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Sterbeorte in der Schweiz

Im Dokument DAS LEBENSENDE IN DER SCHWEIZ (Seite 48-51)

3. Sterbeverläufe und Bedürfnisse von  Sterbenden

3.5 Sterbeorte in der Schweiz

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3.5 Sterbeorte in der Schweiz

Da die Sterbeorte in der Schweiz nicht mehr systematisch erfasst werden, können Aus-sagen darüber lediglich aufgrund einzelner Studien getroffen werden (Hedinger, 2016;

Fischer et al., 2004; Hedinger, 2016; Junker, 2012; Reich, Signorell & Busato, 2013; Streck-eisen, 2001). Allerdings lagen den beiden bislang wichtigsten Studien repräsentative Datensätze oder Vollerhebungen zugrunde, die sich in einem Fall auf die Jahre 2007 bis 2011 (Reich et al., 2013) und im anderen Fall auf das Jahr 2009 (Junker, 2012) beziehen, sodass deren Ergebnissen ziemlich präzise Hinweise über die Sterbeorte zu entnehmen sind. Demnach sterben die meisten Menschen in der Schweiz in Spitälern und Pflege-heimen, und zwar in beiden Institutionen jeweils rund 40 Prozent, 20 Prozent (grössten-teils) zu Hause oder (nur einige wenige) auch unterwegs. Zur Frage, wie viele Menschen in der Schweiz in stationären Hospizen oder in spezialisierten Palliative Care-Ein-richtungen sterben, liegen keine Angaben vor (Junker, 2012).

Phänomen Oregon

Im Unterschied zur Schweiz sterben in der USA viel mehr Menschen zu Hause, nämlich etwa doppelt so viele oder 40 Prozent. Im US-Bundesstaat Oregon, bezüglich Bevölkerung etwa halb so gross wie die Schweiz, verbrachten sogar zwei Drittel aller Sterbenden die letz-te Lebensphase zu Hause, wobei über ein Dritletz-tel auf einen Hospizdienst zählen konnletz-te, der zu ihnen nach Hause kam. Ein grosser Teil (über 70 Prozent) der Betroffenen, die während ihrer Sterbephase hospitalisiert waren, verbrachte trotz dieser stationären Behandlung den letzten Lebensmonat zu Hause. Ein massgeblicher Grund für diese ausserordentliche Si-tuation ist ein seit Jahren aktiviertes Programm (POLST, vgl. www.polst.org), das sowohl Menschen mit fortgeschrittenen Erkrankungen und pflegebedürftigen alten Menschen als auch den Health Care Professionals ermöglicht, die Wünsche für die Lebensende-Ver-sorgung zu dokumentieren und zu realisieren. Auch Advance Care Planning spielt dabei eine wesentliche Rolle. Im Unterschied zu anderen US-amerikanischen Bundesstaaten, beispielsweise Washington, wurde dieses Programm in Oregon von einer Vielzahl von Aktivitäten auf unterschiedlichen Ebenen – individuell, lokal, regional und staatlich – be-gleitet, namentlich der Entwicklung von Erziehungsprogrammen, der Durchführung re-gionaler Konferenzen und der Schaffung eines staatlichen Registers (Tolle & Teno, 2017).

Alter und Geschlecht beeinflussen den Sterbeort

Allerdings unterscheidet sich die Wahrscheinlichkeit in einem Spital, einem Pflegeheim oder zu Hause zu sterben stark nach Alter, Geschlecht, Region und Versicherungsstatus

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der Betroffenen. Reich et al. (2013) stützen sich auf die Daten von knapp 60 000 Perso-nen, die zwischen 2007 und 2011 in der Schweiz starben und bei der Helsana versichert waren. Nach ihren Ergebnissen waren Menschen, die in Pflegeheimen verstarben, im Durchschnitt 87 Jahre alt, Menschen, die zu Hause verstarben, lediglich 73, wobei Män-ner, die zu Hause starben, durchschnittlich 6 Jahre jünger waren als Frauen, die zu Hause starben. Der grösste Teil der Frauen in der Schweiz starb in einem Pflegeheim (45 Pro-zent), was damit zusammenhängt, dass viele Frauen ihren letzten Lebensabschnitt im Pflegeheim verbringen.

