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Gefährliche Enge I. Entgrenzungen von innen nach

3 Der literarische Raum Großstadt in der augusteischen und

3.5 Innere Strukturen. Raumnot in der literarischen Großstadt

3.5.1 Dichte Bebauung

3.5.1.1 Gefährliche Enge I. Entgrenzungen von innen nach

Das Epigramm Martials 7, 61 widmet sich monothematisch einer inneren Struk-tur, die – der Illusionsbildung gemäß – der gesamten literarischen urbs Roma (totam

… urbem, v. 1) zukommt.

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Abstulerat totam temerarius institor urbem inque suo nullum limine limen erat.

iussisti tenuis, Germanice, crescere vicos, et modo quae fuerat semita, facta via est.

nulla catenatis pila est praecincta lagonis nec praetor medio cogitur ire luto, stringitur in densa nec caeca novacula turba

occupat aut totas nigra popina vias.

tonsor, copo, cocus, lanius sua limina servant.

nunc Roma est, nuper magna taberna fuit.513

Als innere Struktur wird eine äußerst beengte Bebauungssituation mit der Feststel-lung vergegenwärtigt, dass die Grenzen der Häuser (limen, v. 2) sich nach außen verschoben und den Eigenort der Straßen für sich vereinnahmt haben (inque … nullum limine limen, v. 2). Die Perspektive auf diese innere Struktur ist folglich vom öffentlichen Straßenraum aus: Die angrenzenden Wohn- und Arbeitsgebäude ver-engen, beschneiden, beseitigen sogar (Abstulerat totam temerarius institor urbem, v. 1) den städtischen Raum.

Eine derartige räumliche Entgrenzung gehört, wie die Tempora von Beginn an zeigen, einer jüngeren Vergangenheit an (nunc … nuper, v. 10) und ist daher genau genommen die innere Struktur eines zeitlichen Fernraums (temporally distant frame), der in dieser Weise auch einen Kontrastraum zum gegenwärtigen Schauplatz dar-stellen soll. Die räumlichen Gegensätze werden durch kontrastreiche Gattungsbe-zeichnungen für Straßentypen und eine entsprechende Attribuierung vor Augen geführt: Die literarische urbs Roma der Vergangenheit enthielt Straßen von gerin-gem Umfang (tenuis vicos, v. 3; semita, v. 4); im literarischen Raum der Gegenwart sind diese schmalen Fußwege zu breiten Fahrwegen (facta via est, v. 4) geworden.

Der Sprecher widmet den einst beengten Verhältnissen einen weiteren Abschnitt (v. 5-8). Mittels vier räumlicher Eindrücke – erneut vom öffentlichen Straßenraum aus gewonnen – werden diese ausgestaltet: Als erstes wird die Außenansicht von Häusern beschrieben: Pfeiler (pila, v. 5), die die Grenze zwischen Häusern und Straße repräsentieren, trugen zur Vergrößerung des Eigenortes der Häuser bei, indem sie mit Weinkrügen behängt wurden (catenatis … praecincta lagonis, v. 5). Als zweites beschreibt der Sprecher die räumliche Situation auf der Straße: Ein praetor geht in der Mitte der Straße, auf die hier über ihre Beschaffenheit (luto, v. 6)

