• Keine Ergebnisse gefunden

3 Der literarische Raum Großstadt in der augusteischen und

3.5 Innere Strukturen. Raumnot in der literarischen Großstadt

3.5.3 Auswertung

Zusammenfassung

Die intensive Nutzung von öffentlichem Raum wird anlässlich einmaliger, vom Duktus her herausragender, Ereignisse ebenso beschrieben wie als eine alltägliche Erfahrung innerhalb der literarischen urbs Roma. Dabei tritt neben die direkte At-tribuierung und die Wahl von Referenzen auf kollektive Formierungen von Men-schen eine lebendige Ausgestaltung räumlicher Dichte.

Eine Lokalisierung derartiger Bewegungsbereiche in einem innerstädtischen Ver-kehrsnetz der literarischen urbs Roma findet allenfalls vage statt. Es fehlt der Hin-weis auf weitere städtische Teilelemente oder topographische Wahr- und Merk-zeichen, an denen die Wegstrecken entlangführen. Es handelt sich daher um zona-le Schauplätze mit in erster Linie städtischem Charakter. Gründe für die intensive Nutzung, etwa eine besondere Straßenführung oder die Konzentration wichtiger Eigenschaften, werden nicht angeführt. Die vorausgesetzte Bewegung aller Betei-ligten charakterisiert diese Bereiche daher jeweils als einen großräumigen Knoten-punkt im Sinne einer intensiven Nutzung durch eine innerstädtische Mobilität.

Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass jeder Hinweis auf ein weiterführen-des Straßennetz von Haupt- und Nebenstraßen, in dem die Figuren navigieren könnten, fehlt. Für die Wahrnehmungsinstanz ergibt sich die Begegnung mit die-sem widerständigen Bewegungsbereich gemäß der Illusionsbildung vielmehr alter-nativlos und zwingend, der iterative Erzählmodus stellt die Eigenschaften des

‚transitorischen Raums‘ als eine typische innere Struktur dar.

Dargestellt wird der Bewegungsbereich als ein auf mehreren Achsen dichter und widerständiger Raum. Zur räumlichen Vermessung der Dichte – weniger zur Wahrnehmung räumlicher Verdichtung – wird wiederholt die taktile Wahrneh-mung genutzt, die Auskunft über die Abstände, den Grad des Widerstands und über Varianz und Heterogenität des Bewegungsbereichs gibt. Der Einzelne befin-det sich dabei inmitten einer unbekannten Vielzahl von Menschen, von denen er visuell trotz des geringen Abstands kaum individuelle Merkmale wiedergibt. Trotz ausgewiesener Kontaktbereiche werden keine persönlichen Bindungen unter den Nutzern des öffentlichen Raums sichtbar. Es handelt sich um einen Bereich von vorwiegend anonym handelnden Akteuren, inmitten derer allein über die Gefah-ren, die sich für das Individuum aus der räumlichen Situation heraus ergeben, re-flektiert wird. Im Mittelpunkt steht folglich die Betrachtung und Wahrnehmung eines räumlichen Merkmals in seinem direkten Lebenszusammenhang, das in sei-nen Eigenschaften als typisch für die innere Struktur einer urbs Roma präsentiert wird.

kaiser-zeitlichen Dichtung, die gattungsübergreifend sowohl an (1) innerstädtischen räumlichen Ensembles als auch (2) durch Konzentrationspunkte veranschaulicht wird. In einem direkten Lebenszusammenhang zeigt sich diese innere Struktur wiederholt als mangelnder Bewegungsfreiraum für Passanten oder fehlende Rück-zugsmöglichkeiten für die Anwohner.

(1) Beengte Verhältnisse aufgrund einer städtischen Bebauungssituation treten überwiegend im Zusammenhang mit einem öffentlichen Straßenraum und unmit-telbar angrenzenden städtischen Teilelementen – Wohn- und Arbeitsgebäuden – ins Bewusstsein, wobei der Straßenraum einerseits als Schauplatz, andererseits aber auch als Nebenraum eines ihm benachbart liegenden Innenraums in den Vordergrund der räumlichen Wahrnehmung rückt. Eine Raumvermessung erfolgt nicht metrisch und auch nicht – wie es vielleicht naheliegender wäre – über den Abstand der auf beiden Seiten die Straße begrenzenden Gebäude. Der für die Figu-ren zur Verfügung stehende Raum wird vielmehr durch vielfältige Gattungsbe-zeichnungen von Straßentypen in seinen räumlichen Ausmaßen unterschieden und eine beengte innere Struktur tritt in Form von stehenden und mobilen Objek-ten als visuell und taktil wahrgenommenes Bewegungshemmnis den PassanObjek-ten in den Weg. Besonders die körpernahe Raumvermessung erzeugt dabei die Wieder-gabe einer beengten inneren Struktur.Eine variantenreiche, aber eben auch dicht bebaute räumliche Umgebung nehmen die Anwohner dagegen vornehmlich audi-tiv wahr, da sie sich in privaten Innenräumen aufhalten, wo sie der visuellen und taktilen Wahrnehmung des öffentlichen Raums entzogen sind.

