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Verbale Wiedergabe räumlicher Eigenschaften

2.2 Die Analyse räumlicher Physis in narrativen Texten

2.2.2 Verbale Wiedergabe räumlicher Eigenschaften

Der allein über Substantive und Adjektive wiedergegebene Raumeindruck ist aus-gesprochen subjektiv und darüber hinaus auch kulturell oder historisch variablen Vorstellungen unterworfen. Mit den Überlegungen im Abschnitt 2.1.1 wurde be-reits vorgeführt, welche unterschiedlichen Vorstellungen sich im Laufe der Zeit mit dem Substantiv urbs verbanden.

Mit dieser Gruppe von Referenzen wird folglich ein großer Problembereich der literarischen Kommunikation zwischen Autor und Leser bzw. zwischen Erzähler und intendiertem Rezipienten berührt: Da jede räumliche Gegebenheit in narrati-ver Dichtung ein rein semantisches Konstrukt ist, das sich einer direkten Wahr-nehmung des Lesers entzieht, bedarf sie beständig und in besonderer Weise einer erzählerischen Vermittlungsinstanz, auf deren Wahrnehmung oder Beschreibung der Leser seine Vorstellung vom Raum zurückführen kann. Fehlen eingehende Veranschaulichungen, können mangelndes Vorwissen des Lesers oder unter-schiedliche kulturelle Vorstellungen angemessene Rückschlüsse auf die Dimensio-nierung eines literarischen Raumes mitunter gewaltig erschweren, etwa wenn be-stimmte Sachverhalte nicht für die Konstitution einer fiktiven Welt abgerufen werden können. Es bedarf daher „der Reflexion über die historische und kulturel-le Bedingtheit und Variabilität dessen, was als Wirklichkeit aufgefasst wird“.141 Auf ein weiteres Problem hat u. a. Willenbrock (1969) in seiner Studie zum home-rischen Epos aufmerksam gemacht. Er zeigt, wie die Erwähnung bestimmter Ge-genstände (Webstuhl) bereits ausreicht, um zur Vorstellung eines Raumes zu gelan-gen, ohne dass der Raum selbst durch ein entsprechendes Substantiv genannt wird.142 Das bedeutet, dass unter bestimmten Umständen substantivische Refe-renzen gleichzeitig implizit auf einen sie umgebenden Raum verweisen können.143 Die räumliche Information Penelope hielt sich am Webstuhl auf führt laut Willenbrock dazu, dass der Leser die Erwähnung des Webstuhls zum Anlass nimmt, sich einen entsprechenden Raum um Penelope und den Webstuhl herum dazu zudenken.

Auch Ronen (1986) weist in ihren theoretischen Ausführungen zum literarischen Raum darauf hin, dass räumliche Gegebenheiten (Zimmer, Garten, Stadt) in erzähle-rischen Texten häufig nicht explizit benannt werden, sondern durch sogenannte

‚implizite Referenzen‘ ersetzt werden, aber der gemeinte Raum vom Leser

(2009), 77 erheben jedoch für ihre Systematisierungen ausdrücklich keinen Anspruch auf Voll-ständigkeit.

141 Zipfel (2001), 87. Er bezeichnet diese Reflexion im Anschluss an Margolin als Prinzip der allge-meinen Überzeugung (mutual belief principle). Vgl. auch Zapf, H.: s.v. Intersubjektivität, in: Nün-ning (32004), 299 und Schulte-Sasse/Werner (1994), 108. Die Interaktion zwischen Autor und Leser wird gemeinhin anhand eines Kommunikationsmodells erklärt, wobei – grob formuliert – dem Autor die Rolle des Senders und dem Leser die Rolle des Empfängers zugeschrieben wird.

Vgl. das Modell bei Schmid (22008), 43-112.

142 Vgl. Willenbrock (1969), bes. 31-38.

143 Dieser Erkenntnis wurde sich bereits im Abschnitt 2.1 bedient, als behauptet wurde, dass die Erwähnung von typischen Merk- und Wahrzeichen (Louvre, Hudson River, Big Ben) ausreiche, um auf die gemeinte Großstadt (Paris, New York, London) schließen zu können.

erkannt wird.144 Solche impliziten Referenzen wären für einen explizit als domus bezeichneten Raum zum Beispiel eine Schwelle (limen)145 als Grenze eines städti-schen Hauses oder das Atrium (atrium) als typischer Bestandteil aus dem Inneren einer domus. Folgt man diesen Ausführungen, ist es demnach zulässig, auf mehrere Häuser (domus) im literarischen Raum zu schließen, ohne dass sie explizit genannt werden, wenn in einer Passage lediglich von mehreren Atrien (atria) oder Schwel-len (limina) die Rede ist.

