profiled habitat. (…) with Theocritus (…) specificity turns gain, as a ‚poetry of place‘ is born. The Harvest Home (Idyll 7) borrows the device of the bird-catalogue from Homer’s Calypso, and the nightingale singing from the thicket is directly Homeric; but the assiduous naturalism – the accurately reported positioning of the landmarks along the eight kilometer to the Phrasidamus’ farm – and the correct natural history (the rare tomb-crested lark, and the other birds referred to, seem always to have been resident in Cos) embed a paradisal tonality in the closely mapped familiar world.“

619 Reinhardt (1988), 144 stellt fest, dass soziale Probleme des Landlebens, die in der älteren Litera-tur im Zusammenhang mit einem Stadt-Land-Vergleich durchaus eine Rolle spielten, bei Theo-krit ausgeklammert werden.

620 Vgl. Curtius (111993), 191-209, pointiert 195 und 197. Green (1990), 223: „(…) a perennial form of literary and social escapism.“

nen Wirklichkeit, sondern ein antiquarisches Interesse an alten Liedtraditionen könne ebenso zur „Entdeckung des Landlebens“ geführt haben.621

Gewiss ist unser Bild von der hellenistischen Literatur bruchstückhaft und durch die Überlieferung verzerrt.622 Inwieweit Metropolen schon in hellenistischer Zeit Einzug in die Dichtung hielten, kann nur entsprechend der heutigen Überliefe-rungslage konstatiert werden. Aus ihr ergibt sich: Ein gewichtiger Gegenstand der Dichtung war die Großstadt auch in den anderen erhaltenen Werken dieser Epo-che nicht.623 Zwar wählen einzelne Werke bisweilen einen sehr allgemein gehalte-nen städtischen Hintergrund wie die Mimiamben des Herodas624 oder einen städti-schen Schauplatz wie die Komödien Menanders625, doch der städtische Raum steht in diesen Werken nicht im Zentrum.626 Großstadttexte im Sinne Mahlers627

621 Hunter (2003), 491: „(…) the third century saw the creation of at least one new genre in which the construction of nature by art was central. (…) Implicit, then, in this new genre is a literary-historical construction analogous to Aristotle’s tracing of the origin of tragedy and comedy to less formalized song traditions (…), and it is very difficult to accept any simplistic explanation for the emergence of bucolic in a desire to find relief from the pressures of life in the large con-urbations of the Hellenistic world. On the other hand, these poems can, with hindsight, be seen as very significant texts in the history of the imagination of the countryside as a separate space of emotional (…) experience.“ Eine ironische Lesart vertreten Effe/Binder (22001), 17-26, bes. 26:

„(…) die (…) neue Gattung ist bestimmt durch einen ironisch-kritischen Realismus“.

622 Hunter (2003), 477. Vgl auch Green (2008), 60: „Though we need to exercise caution in drawing general conclusions – what survives is no more than a tiny fragment of the whole (…).“

623 Die Suche Hartigans (1979) nach poetischen Auseinandersetzungen mit der Großstadt in der griechischen Gattung Epigramm verlief, was die Präsenz der Großstadt in der Literatur anbe-langt, ebenfalls ergebnislos: „During the Hellenistic period the poet had little contact with the life of the city (…). The poet at the Museum wrote neither about Alexandria nor any contempo-rary site. He wrote about the Classical city, its history, its mythology, its suffering. He had no lit-erary interest in the urban environment of his day.“ Hartigan (1979), 106, vgl. auch 103: „The vast majority of our city epigrams are laments for a fallen city, destroyed by war, by nature, or the ravages of time. Others celebrate the mythology of a site. The physical appearance of city at-tracted some of the epigrammatists.“

624 Die Mimiamben stehen zwar in einem städtischen Kontext, wählen aber in der Überzahl als direkten Schauplatz einen Innenraum. In ihnen finden sich kaum Hinweise zur Physis des Ortes, an dem sie spielen. Gleiches gilt auch für die drei Eklogen Theokrits, die in die Forschung als städtische Mimen eingegangen sind. Werden in ihnen Informationen zur räumlichen Physis ver-geben, wie z. B. in der Ekloge 2, sind sie sehr allgemein. So urteilt Reinhardt (1988), 85 f.: „Eine Stadt, in der es eine Palästra und Festzüge zu Ehren von Gottheiten gibt, verdient zwar sicher die Bezeichnung , um eine Großstadt muß es sich dabei jedoch nicht handeln.“ Das Idyll 15 verlegt als einziges der drei städtischen Eklogen seinen Schauplatz von einem Innenraum hinaus auf die offene Straße.

