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Zahlungsbereitschaft für eine Lebensverlängerung

Im Dokument DAS LEBENSENDE IN DER SCHWEIZ (Seite 119-123)

6. Kosten der medizinischen Versorgung am Lebensende

6.5 Zahlungsbereitschaft für eine Lebensverlängerung

Medizinische Behandlungen sind wirksam, insofern sie die Sterblichkeit reduzieren und die Lebensqualität der Patientinnen und Patienten erhöhen. Aus der Beobachtung der ein-gesetzten medizinischen Ressourcen in den einzelnen Altersgruppen und der dadurch erzielten Reduktion der Sterblichkeit lässt sich ökonometrisch bestimmen, wie viel ein zusätzliches Lebensjahr kostet. Abbildung 6.6 stellt das Ergebnis einer solchen Schät-zung für die USA dar (Hall & Jones, 2007). Danach liegen diese Kosten pro Kopf bis zum 60. Lebensjahr zwischen rund 30 000 und 60 000 USD, bevor sie danach stark ansteigen

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und bei den 90- bis 95-Jährigen 185 000 USD erreichen. Im hohen Alter ist es somit im Durchschnitt sehr teuer, mittels medizinischer Interventionen ein zusätzliches Lebensjahr zu gewinnen. Im Vergleich dazu ist die Wirksamkeit der Medizin zu Beginn des Lebens sehr hoch, wo ein zusätzliches Lebensjahr nur 6000 USD kostet. Grundlage dieser Schät-zungen sind die Altersprofile von Gesundheitskosten und die Sterblichkeit im Zeitraum von 1950 bis 2000. Die niedrigen Kosten zu Beginn des Lebens überraschen nicht, weil sich die Säuglingssterblichkeit in den USA in diesem Zeitraum deutlich reduzierte. Die vergleichsweise niedrigen Kosten bei den 45- bis 65-Jährigen sind ebenfalls dem medizin-technischen Fortschritt, hier bei der Behandlung von Herzerkrankungen, geschuldet.

Mit den zusätzlichen Kosten zu vergleichen ist die gesellschaftliche Bewertung eines zusätzlichen Lebensjahres. In einer Übersichtsarbeit zu einer Vielzahl von US-Stu-dien beziffern Viscusi und Aldy (2003) den statistischen Wert eines Lebens auf 5,5 bis 7,5 Millionen USD (Preisniveau 2000). Teilt man diesen Wert durch die durchschnittliche restliche Lebenserwartung in der Bevölkerung, resultiert ein Wert für ein zusätzliches Lebensjahr von 100 000 bis 150 000 USD. Murphy und Topel (2006) ermittelten den Wert des Lebens in Abhängigkeit zum Alter, ausgehend von einem durchschnittlichen Wert von 6,3 Millionen USD pro menschlichem Leben. Das Ergebnis ihrer Schätzung ist in der Abbildung 6.6 als Wert eines zusätzlichen Lebensjahres umgesetzt. Dieser steigt bis zum 50. Lebensjahr auf 171 000 USD, um danach mit zunehmendem Alter zu sinken.

Dieser Rückgang in der Bewertung eines zusätzlichen Lebensjahres im höheren Alter ist getrieben von der abnehmenden Restlebensdauer. Der Ertrag aus einer Reduktion der Sterblichkeit bezieht sich auf eine immer kürzer werdende Lebensdauer, sodass der Wert eines zusätzlichen Lebensjahres sinkt (im Detail vgl. Felder, Meier & Schmitt, 2000).

Wert (Murphy & Topel, 2006) Kosten (Hall & Jones, 2007) 200

180 160 140 120 100 80 60 40 20 0

in 1000 USD

Alter

90–95

0–5 10–15 20–25 30–35 40–45 50–55 60–65 70–75 80–85

Abbildung 6.6: Wert und Kosten eines zusätzlichen Lebensjahres (in 1000 USD), in Abhängigkeit vom Alter;

Quelle: Murphy und Topel (2006), Hall und Jones (2007)

