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Diskussion

Im Dokument DAS LEBENSENDE IN DER SCHWEIZ (Seite 179-184)

8. Gutes Sterben? Ein Überblick über gegenwärtige Diskurse

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Einleitend wurde gesagt, dass Diskurse selektiv sind, sie greifen also bestimmte As-pekte eines Geschehens auf und ignorieren das Übrige. Das gilt auch für die Diskurse des guten Sterbens. Sie sind typischerweise auf das Sterben an Krebs ausgerichtet, auf Sterbeprozesse mithin, die zumeist einen medizinisch voraussagbaren, klaren Verlauf nehmen und zum Teil noch heute Inbegriff des schrecklichen Todes sind. Eine Zeit-lang stand auch AIDS im Fokus dieser Diskurse. Sterben im Zusammenhang mit multi-pler Morbidität, Altersschwäche, Herzbeschwerden, Demenz und anderen Krankheiten bleibt hingegen weitgehend ausgeklammert (Birchley et al., 2016; Peel & Hardfing, 2015;

Seale, 2004). Relativierend ist auch zu bemerken, dass die gesellschaftlichen Ideale, die in Sterbediskursen sichtbar werden, mit den Wünschen von Sterbenden keineswegs iden­

tisch sind (Cottrell & Duggleby, 2016). Soziologische Studien weisen zudem darauf hin,

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dass Diskurse des guten Sterbens, insbesondere die Selbstreflexivität der selbstbestimmt Sterbenden, höchstens den Lebensstilen der sozialen Mittelschicht in westlichen Ländern entsprechen, zu anderen sozialen Milieus dagegen kaum passen.

Gemessen an den Sterbediskursen, haben reale, institutionalisierte Abläufe des Sterbens oft nicht idealen Charakter (Birchley et al., 2016; Daneault, 2007; Streckeisen, 2008). Mit Bezug auf die Schweiz haben dies – im Rahmen des NFP 67 – Soom et. al.

(2016) für das Pflegeheim und Krones et al. (2015) für Advance Care Planning auf-gezeigt. Abläufe in sozialen Einrichtungen sind – anders als individuell gestaltete Prozes-se – zweckgebundenen Regeln und heute auch dem Imperativ des Sparens unterworfen, sogar wenn ihre Akteurinnen entgegengesetzte Absichten verfolgen und nicht – wie so oft – nur dank einer gewissen Gleichgültigkeit in ihrer Berufstätigkeit ‘überleben’ kön-nen. Freilich haben auch diese organisationsbezogenen Regeln keinen schicksalhaften Charakter, doch traditionsbasierte institutionelle Kulturen weisen eine hohe Resistenz gegen Veränderung auf.

Die genannten Relativierungen fokussieren typischerweise auf Perspektiven des guten Sterbens, die jenseits von assistiertem Suizid und direkt aktiver Sterbehilfe (Tö-tung auf Verlangen) liegen. Anders als im vorliegenden Kapitel ist in der Literatur mit-unter von zwei und nur zwei Grundmustern des guten Sterbens die Rede (Carpentier &

Van Brussel, 2012; Castra, 2003; Clapasson, 2009; Seale, 1998). Auf der einen Seite (ers-tes Grundmuster) wird das Sterben als dem Leben inhärenter letzter Teil begriffen. Bei fortschreitender Krankheit oder bei einschneidenden Beschwerden soll die Lebensquali-tät auf dem höchstmöglichen Niveau bleiben und sollen Unabhängigkeit sowie Selbst-bestimmung möglichst lange fortdauern. Diese Überzeugungen verbinden sich zumeist mit einer Ablehnung des assistierten Suizids und der aktiven Sterbehilfe. Auf der anderen Seite (zweites Grundmuster) gilt Sterben als letzter Teil des Lebens, der zwar grundsätz-lich bei bestmöggrundsätz-licher Gesundheit selbstbestimmend verbracht werden sollte, der aber in Wirklichkeit ein qualvoller Prozess sein kann, den es zu verkürzen oder gar zu über-springen gilt. Diese Überzeugungen zielen auf eine Befürwortung des assistierten Sui-zids. So etwa steht es bei Mauz (2018). Bemerkenswert ist, dass der Unterschied zwischen den beiden Grundmustern letztlich daran festgemacht wird, ob eine gezielte Lebens-beendigung (aktive Sterbehilfe bzw. assistierter Suizid) abgelehnt oder befürwortet wird.