Zur Vorstellung einer inneren Struktur führt des Weiteren die Darstellung von Grenzüberschreitungen, wobei sowohl Innenräume auf einen öffentlichen Raum übergreifen als auch öffentlicher Raum in einen privaten Innenraum eindringt.

Ähnlich wie bei den Prozessen der Verstädterung an den Grenzen der literari-schen urbs Roma (vgl. Abschnitt 3.4.3) werden im Inneren Prozesse seiner Aus-dehnung beobachtet, wobei jeweils der Standort des Sprechers derjenige ist, an dem der Verlust an Raum beobachtet wird.

Auffälligerweise werden trotz einer derartigen Beengtheit und durchlässiger Gren-zen die ‚Ensembles‘ gerade nicht als ein lebendiger Kontaktbereich ausgestaltet.

Die Sprecher bleiben zu ihrer unmittelbaren räumlichen Umgebung eher auf Dis-tanz und nehmen sie sogar als einen anonymen Transitraum wahr. Beschrieben werden vor allem die Auswirkungen dieser Verhältnisse auf die Passanten und Bewohner selbst, die meist derartige Bereiche als Gefahrenzonen einschätzen, mit körperbezogenen Risiken rechnen oder durch die Ruhelosigkeit sich erschöpft fühlen oder sogar erkranken. Die räumliche Enge und eine damit thematisierte Vielheit an Reizen führen für das wahrnehmende Individuum zu einer Überforde-rung und werden von ihm als ein Fehlen einer körperlichen und persönlichen Abgrenzungsmöglichkeit erlebt. Als Strategien der Bewältigung gelten ihm nur räumliche Alternativen, die sich entsprechend der jeweiligen Fiktion innerhalb und außerhalb der literarischen urbs Roma finden lassen, in finanziellen Möglichkeiten,

einer temporären Abwesenheit oder auch im Exil bestehen. Als privilegiert wer-den diejenigen Bewohner angesehen, wer-denen es möglich ist, sich dieser inneren Struktur zu entziehen bzw. denen eine gegenteilige Struktur, ein weiträumiges und sensuell enthobenes Areal zur Verfügung steht. Dennoch ist diese räumliche Dichte nicht allein Kennzeichen einer sozialen Perspektive. Im Zusammenhang mit einem topographischen Merk- und Wahrzeichen diente dieses Merkmal dazu, die räumliche Umgebung zu nobilitieren.

Wird bauliche Dichte somit an kleineren, überschaubaren Bereichen und einer unmittelbaren räumlichen Umgebung vorgeführt, so tragen dennoch in der Regel die zur Wahl gestellten Alternativen, wie auch die konkrete Ausgestaltung der Bereiche, etwa der Einsatz von mobilen Objekten oder einer sich bewegenden Wahrnehmungsinstanz, dazu bei, dass der Leser die präsentierte innere Struktur einer dichten Bebauung auf die gesamte oder doch auf weite Teile der literarischen urbs Roma überträgt.

Textübergreifend konnte beobachtet werden, dass die jeweilige Bewertung, ob das Merkmal baulicher Dichte dem gesamten literarischen Raum urbs Roma zukomme oder nicht, widersprüchlich ist. Die für diese baulichen Ensembles präsentierten räumlichen Eigenschaften werden als typisch für den Gesamtraum der urbs Roma bezeichnet oder gerade als untypisch zurückgewiesen. Derartige Widersprüche sind nicht auf autoren-, gattungs- oder zeitspezifische Unterschiede zurückzufüh-ren, sie finden sich innerhalb eines Œuvres. Bei der Darstellung baulicher Dichte in der literarischen urbs Roma handelt es sich somit um ein Merkmal eines literari-sierten Raumes, das dem Gestaltungsspielraum der Autoren große Freiheiten auch zu einer Multiperspektivität lässt, d. h. einer intentionalen Perspektive unterliegt.