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Es ist interessant, diese US-amerikanischen Schätzungen mit der Studie von Fischer, Telser, von Wyl, Beck und Weber (2015) zur Zahlungsbereitschaft der Schweizer Be-völkerung für Behandlungen am Lebensende zu vergleichen. Für diese Studie, die eben-falls im Rahmen des NFP 67 gefördert wurde, wurden etwa 1500 Personen nach ihrer Zahlungsbereitschaft für verschiedene Behandlungsoptionen von Krebs im Endstadium befragt, wobei sich die Optionen in der Wirkung auf die Lebenserwartung und Lebens-qualität unterschieden. Die Autorengruppe diskutiert die Ergebnisse in Abhängigkeit von verschiedenen soziodemografischen Eigenschaften der Befragten, unter anderem dem Alter. Abbildung 6.7 zeigt für zwei verschiedene Szenarien die in der Studie her-geleitete Zahlungsbereitschaft für ein zusätzliches Lebensjahr bei voller Gesundheit in Abhängigkeit vom Lebensalter. Im Versicherungsszenario mussten sich die Befragten zwischen verschiedenen Versicherungspolicen entscheiden, die bestimmte Behandlungen am Lebensende unterschiedlich abdeckten. Beim Behandlungsszenario wählten die Be-fragten zwischen Behandlungen mit unterschiedlicher Kostenbeteiligung aus.

Die durchschnittliche Zahlungsbereitschaft beträgt je nach Szenario 100 000 CHF oder 200 000 CHF. In beiden Szenarien zeigt sich zudem ein deutlicher negativer Alters-bezug in der Zahlungsbereitschaft für ein zusätzliches Lebensjahr, das heisst je älter die Befragten sind, umso kleiner ist die Summe, die sie für ein zusätzliches Lebensjahr zu investieren bereit sind. Somit lässt sich festhalten, dass die in den Experimenten durch die Befragten ausgedrückten Präferenzen mit der Beobachtung übereinstimmen, dass mit zunehmendem Alter der Patientinnen und Patienten weniger Ausgaben am Lebens-ende getätigt werden.

Behandlung Versicherung 250

200

150

100

50

-in 1000 CHF

Alter

75+

15–24 25–34 35–44 45–54 55–64 65–74

Abbildung 6.7: Zahlungsbereitschaft für ein zusätzliches Lebensjahr in 1000 CHF, nach Alter für zwei Szenarien;

Quelle: Fischer et al. (2015)

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Andererseits steigen unabhängig vom Alter die Gesundheitskosten zum Lebensende hin an. Nur bei den Krebskranken hat sich gezeigt, dass sie in den letzten zwei Monaten abnehmen. Wie lässt sich das erklären? Zunächst dürfte es mit der Unsicherheit zu tun haben, die im letzten Abschnitt thematisiert wurde. Es treten Anzeichen auf ein nahen-des Lebensende auf, gleichzeitig setzen die Betroffenen, deren Angehörige und die be-handelnde Ärzteschaft auf die Aussicht, aufgrund medizinischer Behandlung zu über-leben respektive die Lebenszeit erhöhen zu können.

Zweitens nimmt im Allgemeinen die Bedeutung des Lebens zu, wenn die Wahr-scheinlichkeit steigt, es zu verlieren. Das zeigt sich exemplarisch an Regeln, die in der Not-fallrettung gelten. Treten mehrere Notfälle gleichzeitig auf, werden sie nach der Dring-lichkeit der Rettung und Behandlung priorisiert: zuerst werden jene Verunfallten versorgt, deren Leben am meisten bedroht ist. Die Versorgung leichter Fälle muss dagegen warten.

Man kann die hohe Zahlungsbereitschaft für das Leben am Lebensende auch ökonomisch erklären. Verkürzt sich die Lebenserwartung einer Person aufgrund einer schweren Er-krankung, wird diese bereit sein, viel in die Rettung und Erhaltung des Lebens zu in-vestieren, vorausgesetzt, es besteht Aussicht auf eine erfolgreiche Behandlung. Da der Kon-sum anderer Güter der Person nichts nützt, deren Leben bedroht ist, wird sie bereit sein, viel für die Lebensrettung zu zahlen (vgl. Breyer & Felder, 2005; Pratt & Zeckhauser, 1996).

Ein drittes Argument setzt bei der Hoffnung der Patientinnen an, sie könnten dank einer Lebensverlängerung von Therapien profitieren, die noch in der Entwicklung und daher noch nicht verfügbar sind (vgl. Philipson, Becker, Goldman & Murphy, 2010).