 

zu Hause (N=15’597)

Spital (N=22’532)

Pflegeheim

(N=20’603) Total

Männer 33 43 24 100

Frauen 21 34 45 100

Alle 27 38 35 100

Tabelle 3.1: Prozentuale Verteilung der Todesfälle von Helsana-Versicherten 2007 bis 2011 nach Todesort;

Quelle: Reich et al. (2013)

Der Anteil der Männer, der in einem Pflegeheim starb, betrug hingegen lediglich 24 Pro-zent. Dieser grosse Unterschied hat unter anderem damit zu tun, dass Frauen aufgrund ihrer höheren Lebenserwartung ein grösseres Risiko aufweisen, ohne Lebenspartner ins fragile Alter zu kommen und aus Mangel an Unterstützung ins Pflegeheim eintreten zu müssen.

Dagegen starben fast die Hälfte der Männer (43 Prozent) in Spitälern und immer-hin ein Drittel (33 Prozent) zu Hause. Fast die Hälfte (47 Prozent) der Personen, die zum Zeitpunkt ihres Todes über eine Zusatzversicherung verfügten, verbrachte ihr Lebens-ende in Spitälern. Die Behandlungskosten während der letzten sechs Monate vor dem Tod lagen bei Menschen, die in Spitälern starben, etwa doppelt so hoch als bei jenen, die zu Hause verstarben; die Kosten für Menschen, die in Pflegeheimen verstarben, lagen dazwischen (Reich et al., 2013).

Die Überblicksstudie von Christoph Junker vom Bundesamt für Statistik, die sich auf Angaben aus Heimen, Spitälern und darüber hinaus auf allgemeine Bevölkerungs-statistiken bezieht, bestätigt diese Ergebnisse weitgehend (Junker, 2012). Demnach starben im Jahr 2009 insgesamt 40 Prozent der Menschen im Spital, 40 Prozent in einem Pflege-heim und 20 Prozent zu Hause (präziser: weder in einem PflegePflege-heim noch in einem Spital).

Aus dem Jahresbericht der Stadt Zürich 2014 geht zudem hervor, dass im Jahr 2012 in der Stadt Zürich von den rund 3000 Menschen mit bekanntem Sterbeort insgesamt 37 Prozent in Spitälern, 23 Prozent in Kranken- und Pflegeheimen, 17 Prozent in

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heimen und schliesslich 20 Prozent zu Hause verstarben; die übrigen Menschen starben im Freien oder an anderen Örtlichkeiten der Stadt (Stadt Zürich, 2014, S. 60).

Jährlich sterben zwischen 400 und 500 Neugeborene, Kinder und Jugendliche in der Schweiz. Eine Forschungsstudie, welche 149 dieser Todesfälle aus den Jahren 2011 und 2012 näher untersuchte, ergab bezüglich der Sterbeorte, dass die grosse Mehrheit (62 Prozent) in Intensivstationen, ein Fünftel (21 Prozent) im Spital und nur ein Sechstel (17 Prozent) zu Hause starb. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass rund 40 Pro-zent der Betroffenen bereits als Neugeborene sterben, was die hohe Rate der auf Intensiv-stationen verstorbener Kinder erklärt. Der grösste Anteil der zu Hause verstorbenen Kinder (38 Prozent) starb an den Folgen einer Krebserkrankung (PELICAN-Forschungs-team, 2016, S. 15).

Grosse regionale Unterschiede

Gemäss der Studie Reich et al. (2013) variierte der Anteil von Personen, die 2007 bis 2011 zu Hause starben, zwischen 22 Prozent im Tessin und 33 Prozent im Kanton Aargau. In den lateinischen Kantonen war dieser Anteil kleiner als in den Deutschschweizer Kantonen.

In der Studie von Junker (2012) variiert der Anteil der zu Hause Verstorbenen zwi-schen 13 Prozent im Tessin und 42 Prozent in Appenzell Innerrhoden. Auffällig hoch (37 Prozent) war der Anteil zu Hause Verstorbener zudem im Kanton Schaffhausen, auf-fällig niedrig in den Kantonen Neuenburg und Obwalden (Junker, 2012, S. 6). Auch der Anteil der in Spitälern Verstorbenen variiert stark, nämlich zwischen 22 und 53 Prozent, derjenige in Alters- und Pflegeheimen ebenfalls, nämlich zwischen 28 und 52 Prozent, wobei keine Angaben zu den betroffenen Kantonen vorliegen. Ein Vergleich zwischen Spi-tälern und Pflegeheimen 2009 zeigt, dass in den Kantonen Genf, Wallis, Tessin, Basel-Stadt, Basel-Land und Waadt viel mehr Personen in Spitälern starben, während umgekehrt in den Kantonen Schaffhausen, Appenzell Innerrhoden und Ausserrhoden, Uri und Luzern der Anteil derjenigen, die in Pflegeheimen starben, stark überwiegt (Junker, 2012, S. 7).