513 Mart. 7, 61, 1-10.

spielt wird. Dass der Bewegungsumfang der Figur eingeschränkt ist und sich auf beiden Straßenseiten Bewegungshemmnisse befinden, legt die passive Formulierung und die Akzentuierung der Straßenmitte (medio cogitur ire luto, v. 6) nahe. In der nächsten Szene geht ein Barbier seiner Arbeit auf offener Straße nach. Der Raum, den der Barbier in Anspruch nimmt, wird über seine – wenig ausladende – Hand-bewegung bei der Benutzung eines Rasiermessers (stringitur, v. 7) angedeutet: Die Bewegung der Hand, an deren Ende das Messer ist, beschreibt seinen maximalen Bewegungsumfang. Das unbekümmerte Ausüben seines Handwerks mit einem Messer wird jedoch als ein Risiko für die anderen eingeschätzt. Denn er teilt sich den zur Verfügung stehenden öffentlichen Straßenraum mit einer anonymen Menschengruppe unbekannter Zahl (in densa … caeca novacula turba, v. 7). Die räumlichen Abstände innerhalb der Menschenmenge sind so beschaffen, dass man sich auf Armeslänge nahe kommt. Der letzte räumliche Eindruck wird als ein Para-doxon gestaltet: Es heißt, der natürlicherweise größere Eigenort – nämlich der einer via514 – ist von einem als kleiner geltenden Eigenort – nämlich dem einer popina – vollständig vereinnahmt worden515 (occupat … totas popina vias, v. 8). Neben dem Ausmaß der Entgrenzung deutet dieses Bild darauf hin, dass der offene Stra-ßenraum nun auch Eigenschaften eines geschlossenen Innenraums aufzeigt.

Die Pointe von Martials Epigramm liegt jedoch gerade darin, dass diese vermittel-te innere Struktur den eigentlichen Verhältnissen einer livermittel-terarischen urbs Roma nicht entspricht. Ein Mangel an öffentlichem Straßenraum kommt einem Raum, der urbs Roma genannt werden soll, explizit nicht zu, sondern stellt, so der Sprecher, geradezu einen Verlust ihres räumlichen Charakters dar. Ihre eigentliche innere Struktur ist in der Gegenwart des Sprechers durch das Eingreifen des direkt ange-sprochenen Germanicus wieder hergestellt: Die öffentlichen Straßen sind breit und die Grenzen werden gewahrt (sua limina servant, v. 9); stadtrömischer Raum (nunc Roma est, v. 10) ist wieder deutlich erkennbar.

Eine andere Beurteilung dessen, was als innere Struktur dem Gesamtraum urbs Roma zukommt, findet sich in der dritten Satire Juvenals. Der Sprecher dieser Satire, Umbricius, berichtet von einem vergleichbaren Betrachterstandpunkt aus von der räumlichen Situation einer beliebigen Straße in der Großstadt.

Respice nunc alia ac diversa pericula noctis, quod spatium tectis sublimibus unde cerebrum 270 testa ferit, quoties rimosa et curta fenestris

514 Ich verstehe vias als poetischen Plural.

515 In welcher Form man sich die Raumnahme der Kneipe vorzustellen hat, geht aus dem Text nicht hervor. Galán Vioque (2002), 357 f. denkt auch an eine olfaktorische Okkupation und nennt verschiedene Belegstellen. Der Duktus des Epigramms legt aber m. E. eine konkrete Ver-einnahmung der Straße durch Objekte nahe. Handelt es sich nach Ansicht des Sprechers bei den beengten Verhältnissen doch um eine magna taberna.

vasa cadunt, quanto percussum pondere signent et laedant silicem. possis ignavus haberi et subiti casus improvidus, ad cenam si intestatus eas; adeo tot fata quot illa 275 nocte patent vigiles te praetereunte fenestrae.

ergo optes votumque feras miserabile tecum, ut sint contentae patulas defundere pelves.516

Der räumliche Mittelpunkt dieser Passage besteht aus einem Ensemble, das eben-falls aus einer Straße besteht, die implizit über das Straßenpflaster (silicem, v. 272) angedeutet ist, und aus Mietshäusern, die implizit durch ihre Grenzen (tectis, v.

269; fenestris, v. 270; fenestrae, v. 275) umschrieben werden. Eine mit ‚du‘ exem-plarisch vorgestellte Figur bewegt sich an diesen Gebäuden vorbei (praetereunte, v.

275). Von der Existenz der Gebäude und der strukturell als Nebenraum gestalte-ten Innenräume der Häuser wird der Stadtgänger durch taktile (cerebrum/ testa ferit, v. 269 f.), visuelle (rimosa et curta/ … vasa cadunt, … signent/ et laedant, v. 270-272) und akustische (percussum, v. 271) Stimuli multisensuell in Kenntnis gesetzt.