Ein viertes wurde im Rahmen des NFP 67 von Minke und Hintermann (2017) im Zu-sammenhang mit möglichen Spillovers zwischen medizinischen Techniken vorgestellt.

Bei neuen Interventionen, die am Lebensende eingesetzt werden, gibt es bei der be-handelnden Ärzteschaft möglicherweise einen Lerneffekt, der auch anderen Patienten zugutekommt. Alle vier Motive begründen eine höhere Zahlungsbereitschaft für medi-zinische Behandlungen am Lebensende.

Selbstverständlich spielt auch die Versicherungsdeckung eine Rolle bei den be-obachteten hohen Gesundheitskosten am Lebensende. Eine Abdeckung der Kosten von medizinischen Leistungen bedeutet, dass die Versichertengemeinschaft für die Kos-ten aufkommt und nicht das erkrankte Individuum. Wäre nämlich die Versicherungs-deckung nicht gegeben, wären viele Patientinnen und Patienten gar nicht in der Lage, für teure Behandlungen am Lebensende aufzukommen. Insofern ist unbestritten, dass die Versicherungsdeckung zu den hohen Kosten am Lebensende beiträgt.

Welches Verhältnis von Kosten zu Nutzen als vertretbar gelten sollte, ist eine ge-sellschaftliche Frage, deren Antwort bei der Entscheidung, welche neuen Therapien oder Medikamente in den Leistungskatalog der Obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP) aufgenommen werden, eine Rolle spielt. Die WZW-Kriterien nach Artikel 32 des Krankenversicherungsgesetzes setzen für die Finanzierung von medizinischen

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gen durch die OKP deren Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit vor-aus. Mit der Wirtschaftlichkeit sind die Opportunitätskosten angesprochen, also das, was die Gesellschaft aufgeben muss, wenn sie in der OKP Leistungen finanziert. Diese Ent-scheidung, falls konsistent getroffen, verlangt nach einer Offenbarung der gesellschaft-lichen Zahlungsbereitschaft für Gesundheit und Leben.

Altersrationierung in der Medizin als Möglichkeit zur Kosteneinsparung?

Wie Abbildung 6.6 verdeutlicht, steigen die Kosten eines zusätzlichen Lebensjahres mit steigendem kalendarischem Alter, während die Zahlungsbereitschaft ab dem 50. Lebens-jahr abnimmt. Eine Gesellschaft, die hinter dem ‘Schleier des Unwissens’ über den Zugang ihrer Mitglieder zu medizinischen Leistungen entscheidet, könnte sich daher für eine Altersrationierung aussprechen. Durch die Vorenthaltung von Leistungen im hohen Alter mit einem ungünstigen Kosten-Nutzen-Verhältnis würde die Versicherten-gemeinschaft insgesamt insofern profitieren, als die Krankenversicherungsprämien sin-ken würden. Da eine Altersrationierung im Rahmen einer gesetzlichen Kransin-kenver- Krankenver-sicherung unterschiedslos alle beträfe, wäre sie grundsätzlich nicht diskriminierend.

Die Altersrationierung medizinischer Leistungen ist in der Öffentlichkeit höchst um-stritten und wird in der Literatur kontrovers diskutiert (für eine Übersicht, vgl. Zimmer-mann-Acklin, 2012). Unbestritten ist, dass eine Altersrationierung nicht von heute auf morgen eingeführt werden könnte, da sie in diesem Falle altersdiskriminierend wäre.

Die Tatsache, dass die Kosten am Lebensende im hohen Alter stark abnehmen (vgl.

Abbildung 6.4), deutet allerdings darauf hin, dass im medizinischen Alltag eine (impli-zite) Altersrationierung stattfindet. Es ist nicht davon auszugehen, dass eine explizite Altersrationierung das hohe Wachstum der Gesundheitskosten entscheidend bremsen könnte. Eine alternative Rationierung, die ebenfalls nicht grundsätzlich diskriminierend wäre, bestünde darin, die Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit (WZW) von therapeutischen Massnahmen bei allen Patientinnen und Patienten enger zu defi-nieren, als es bislang der Fall ist (d. h. Massnahmen, welche die WZW-Kriterien nur sehr bedingt erfüllen, nicht mehr sozial zu finanzieren).

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