625 Der städtische Schauplatz in Menanders Komödien wird stets mit Athen gleichgesetzt. Die Wahl des Schauplatzes ist jedoch „nicht mehr an die gesellschaftlichen Gepflogenheiten einer beson-deren Stadt gebunden“. Vgl. Hunter (1997), 254.

626 Bei Apoll. Rhod. ist die Wiedergabe städtischer Siedlungen auffallend unkonturiert. Vgl. Apoll.

Rhod. 1, 234-317; 3, 210-214; 3, 867-890. Dagegen wird der Palast in Kolchis – wohl in Anleh-nung an die Beschreibung des Palastes des Priamos in Hom. Il. 6, 3, 215-247 – ausführlicher be-schrieben. Bemerkenswert ist bei Apollonios die im Hinblick auf die räumliche

Wiedergabetech-haben sich aus dem Bezugskreis von Alexandria nur ausgenommen selten erhal-ten. Vereinzelt leuchten aber bemerkenswert kunstfertige Darstellungen einer großstädtischen Physis grell auf. So imaginiert Theokrit im 15. Idyll, den Adonia-zousen, in einer subjektgebundenen Perspektivierung eine lebendige Momentauf-nahme vom Straßenleben in Alexandria aus der Sicht zweier Frauen628, die sich durch ein aus Menschen bestehendes, ständig veränderndes Gedränge von ihrem Haus aus zu einem Tempel bewegen. Theokrit gelingt es damit bereits, raumspezi-fische Merkmale in einen konkreten Lebenszusammenhang einzubinden und dar-zustellen.629

Für die römische Literatur, vor allem für die der augusteischen und kaiserzeit-lichen Epoche, die im Bezugskreis der antiken Metropole Rom entstand, ergibt sich bereits auf den ersten Blick ein völlig anderes Bild. So unterscheidet sich die Überlieferung an poetischen Texten allein vom Umfang her von denen aus dem Umfeld anderer Großstädte des Mittelmeerraumes. In welcher Weise dabei die Physis eines literarischen Raumes ‚Großstadt‘, einer urbs Roma, in den literarischen Texten erfasst und präsentiert wurde, war Gegenstand des vorangehenden Kapi-tels. Die Auseinandersetzung mit der Großstadt in dieser Literatur geht jedoch noch darüber hinaus. Die Großstadt selbst wird zu einem Gegenstand römischer Literatur.

In einem ersten Teil (4.1) soll zunächst umrissen werden, welche außerliterari-schen Voraussetzungen einen derartigen, nicht selbstverständlichen Reflexions-prozess bedingt haben können: In welchem Zusammenhang könnte eine Ausein-andersetzung der Autoren mit der Großstadt in Gang gesetzt worden sein? Sind

nik ungewöhnliche Vogelperspektive, die von Eros in 3, 164-166 eingenommen wird. Danek (2009) beobachtet bei Apoll. Rhod. in Hinsicht auf die Vielfalt von Schauplätzen eine größere Beschränkung als bei Homer.

627 Vgl. Abschnitt 2.1.

628 Zum emanzipierten Frauenbild in dieser Ekloge vgl. Griffiths (1981), als distanziert-ironische Darstellung kleinbürgerlicher Verhaltensweisen interpretiert bei Effe/Binder (22001), 18 f.

629 Dieses Idyll stellt in der Ausführlichkeit der dichterischen Raumwiedergabe einer Stadt ein Aus-nahmezeugnis der griechischen Dichtung dar. Es wäre wünschenswert, eine genauere Untersu-chung der griechischen Dichtung dahingehend vorzunehmen, die Präsenz und Funktion der ein-zelnen Passagen zu erfassen und zu bewerten: Beispielsweise bietet Kall. frg. 260 (Pfeiffer), 62-67 die akustische Wahrnehmung eines singenden Wasserträgers, knirschender Wagengeräusche auf der Straße und von Knechten in einer Schmiede bei Tagesanbruch. In Herod. 1, 26-33 findet sich unter den sehr heterogenen Bestandteilen, die zum Lob Ägyptens aufgezählt werden, auch die früheste Erwähnung des Museions von Alexandria (v. 31). Vgl. Cunningham (1971), 66 f.

