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Patientenverfügung und Palliativmedizin:

Im Dokument DAS LEBENSENDE IN DER SCHWEIZ (Seite 123-130)

6. Kosten der medizinischen Versorgung am Lebensende

6.6 Patientenverfügung und Palliativmedizin:

eine doppelte Dividende?

In der öffentlichen Debatte werden häufig eine konsequentere Implementierung von Patientenverfügungen und die Stärkung der Palliativmedizin als Mittel vorgeschlagen, um Behandlungen am Lebensende zu verbessern. Dies könnte nach Vorstellung der

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Fürsprecher einen doppelten positiven Effekt haben: Zum einen eine bessere Berück-sichtigung von Patientenpräferenzen in Form von milderen Behandlungen und zum anderen potentielle Kosteneinsparungen bei Behandlungen, die von den betroffenen Personen kurz vor dem Tod vielfach ohnehin nicht mehr erwünscht sind. Es lohnt sich daher (ohne Anspruch auf Vollständigkeit), die wissenschaftliche Evidenz zu Patienten-verfügungen und Palliativmedizin zu beleuchten. Die hier betrachteten Untersuchungen sind vorrangig randomisiert kontrollierte Studien, welche in der Wissenschaft als Gold-standard gelten. Hierbei werden Studienteilnehmende zufällig einer Interventionsgruppe und einer Kontrollgruppe zugeteilt. Im Idealfall wird auf diese Weise eine systematische Selektion der Personen vermieden, die eine Vergleichbarkeit unmöglich machen bzw.

hohe Anforderungen an die Daten und statistische Methodik stellen würde.

Eine viel zitierte Studie zum Thema Patientenverfügung ist jene von Schneider-mann, Kronik, Kaplan, Anderson und Langer (1992), in der von insgesamt 204 lebens-bedrohlich erkrankten Patientinnen 104 zufällig für eine umfangreiche Beratung und Schulung zum Thema Patientenverfügung ausgewählt wurden. Die verbleibenden 100 Patienten erhielten dagegen keine solche Beratung und bildeten somit die Kontroll-gruppe. Im Vergleich zur Kontrollgruppe entschieden sich in der Interventionsgruppe nach der Beratung tatsächlich signifikant mehr Personen für eine Patientenverfügung und die übergrosse Mehrheit davon wählte die am wenigsten aggressive Behandlung.

Untersucht wurden in der Folge das Überleben der Personen, die Behandlungsintensi-tät (gemessen mit der Aufenthaltsdauer im Krankenhaus, der Verweildauer in der Intensivstation oder der Häufigkeit von Wiederbelebungen) sowie die Behandlungs-kosten in den letzten 1, 3 und 6 Monaten des Lebens. Bei keiner dieser Grössen ergab sich ein signifikanter Unterschied zwischen der Kontroll- und der Interventionsgruppe.

Auch neuere Studien aus den USA, beispielsweise von Teno, Licks, Lynn, Wenger, Con-nors, Phillips, Russel und Knaus (1997) sowie Tan und Jatoi (2011), finden keine Hin-weise darauf, dass erweiterte Dokumentationspflichten von Patientenverfügungen eine Wirkung auf die Art der Behandlungen und die Kosten von Personen am Lebensende haben. Die Frage, warum sich der vermutete Patientenwillen nach milderer Behandlung nicht in entsprechenden Behandlungen und geringeren Kosten niederschlägt, konn-te die Autorengruppe nicht abschliessend klären. Schneidermann et al. (1992) mut-massten, dass die Dokumentationspflicht des Patientenwillens selbst nichts an der tatsächlichen Kommunikation zwischen Ärztinnen und Patienten im Vorfeld einer lebensbedrohlichen Situation ändere und schlussfolgerten, dass Patientenverfügungen, jedenfalls in der vorliegenden Form, kein geeignetes Instrument seien, um Patienten-präferenzen in der konkreten Entscheidungssituation Gehör zu verschaffen. Ein weite-rer Grund könnte sein, dass sich die Umstände, unter denen eine Patientenverfügung bindend wäre, in der Praxis nur schwer identifizieren lassen. Schliesslich ist nicht aus-zuschliessen, dass manche Patientinnen oder Patienten mit einer einschränkenden

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Patientenverfügung im Verlaufe der Behandlung ihre Meinung ändern und doch einer aggressiveren Behandlung zustimmen. Eine Diskussion der heute in der Schweiz gel-tenden rechtlichen Regelungen zur Bedeutung von Patientenverfügungen findet sich in Kapitel 7.

Die Metastudie von Smith, Brick, O’Hara und Normand (2014) fasst den Stand der Forschung zur Kosten-Effektivität von palliativmedizinischen Behandlungen zu-sammen. Das Autorenteam berücksichtigt insgesamt 46 Publikationen, wobei es fest-hält, dass eine grosse Zahl von Studien mit zweifelhafter Qualität publiziert wurde. Ein genauerer Blick lohnt auf fünf Veröffentlichungen, welche im Rahmen von randomisiert kontrollierten Studien entstanden. Exemplarisch ist die Studie von Bakitas, Lyons, Hegel, Balan, Brokaw, Seville, Hull, Li, Tosteson, Byock und Ahles (2009) für Behandlungen von Personen mit fortgeschrittener Krebserkrankung in Neuengland. Von den 300 aus-gewählten Studienteilnehmenden mit schlechter Prognose (Patienten, deren Überlebens-zeitprognose durch die behandelnde Ärztin mit maximal einem Jahr angegeben wird) wurde die eine Hälfte der Interventionsgruppe und die andere Hälfte der Kontrollgruppe zugeteilt. Patientinnen der Interventionsgruppe erhielten daraufhin mehrere Beratungen durch eine geschulte Pflegefachperson und einen Palliativmediziner. Auf Wunsch der Patienten koordinierte die Pflegefachperson bestimmte Palliativbehandlungen. Davon abgesehen hatten alle Patientinnen der Interventionsgruppe unbeschränkten Zugang zu den Standardtherapien. Die Kontrollgruppe dagegen erhielt keine gezielten Schu-lungen oder Beratungen, jedoch ebenfalls vollen Zugang zu Standardtherapien und auf Wunsch auch zu einer palliativmedizinischen Behandlung. Die Intervention bezog sich somit weniger auf die Palliativbehandlung selbst, als vielmehr auf die Information der Patienten und die Koordination von deren Behandlung. Die Intervention wurde bezüg-lich ihrer Wirkung auf die Lebensqualität, die Symptomintensität, das Überleben der Patientinnen sowie die Behandlungskosten analysiert. Bei der Lebensqualität zeigte sich für die Interventionsgruppe eine signifikant verbesserte Zufriedenheit; ein Ergeb-nis, das auch in ähnlich angelegten Studien, aber für andere Behandlungssettings und Krankheiten gefunden wurde (Brumley, Enguidanos, Jamison, Seitz, Morgenstern, Saito