Neben dem komplexen Alltagswissen, das mit derartigen impliziten Referenzen vom Leser erwartet wird, ergibt sich aus diesem einsichtigen Postulat noch ein weiteres, aber gewichtiges Problem der Hermeneutik. Man kann sich bei jeder substantivischen Referenz fragen, ob sie im konkreten Falle metonymisch oder eigentlich gebraucht wird, wobei der Entscheidungsspielraum wesentlich von weiteren textlichen Indizien abhängt. So können gerade entsprechende Substanti-ve, die auf Grenzlinien oder Ränder referieren, gewählt worden sein, um ihren limi-nalen Charakter in den Vordergrund zu stellen, d. h., die Unterbrechung des räumlichen Zusammenhangs und eine Unterscheidung zwischen außen und innen zu betonen.

Man muss daher nach weiteren Indizien Ausschau halten, ob die Referenz eine Begrenzung anzeigen oder die Funktion einer Metonymie übernehmen und somit auf einen umfassenderen Raum verweisen soll.

Eine einzelne substantivische und adjektivische Referenz muss als eine sehr geringe räumliche Ausgestaltung gewertet werden. Häufen sich derartige Referenzen, so ist es darstellerisch zwar immer noch eine schlichte, aber signifikantere Form der Präsenz. Gerade die lexikalisch manifestierte „subjektive Eindeutigkeit“ der Ei-genschaftswörter – etwa die Behauptung, die urbs Roma sei eine besonders große Stadt – sollte zum Anlass genommen werden zu untersuchen, inwieweit derartige räumliche Eigenschaften auch ausgestaltet und in den Lebenszusammenhang der Figuren gesetzt werden.146

144 Vgl. Ronen (1986), 422. Dem Leser genügt laut Ronen eine Referenz auf einen typischen Gegen-stand (ein Bett, ein Blumenbeet, das Theater) oder eine Referenz auf die Grenze eines Raumes (eine Gardine, ein Zaun, ein Stadttor), um zu wissen, welcher Raum gemeint ist. Dennerlein (2009), 95 weist darauf hin, dass auch der Hinweis auf Ereignisse und Handlungen, die typischerweise mit be-stimmten Räumen verbunden werden, wie z. B. predigen als typische Handlung für eine Kirche oder kochen als typische Handlung für die Küche, es ebenfalls zulässt, Rückschlüsse auf die ge-meinte räumliche Gegebenheit zu ziehen, wie auch Figuren, deren Rollenidentität konkrete Räu-me voraussetzen, da „man sich normalerweise [in ihnen] befindet, wenn man die Rolle ein-nimmt“, z. B. der Kellner als typische Rollenidentität für das Restaurant. Dennerlein ergänzt Ro-nens Ausführungen darüber hinaus um den Hinweis, dass der Leser idealerweise in der Lage sein müsse, derartige Rückschlüsse auch dann zu ziehen, wenn die gemeinten räumlichen Gegeben-heiten vorher noch nicht im Text explizit genannt wurden. Diese Rückschlüsse seien ihm möglich, da er über ein komplexes Alltagswissen verfüge.

145 Zur Funktion der Schwelle als Trennung zwischen Haus und Straße bei einer städtischen domus vgl. Kunst (2006), 69.

146 Vgl. dazu die Ausführungen im Abschnitt 2.2.3.3.

2.2.2.2 Positionierung und Direktionalisierung. Die Entstehung von Räumlichkeit

Eine weit realistischere Raumvorstellung ergibt sich, wenn einzelne Objekte, Be-reiche oder Figuren zueinander positioniert werden, wenn ersichtlich wird, was sich vor, hinter oder neben räumlichen Objekten befindet. Vorrangig geschieht dies lexi-kalisch mit Präpositionalphrasen (am Haus, hinter dem Baum, südlich von Rom), Ad-verbien (hier, oben, vorn) oder mit entsprechenden adverbialen Nebensätzen. Solche Referenzen fasst Vater (1991) unter dem Begriff statische Raumreferenz oder Positionierung zusammen.

Die Verwendung statischer Raumreferenzen wie hier, rechts von, oben zeigt die Ab-hängigkeit von einer räumlichen Position der Vermittlungsinstanz. Dennerlein (2009) bezeichnet diese subjektiven, da standortabhängigen Angaben als ‚deikti-sche Referenzen‘.147 Davon grenzt sie standortunabhängige Referenzen ab (auf dem Tiber, in/an/bei etwas, zwei Meilen weiter) und bezeichnet sie als ‚absolute Refe-renzen‘.148 Da letztere objektiv nachprüfbar scheinen, erzielen sie einen enormen Realismuseffekt bei einer Raumdarstellung.