Verstärkte Anspielungen in diesem Text auf Alexandria nimmt Knox (1966), 26-29 an. Barner (22003) zeigt anhand einiger Passagen aus Komödien des Aristophanes, dass auch dort Alltagser-fahrungen der „großen Kleinstadt“ Athen ausgestaltet werden, wie zum Beispiel „das Bild des sich Versammelns“ (ebd., 18). „Den Komödiendichter Aristophanes hat offenbar der initiale Prozeß des Sichversammelns der Athener, das Zusammenströmen fasziniert“ (ebd., 16). Unter-schiede zwischen einer städtischen und einer großstädtischen Darstellung könnten wohl sinnvoller-weise nur in griechischer Literatur herausgearbeitet werden.

biographische (4.1.1) oder geistig-kulturelle (4.1.2) Vorbedingungen auszumachen, die einen Anstoß begünstigt haben? Derartige Überlegungen müssen sehr allge-mein bleiben, da eine Rekonstruktion individueller Beweggründe auf der Basis der uns heute noch vorliegenden Informationen nicht mehr möglich ist. Das Zusam-mentragen der Informationen dient somit vor allem, um einen Spielraum abzu-messen, in dem sich jeder einzelne Autor bewegen konnte.

In einer praefatio zu einem Gedichtband, einem Ausnahmezeugnis für die römische Literatur, äußert sich der kaiserzeitliche Autor Martial über die Entstehungsbedin-gungen seiner Literatur. Diese werkexternen Aussagen erlauben es, für sein Œuvre exemplarisch zu plausibilisieren, dass der Schritt zu einer Poetisierung der Groß-stadt und des GroßGroß-stadtdichters in römischer Literatur tatsächlich vollzogen wur-de (4.1.3).

Im Zentrum des zweiten Teils dieses Kapitels (4.2) stehen ausgewählte poetisierte Reflexionen verschiedener Autoren, in denen als ein Gegenstand von Literatur das Verhältnis von Dichtersein und Großstadt ausgelotet wird.

4.1 Voraussetzungen der Großstadtdichtung

4.1.1 Rom als Lebenswirklichkeit. Biographien in der Großstadt

Über die Lebenswege und -umstände vieler römischer Dichter der augusteischen und kaiserzeitlichen Epoche wissen wir in der Regel nicht viel mehr, als was in ihren eigenen Werken als biographische Offenlegung von Interpreten vermutet wurde. An prominenten Stellen, so insbesondere in Abschlussgedichten ihrer Bü-cherzyklen, haben einige Autoren die in griechischer Literatur verbreitete Ange-wohnheit übernommen, eine kurz gehaltene autobiographische Skizze einzubet-ten, nicht zuletzt, um die vorangehenden Bücher urheberrechtlich zu schützen und als ihr geistiges Eigentum auszuweisen. Vergleicht man diese sogenannten Sphragides630 untereinander sowie andere als biographische Quellen anerkannte Belege, sticht eine bemerkenswerte Gemeinsamkeit in der Lebensgeschichte vieler Autoren ins Auge: Die von heute aus noch in ihrem Werk greifbaren Dichter waren in der Minderheit gebürtige Stadtrömer, sie kamen vielmehr aus dem Ge-biet des heutigen Italien – das damals aus unterschiedlichen Kulturräumen be-stand631 – und aus den römischen Provinzen zur höheren Ausbildung in die

630 Die Bezeichnung sphragís für den persönlichen Teil eines Gedichtes resp. einer Gedichtsamm-lung stammt vermutlich von Terpander (um 675 v. Chr.). Vgl. Hans Armin Gärtner, s.v. Sphragis, in: DNP (2001), Bd. 11, 819. Ausführlich zu den Sphragides vgl. Kranz (1967).

631 Vgl. Henning Wrede, Die Funktion der Hauptstadt in der Kunst des Prinzipats, in: v. Hesberg (1995), 34.