Gleichzeitig wird mittels dieser mobilen Objekte die vertikale Achse der Häuser herausgestellt. Ihre Höhe, die explizit als hoch charakterisiert ist (tectis sublimibus, v.

269), wird durch die von den Objekten zurückzulegende Wegstrecke (quod spatium

… unde/ … ferit, v. 269 f.) und die damit verbundene Wucht ihres Aufpralls (quanto percussum pondere signent/ et laedant silicem, v. 271) noch zusätzlich sensuell veran-schaulicht.517

Der Abstand, den man auf der Straße zu den Gebäuden einnehmen kann, ist nicht allzu groß518, da es zu großen Überschneidungen der beiden Bereiche kommt. Die Anwohner weiten ihren Wohnraum (Nebenraum) auf die Straße (Schauplatz) aus, insofern sie Gegenstände (mobile Objekte) von den Fenstern aus (fenestrae, v. 275) dorthin entsorgen. Daraus entstehen für die Wahrnehmungsinstanz auf der Straße (te pratereunte, v. 275) unmittelbar Gefahren für den eigenen Körper, den Eigenort des Individuums (cerebrum, v. 269), die sogar als lebensbedrohlich eingeschätzt werden (si/ intestatus eas, v. 273).

Entsprechend dem Duktus dieser Passage stellt diese beispielhaft präsentierte Be-bauungssituation eine innere Struktur dar, die vom Leser im Sinne eines pars pro

516 Iuv. 3, 268-277.

517 Auch die Erwähnung der Fenster (vgl. Iuv. 3, 270, 275) ist ein impliziter Hinweis auf die Höhe der Häuser. Vgl. dazu Braund (1996), 221.

518 Ein mögliches Ausweichen des Fußgängers – etwa in die Mitte der Straße – wird nicht in Be-tracht gezogen. Vielmehr wird ein Passant als unbedacht und unvorbereitet (possis ignavus haberi/

… improvidus, Iuv. 3, 272 f.) bezeichnet, der sich auf diese regelhaften Gefahren nicht durch das Verfassen eines Testaments eingestellt hat. Zu Gefahren, die unmittelbar mit einer Bausubstanz des literarischen Raums urbs Roma verbunden sind, vgl. auch Iuv. 3, 6-9: nam quid tam miserum, tam solum vidimus, ut non/ deterius credas horrere incendia, lapsus/ tectorum assiduos ac mille pericula saevae/ urbis (…). Die andauernden Brände und Einstürze setzen die entsprechende Bebauungsdichte voraus.

toto auf den gesamten literarischen Raum bezogen werden soll. Denn die Häufig-keit solcher Ereignisse (quoties, v. 270; tot … quot, v. 273) und die als Resümee zu verstehende Formulierung adeo tot fata quot illa/ nocte patent vigiles te praetereunte fenes-trae (v. 274 f.) weisen den gesamten Bewegungsbereich auf horizontaler Achse als beengt, auf sagittaler Achse aber als ausgedehnt aus.

Die dichte Bebauung als eine innere Struktur wird in beiden Textpassagen glei-chermaßen an beispielhaften räumlichen Ensembles veranschaulicht, die aus Häu-serfronten und Straßen bestehen. Im Mittelpunkt steht die Benutzung des öffent-lichen Raumes für Passanten, deren Bewegungsumfang durch die variantenreich dargestellte räumliche Konstellation immer wieder beeinträchtigt ist. In beiden Texten fehlt ein genauerer referentieller Bezug zum Georaum des antiken Roms, womit sich beide Autoren einer genauen Nachprüfbarkeit ihrer räumlichen Aus-gestaltung durch einen Leser entziehen. Daraus ergibt sich für sie die Möglichkeit, die Frage, wie repräsentativ die abgebildete innere Struktur für den Gesamtraum ist, so gegensätzlich zu bewerten.