Werden einzelne räumliche Gegebenheiten innerhalb eines Raumes zueinander positioniert, werden gleichzeitig Informationen über seine physische Gesamtgestalt vergeben. Diese kann aber auch durch eine weitere Gruppe raumreferentieller Ausdrücke veranschaulicht werden, die nämlich auf die Verlagerung einer Figur oder Objektes von einem Ort an den anderen verweisen, wie ins Haus, nach Rom oder hierher. Diese Gruppe nennt Vater dynamische Raumreferenz oder Direkti-onalisierung.149 Durch die Verlagerung werden zwei räumliche Gegebenheiten als Anfangs- und Endpunkt der Bewegung miteinander verknüpft. Damit entsteht eine Vorstellung über die Struktur oder die Ausdehnung des Gesamtraums, da der Leser mit der Figur von einem Bereich zum anderen voranschreitet, verschiedene Bereiche miteinander verknüpft oder in einer bestimmten Reihenfolge abschrei-tet.150

147 Dennerlein (2009), 78 und 209. Grabowski (1999), 116-124.

148 Vgl. dazu ausführlich Dennerlein (2009), 78 f. und 209.

149 Vgl. Vater (1991), 42-47. Vater (ebd., 45 und 47) zählt zu den raumreferentiellen Ausdrücken als Art einer Positionierung und Direktionalisierung auch Verben wie liegen, stehen, stecken (Positio-nierung) und legen, stellen, fahren (Direktionalisierung).

150 So verlässt Penelope die räumliche Umgebung des Webstuhls von oben, um in die Halle mit den Freiern nach unten zu gelangen, beide Räume befinden sich innerhalb des Palastes des Odysseus, der Palast wiederum befindet sich in einiger Entfernung zur Hütte des Eumaios, beide aber auf der Insel Ithaka. Troja, Scheria und der Aufenthaltsort des Polyphem dagegen sind nicht an-grenzende Umgebungen, sondern im Gegenteil besonders entfernt liegende räumliche Gege-benheiten. Aus einer entsprechenden Anordnung der verschiedenen Stationen der Irrfahrt, von Troja, Scheria und Ithaka, aber auch von kleineren Gegebenheiten wie dem Palast des Alkinoos oder dem Schafstall des Polyphem ergibt sich die, wenn auch mitunter vage räumliche Vorstel-lung der Lagebeziehung aller räumlichen Gegebenheiten der Odyssee. Vgl. auch Ronen (1986), 421. Vgl. dazu ausführlicher Abschnitt 2.2.3.2.

Eine Besonderheit der lateinischen Sprache liegt darin, dass mithilfe rein grammati-kalischer Mittel, nämlich entsprechender Kasus (Ablativ, Lokativ, Akkusativ), räum-liche Vorstellungen erzeugt werden können.151

Auf derartige lexikalische und grammatikalische Referenzen greift jeder narrative Text zur Raumdarstellung zurück, sei er fiktional oder nicht-fiktional. Ihr Einsatz entscheidet über die Anschaulichkeit und die Realitätswirkung einer Raumwieder-gabe. Das Spektrum zeigt sich besonders frappierend bei einem Vergleich einer alleinigen aufzählenden Darstellungsweise substantivischer Referenzen mit derje-nigen, die durch Positionierungen und Direktionalisierungen eine Nach- bzw.

Abbildung einer räumlichen Gegebenheit vermittelt.152 Eine Aufzählung reiht verschiedene räumliche Phänomene aneinander. Geräusche, Gerüche oder Ge-genstände, mit denen der Raum angefüllt ist, werden benannt und aufgezählt, in welcher räumlichen Beziehung sie jedoch zueinander stehen, bleibt ohne konkrete räumliche Zuordnung. Bei dieser Form der Präsentation erhält der Leser einen Eindruck von einer Vielfalt innerhalb eines Raumes, aber keinen räumlichen Ein-druck im eigentlichen Sinne.153 Im Gegensatz dazu versteht Jäger (1998) unter Nach- bzw. Abbildung eine Darstellung von zwar ebenfalls simultan im Raum

151 Vgl. Ernout/Thomas (1972), 106: „Le Latin exprime les relations spatiales (…) avec un impor-tant matériel de formes casuelles employées seules et de tours prépositionnels, sans d’ailleurs éliminer tout flottement.“ Sie unterscheiden die Fragen nach dem Ort auch entsprechend der Unterscheidung von Vater nach sans mouvement und avec mouvement. Zum Akkusativ der räumli-chen Ausdehnung vgl. Kühner/Stegmann (1912), 282-284, zum Ablativ als Bezeichnung des räumlichen Wo, als Vertreter des Lokativs, und zum Ausdruck des Raumes, über den sich eine Bewegung erstreckt, vgl. ebd., 348-355 und zum räumlichen Woher und dem Verhältnis der Ent-fernung von einem Ort, ebd., 361-375. Zum Dativ zur Angabe eines Ziels in der Dichtersprache, vgl. ebd., 320.