& Gonzales, 2007; Engelhardt, McClive-Reed, Toseland, Smith, Larson & Tobin, 2006;

Gade, Venohr, Conner, McGrady, Beane, Richardson & Della Penna, 2008). Andererseits zeigte sich, dass eine solche Intervention keinen Einfluss auf unmittelbar mit der Krank-heit zusammenhängende klinische Indikatoren wie die Symptomintensität oder die Überlebenszeit hatte. Bei der Behandlungsintensität und den Kosten waren die Studien-ergebnisse gemischt. Bakitas et al. (2009) sowie Engelhardt et al. (2006) finden keine signifikanten Unterschiede bei den Behandlungskosten zwischen Interventions- und Kontrollgruppe. Interessanterweise zeigt sich bei Bakitas et al. auch kein Unterschied bei der Krankenhausverweildauer, den Notaufnahmen und den Überweisungen auf die Intensivstation. Darüber hinaus unterscheiden sich Kontroll- und Interventionsgruppe

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nicht im Anteil der Personen, die eine Standardkrebstherapie erhielten,10 ein Ergebnis, das mit der Beobachtung gleicher Überlebenszeiten konsistent ist.

Die Studien von Brumley et al. (2007), Gade et al. (2008) sowie Higginson, McCrone, Hart, Burman, Silber und Edmonds (2009) finden hingegen eine kostensparende Wir-kung durch die Palliativmedizin, die bei Gade et al. mit einer niedrigeren Einweisungs-rate in die Intensivstation erklärt wird. Hinzuweisen ist allerdings auf die geringe Stär-ke dieses Effekts; Higginson et al. beziffern ihn für den Interventionszeitraum von drei Monaten auf rund 1800 Pfund. Angesichts von durchschnittlichen Kosten in der Höhe von über 50 000 USD im letzten Lebensjahr möchte man sich der Skepsis von Emanuel und Emanuel (1994) anschliessen, wonach selbst unter wohlwollenden Annahmen das Kosteneinsparungspotential alternativer Behandlungskonzepte am Lebensende eher als gering einzuschätzen ist.

In einem neuesten Übersichtsartikel diskutieren May, Normand, Cassel, Del Fab-bro, Fine, Menz und Morrison (2018b) verschiedene Studien, die auf eine signifikante Kostenreduzierung durch palliative Behandlungen in Spitälern hinweisen. Die erste Gruppe von Untersuchungen (Morrison et al., 2008; Morrison et al., 2011; May et al., 2015; McCarthy, Robinson, Huq, Philastre & Fine, 2015; May et al., 2018a) vergleichen Patienten mit und ohne palliativmedizinische Behandlung, die sich mit Ausnahme ihrer Behandlungsart möglichst ähnlich sind. Da die Paarbildung nur aufgrund von beobacht-baren klinischen und demografischen Variablen erfolgt, bleibt eine gewisse Unsicher-heit bezüglich Patientenselektion aufgrund nicht beobachtbarer Einflüsse. Im Ergebnis wird über alle Studien und Diagnosen die Palliativmedizin mit Einsparungen in Höhe von etwa 27 Prozent an direkten Spitalkosten assoziiert.

Einen interessanten, ebenfalls in May et al. (2018b) diskutierten, Ansatz stellt die Arbeit von Penrod, Deb, Dellenbaugh, Burgess, Zhu, Christiansen und Morrison (2010) dar. Diese Studie unterscheidet sich insofern von den vorgenannten, als sie einen Instrumentenvariablenansatz wählt, um das Problem der Patientenselektion zu um-gehen. Das gewählte Instrument ist die Präferenz eines Arztes, Palliativmedizin anzu-bieten. Da es sich beim untersuchten Krankenhaus um ein Veteranenhospital der ame-rikanischen Armee handelt, ist nach Ansicht der Autoren aufgrund von Rotation die Zuweisung eines Patienten zu einem der Militärärzte und somit das Anbieten von Pallia-tiv Care quasi-randomisiert. Wenn man dieser Randomisierung Glauben schenkt, senkt Palliative Care die direkten Spitalkosten um ca. 23 Prozent.

10 Hier stellt sich die Frage, was genau die palliativmedizinische von der regulären Behandlung im tat-sächlichen Behandlungsmix unterscheidet, wenn insbesondere gleich viele Patienten auch die Standard-therapien erhalten. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass Palliativ- und reguläre Medizin im vor-liegenden Fall eher als komplementär denn als substitutiv anzusehen sind.

sprechen dafür –, aber man sollte vorsichtig sein, damit die Aussicht auf eine zweite Di-vidende zu verbinden.

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