Ein Teil dieser grossen Unterschiede kann mit Abweichungen in der demo-grafischen Struktur und Zusammensetzung der Bevölkerung der Kantone erklärt wer-den (z. B. Alter oder Haushaltsstrukturen). So unterscheiwer-den sich die Altersstruktur wie auch beispielsweise der Anteil der Einpersonenhaushalte deutlich zwischen den Kanto-nen. Diese Faktoren können allerdings nur einen kleinen Teil der Varianz zwischen den Kantonen erklären. Die Ergebnisse der neuen Studien, die sich mit diesem Thema in der Schweiz auseinandergesetzt haben, kommen zum Schluss, dass wahrscheinlich sprach-kulturell oder regional unterschiedliche Einstellungen zur Versorgung am Lebensende und gleichzeitig der damit verbundene Aufbau oder Mangel an Infrastrukturen und Ressourcen (Pflegeheime, Akutspitalbetten, ambulantes Angebot, zivilgesellschaftlich organisierte Unterstützungsnetze) für einen beträchtlichen Teil der Unterschiede ver-antwortlich sein dürften (Hedinger, 2016).

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In diesem Zusammenhang ist es erwähnenswert, dass in der Schweiz auch bei den Lebensende-Entscheidungen durch Ärztinnen und Ärzte Unterschiede zwischen den sprachkulturellen Regionen gefunden wurde (vgl. dazu Kapitel 4).

Wunsch zu Hause zu sterben

Nur ein kleiner Teil der Menschen in der Schweiz stirbt also zu Hause, obgleich 72 Prozent der über 15-jährigen Bevölkerung sich dies wünschen, wie eine repräsentative Befragung der Schweizer Bevölkerung im Jahr 2017 ergeben hat (Büro BASS, 2018). Auch für Gesund-heitsfachleute der Palliative Care besteht ein Ziel darin, dass Menschen am Lebensende möglichst viel Zeit zu Hause verbringen, und wenn möglich, auch dort sterben können.

Für diesen Wunsch, zu Hause sterben zu können, dürfte wesentlich sein, dass das Zuhause als ein Ort verstanden wird, an dem Menschen sich geborgen fühlen und über wesentlich mehr Einfluss (Definitions-, Gestaltungs- und Beziehungsmacht) verfügen als in Organisationen der Gesundheitsversorgung, was dadurch auch ein selbstbestimmtes Sterben eher ermöglicht (Stadelbacher & Schneider, 2016, S. 68–69). Deutsche Unter-suchungen bei Menschen, die zu Hause starben, haben jedoch gezeigt, dass es durch die üblicherweise regelmässig nötige Anwesenheit von ärztlichem und pflegerischem Fach-personal, zudem durch die Installation und den Gebrauch von technischem Material zur fachgerechten Versorgung schwer Kranker und Sterbender – beispielsweise einem Pflege-bett oder Schmerzpumpen zur ambulanten Palliativbetreuung – dazu kommen kann, dass das Zuhause oder zumindest der Raum, in dem sich eine sterbende Person aufhält, zu einer Art Mini-Spital wird und dadurch den Charakter des Privaten oder Intimen teilweise einbüssen kann (Stadelbacher & Schneider, 2016, S. 72).

Nur weil das Sterben in den eigenen vier Wänden stattfindet – also z. B. im priva­

ten Wohnzimmer als ‘Anders­Ort’ zum Patientenzimmer in der Klinik –, heisst das noch nicht, dass es automatisch ein gutes Sterben ist. Durch die Entgrenzung bzw. Hybridisierung von privaten und institutionellen Wirkräumen […] kann auch der Effekt eintreten, dass das Krankenhaus einfach ‘nach Hause kommt’

und das Sterben daheim nicht die erwartete private oder als privat inszenierte Erfahrung ist – was immer man sich darunter vorgestellt haben mag. (Stadel-bacher & Schneider, 2016, S. 79)

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