Die ablehnende Haltung hat in vielen Ländern, auch in der Schweiz, eine ge-sellschaftliche Vormachtstellung. Doch gewinnt die befürwortende Position in dem Masse an gesellschaftlichem Raum, in dem der Tod seine religiöse Bedeutung verliert und das Lebensende als gestaltbar erscheint. Der Kulturwissenschaftler Thomas Macho behauptet sogar, wir stünden an der Schwelle zur Entpathologisierung des Suizids, zur gesellschaftlichen Anerkennung der persönlichen Entscheidung für einen Suizid also (Macho, 2017). Falls dies auch nur der Tendenz nach richtig ist, dürften der assistierte Suizid und, in vermindertem Ausmass, vielleicht auch die direkt aktive Sterbehilfe im

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gesellschaftlichen Denken – was nicht mit der Gesetzgebung zu verwechseln ist – immer mehr zu einer von vielen Optionen werden.

Dass der assistierte Suizid tatsächlich an gesellschaftlicher Anerkennung gewinnt, bedeutet aber nicht, dass die Gegnerinnen und Befürworter sich annähern würden. Man-che Autorinnen und Autoren betrachten die beiden Positionen als unvereinbar, denn in vielen Ländern lassen sich harte Auseinandersetzungen beobachten (Carpentier &

Van Brussel, 2012). Clapasson (2009), der in seiner Diplomarbeit eine Analyse von zwei Schweizer Fernsehdiskussionen mit EXIT- und Palliativvertretern analysiert hat, kommt zum Schluss, dass eine Zusammenarbeit zwischen den beiden Gruppen undenkbar sei.

Die Palliativvertreterinnen, welche in die untersuchte Fernsehsendung eingeladen wur-den, waren gegen den assistierten Suizid. Wir wissen aber, dass nicht alle Verfechter der Palliativmedizin diese Haltung teilen. In der standardisierten Umfrage, die Bittel et al.

(2002) bei Mitgliedern der Schweizerischen Gesellschaft für Palliative Care durch-führten, sprachen sich nur 56 Prozent der Befragten gegen den assistierten Suizid und nur 69 Prozent gegen die aktive Sterbehilfe respektive Tötung auf Verlangen aus. Gemäss einem zusätzlichen Studienergebnis fielen die Gegnerinnen der direkt aktiven Sterbe-hilfe dadurch auf, dass sie – anders als andere Befragte – ihre Haltung mit ihrer religiö-sen Überzeugung begründeten. Zwischen religiöser und nicht-religiöser Haltung lässt sich also eine Abweichung bezüglich direkt aktiver Sterbehilfe beobachten. Wie unsere literaturbasierten Darlegungen gezeigt haben, verbergen sich hinter solchen Daten tief-ergehende Unterschiede, etwa Unterschiede im Verständnis von Würde.

Diese Ausführungen legen die These nahe, dass ein fundamentaler Gegensatz vor allem zwischen Religion und gezielter Lebensbeendigung (juristisch heute als assistierter Suizid und direkte aktive Sterbehilfe gefasst), aber nicht zwischen Palliative Care und ge-zielter Lebensbeendigung existiert. Bekräftigt wird diese These, wenn man sich Folgen-des noch einmal vor Augen hält: Von den hier erörterten Diskursen Folgen-des guten Sterbens schliessen der Bewusstseinsdiskurs, der Selbstbestimmungsdiskurs mit seinem heroi-schen Sterben und der psychologische Diskurs, insbesondere die Sichtweise des je eige-nen Sterbens die gezielte Lebensbeendigung keineswegs aus, auch wenn diese nicht den jeweiligen Kern der Argumentation ausmacht. Anderes gilt für den Spiritualitätsdiskurs, der im Sterben eine Art Übergang in ein neues Sein erblickt: Gezielte Lebensbeendigung von eigener (oder stellvertretender) Hand ist hier kaum denkbar. Die Gegnerschaft der gezielten Lebensbeendigung ist also nicht in verschiedenen sozialen Welten, sondern in erster Linie im spirituell-religiösen Feld zu finden. Die in vielen Religionen verankerte Vorstellung, das menschliche Leben – auch das medizinisch verlängerte menschliche Leben – sei ein Geschenk Gottes, dem Ehrfurcht gebühre und das in einer rein geisti-gen Dimension kein Ende kenne, hat sich hier erhalten. In den anderen Sozialwelten ist diese Bedeutung zurückgegangen.

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