Hierzu passt auch die Beobachtung, dass es in der Mehrzahl der Texte durch das Fehlen entsprechender Referenzen unmöglich ist, die räumlichen Ensembles in den Georaum der antiken Metropole Rom zu verorten. Räumliche Dichte wird an frei gewählten Schauplätzen und Nebenräumen vorgeführt, für die lediglich eine Inklusion in den Makroraum urbs Roma gilt, es sind poetisierte, fingierte Hand-lungszonen, Orte der Literatur. Die Auswahl der typisch städtischen Teilelemente wiederum, etwa sehr hohe Wohngebäude mit Fenstern zur Straßenseite oder eine äußerst heterogene – sprich arbeitsteilige – Umgebung eines Wohngebietes, ver-weisen allemal eindeutig auf eine spezifisch großstädtische Infrastruktur des jewei-ligen Bereichs. Der Einsatz transitorischer Ereignisse wie das Vorbeirollen von Wagen oder die Bewegung einer Wahrnehmungsinstanz durch diese Bereiche hindurch erweitert den exemplarisch dargestellten Raum um eine unbekannte Größe. Präsentiert wird mit der Darstellung einer verdichteten inneren Struktur ein ausgeprägt großstädtischer, aber eben weniger stadtrömischer Raum. Trotz der Widersprüchlichkeit der Bewertungen bleibt die bauliche Dichte ein Alleinstel-lungsmerkmal einer urbs Roma.

(2) Als ein weiteres charakteristisches Merkmal der literarischen urbs Roma gilt ihre besonders hohe Anzahl von Einwohnern. Dargestellt wird sie räumlich anhand von Bereichen, in denen es zu einer intensiven, simultanen Nutzung kommt.

Zielpunkte, die von den Bewohnern regelmäßig angelaufen werden und in, an oder bei denen es wiederkehrend zu Verdichtungen kommt, sind typisch städtische Teil-elemente wie Theater, Circus, Forum, Atrium, also vor allem klar begrenzte räum-liche Gegebenheiten. Explizit wird die Konzentration an Einwohnern wiederholt und gattungsübergreifend in einem visuellen, akustischen oder haptischen Ge-samteindruck festgehalten, indem derartige Bereiche als vollbesetzt, besonders laut, als räumlich beengt o. ä. attribuiert werden. Eine räumliche Ausgestaltung ihrer inneren Struktur oder der Prozess der Verdichtung findet sich im Gegensatz dazu recht selten.611 Der Einsatz der Darstellungstechniken ‚Beschreibung‘ und

‚erzählte Wahrnehmung‘ zeigt aber, dass in denjenigen Passagen, in denen es zu einer räumlichen Ausgestaltung kommt, gerade dem räumlichen Merkmal der Dichte eine besondere Relevanz zugeschrieben wird. In der literarischen Präsenta-tion ist eine große VariaPräsenta-tionsbreite – auch innerhalb eines Œuvres – feststellbar.

So bietet Ovid sowohl eine personengebundene Perspektive aus dem Inneren heraus, wobei räumliche Abstände körperbezogen vermessen werden, als auch poetische Vergleiche aus dem Landleben und aus der Tierwelt, mit denen es ihm durch verschiedene Blickinszenierungen gelingt, auch den Prozess der Verdich-tung darzustellen. Juvenal dagegen nutzt vor allem das Mittel der Kumulation von Menschengruppen und raumnehmenden Objekten, um eine aufs Äußerste ver-dichtete räumliche Umgebung eines Wohnhauses zu präsentieren. Diese Beispiele lassen erkennen, dass die Vorstellung von einem Konzentrationspunkt im Sinne eines regelmäßig intensiv genutzten Bereiches für den literarischen Raum urbs Roma in der Dichtung vorliegt.