152 Jäger (1998) führt in einer Studie verschiedene Verfahren zur Wiedergabe von Räumen in narra-tiver Literatur ein. Er unterscheidet das Nennen, das Sagen, das Aufzählen, das Nach- bzw. Ab-bilden und das Umdeuten. Vgl. Jäger (1998), 23. Als sechstes Verfahren erwägt Jäger die Erörte-rung (Reflexion, reflektorische Behandlung), „bei der die verschiedenen Aspekte der Wirklich-keit, deren Komponenten und das Verhältnis des Betrachters zu seiner Umgebung gedanklich verarbeitet werden. Doch wird sie dabei nicht eigentlich ‚dargestellt‘ oder ‚wiedergegeben‘.“

Nünning (2009), 45 konstatiert, „dass damit das Spektrum narrativer Techniken der Raumdar-stellung noch nicht erschöpft“ sei. Zur Entwicklung der RaumdarRaumdar-stellung vom bloßen Nennen zur ausführlichen Wiedergabe am Beispiel des Waldes vgl. Stauffer (1959), 17, 166, 169 f., 174 f.

153 Die Darstellungsform der Aufzählung wird verschiedenartig interpretiert: „Man kann sie als Aus-druck dafür ansehen, daß die Fülle der Erscheinungen den Aufnehmenden überwältigt, aber ebenso dafür, daß er ihrer dadurch Herr zu werden versucht, daß er sie in Einzelheiten zerlegt und dergestalt ‚bannt‘. Daneben ist zu bedenken, daß es das traditionelle Mittel der enumeratio gibt, dessen Herkunft und Symptomcharakter schwer zu bestimmen sind.“ Jäger (1998), 229. Als Gründe für die Wahl dieser Technik werden auch „die Freude am Wortklang und Malen“, „das stete Kreisen um denselben, meist unaussprechlichen Gedanken“ oder „die Fülle des Lebens auszudrücken“ angeführt. Vgl. ebd., 227, Fn. 26. Bal (32009), 138 meint, räumliche Objekte be-stimmten die Befüllung des Raumes durch ihre Form, ihre Maße und ihre Farbe. Ein unordentli-ches Zimmer wirke kleiner, ein Raum mit wenigen Möbeln größer. Aber auch die Art, in der Objekte in einem Raum angeordnet sind, habe Einfluss auf die Wahrnehmung des Raumes.

vorhandenen räumlichen Objekten und Figuren, die aber durch kontrastreiche Referenzen wie hier-dort, nah-fern, hell-dunkel, links-rechts oder eng-weit einan-der zugeordnet werden. Durch einan-derartige Referenzen werden die räumlichen Ver-hältnisse zwischen Objekten untereinander und Figuren in vielfältige Beziehung gesetzt, strukturiert und hierarchisiert. Erst bei einer solchermaßen mimetischen Darstellung ist nach Jäger „in strengerem Sinne von Raum und von Räumlichkeit zu reden“.154 Denn es entsteht eine im bildkünstlerischen Sinn visuell vermittelte Räumlichkeit, „was worüber hinweg gesehen, was wodurch teils halb verborgen, teils ganz verdeckt wird, was sich vor etwas Weiteres schiebt usw.“155 Die visuelle Raumkomposition kann durch Geräusche, Gerüche, die stärker oder schwächer werden oder von verschiedenen Seiten auf die ‚Wahrnehmungsinstanz‘ einströ-men, oder durch taktile Wahrnehmungen ergänzt oder ersetzt werden.156 Die so präsentierte räumliche Gegebenheit ist damit nicht nur durch eine detailreiche Fülle gekennzeichnet, sondern sie wird in ihrer eigentlichen räumlichen Gestalt, ihrer Dreidimensionalität dargestellt.157 Die unterschiedlichen Verfahren bestim-men damit maßgeblich den Realismuseffekt narrativer Raumwiedergabe158 und sind in Bezug auf literarische Texte folglich vor allem ein stilistisches Merkmal.