Vor allem veranschaulicht wird die kollektive Nutzung in einem offenen, diffus umgrenzten Raum, der durch typische Handlungen von Figuren implizit als eine Straße identifizierbar ist. Gründe für das erhöhte Menschenaufkommen, etwa eine entsprechende Straßenführung oder die räumliche Nähe zu Bereichen, die für das alltägliche Leben der Einwohner zentral wären, werden nur in Ausnahmefällen genannt, ebenso fehlen Hinweise auf architektonisch manifestierte Begrenzungen – etwa Häuserwände –, oder die Breite der Straße, die als Gründe einer derartigen Verdichtung angeführt werden könnten. Alternative Wege, Nebenwege, Abkür-zungen werden nicht vorgestellt. Das Wegenetz, auf das bei einer Orientierung durch den literarischen Raum noch implizit verwiesen wird (vgl. Abschnitt 3.2), existiert in den Darstellungen einer dichten literarischen urbs Roma nicht. Gemäß der Illusionsbildung handelt es sich einerseits um Ausnahmeereignisse, anderer-seits um eine typische innere Struktur aller öffentlicher Transitbereiche, die von den

611 Die Ausgestaltung einer Konzentration von Menschen findet sich bereits in der römischen Ko-mödie. Vgl. Plaut. Ep. 206-254. Zur Darstellung des Prozesses des Sich-Versammelns in der griechischen Komödie vgl. Barner (22003), 16.

Bewohnern alltäglich zu durchqueren sind. Durch topographische Referenzen im Georaum der antiken Metropole sind sie nicht verortet. Allenfalls dienen räumlich diffuse topographische Merkzeichen wie Berge oder größere Plätze als vage An-fangs- und Endpunkte der Straßen. Von einer Nachprüfbarkeit sind sie damit suspendiert. Städtischen, weniger stadtrömischen Charakter erhalten diese fingier-ten Handlungszonen damit vor allem durch die Wahrnehmung einer massenhaf-ten, simultanen Bewegung von Figuren und mobilen Objekten.

Die Perspektive auf diese Bereiche ist aus dem Inneren heraus. Sie sind Bewe-gungsbereiche einer Wahrnehmungsinstanz. Im Mittelpunkt ihrer Wahrnehmung steht der eigene Bewegungsspielraum, den sie als stark eingeschränkt wahrnimmt.

Die geringen Abstände werden neben expliziten Attribuierungen vor allem durch entsprechende Verben angezeigt, die nicht nur auf einen körperlichen Kontakt hinweisen, sondern die Widerstände als grobe Auseinandersetzungen beschreiben.

„Ohne Reibungen aneinander vorbeizukommen, (…) elementare Regeln der Höf-lichkeit“ einzuhalten wie auch „gewisse Techniken des Selbstschutzes“612 zu ent-wickeln ist den Figuren dieses literarischen Raums nicht möglich. Der Transitbe-reich ist dieser Wahrnehmung entsprechend eine Gefahrenzone für das Individu-um. Hier zeigen sich Ähnlichkeiten mit der Darstellung anderer verdichteter Räume, wie epischen Kampfschilderungen.613 Im Unterschied zu diesen handelt es sich jedoch um alltägliche und sich wiederholende Geschehensabläufe, die zudem aus einer subjektiven Perspektive beschrieben werden. Die Intention der Wahr-nehmungsinstanz ist es allein, einen Weg zwischen zwei disparaten Bereichen innerhalb der urbs Roma zurückzulegen, und nicht, sich in eine Auseinandersetzung mit Anderen zu begeben. Die Konfrontation trifft sie in diesem Sinne unvorberei-tet und widerwillig. Auch in der Bewertung ist diese Darstellung eher un-militä-risch: Eine Wahrnehmungsinstanz bezeichnet die Gewaltanwendungen als Un-recht, eine andere verhält sich sogar passiv.

Trotz des geringen Abstandes und der unmittelbaren körperlichen Auseinander-setzung nimmt die Wahrnehmungsinstanz visuell keine Individuen wahr. Das Ge-genüber, dessen Präsenz sie am Körper fühlt, bleibt anonym. Die Figuren fungie-ren wie mobile Objekte, als räumliche Merkmale und Bewegungshemmnisse eines Transitraums, keines sozialen Raums. Diese innere Struktur entsteht nicht auf-grund von besonderen Anlässen oder zu bestimmten Zeiten. Figuren begeben sich in diese Verdichtung hinein und werden in diese eingebunden. Das Gegen-über, eine kollektive Menge, die sich der Wahrnehmungsinstanz in den Weg stellt, ist ein Gefahrenraum, aber im Sinne der iterativen Erzählung immer vorhanden.

Sie selbst wird in der Literatur zu einem typischen, großstädtischen Teilelement.614

612 Assmann (22008), 161.

613 Vgl. dazu Schmitz (2000), 212-221.

614 Vgl. dazu Chatman (1980), 139: „It makes no sense to treat crowds of walk-ons or extras as characters. (…) they are parts of the (…) setting.“

4 Die Großstadt als erklärter Gegenstand