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Das Sterben beschreiben

Im Dokument DAS LEBENSENDE IN DER SCHWEIZ (Seite 33-36)

3. Sterbeverläufe und Bedürfnisse von  Sterbenden

3.2 Das Sterben beschreiben

sagen oder eine Fatigue, also eine massive Müdigkeit und Erschöpfung. Nicht zuletzt ist entscheidend, wer das Sterben eines Menschen wahrnimmt und schildert: Ärztinnen und Ärzte, Pflegefachkräfte, Angehörige, Freundinnen oder Freunde, Bekannte, eine Journa-listin oder vielleicht der Sterbende selbst, solange er sich noch äussern kann: Sie alle neh-men dasselbe Geschehen auf unterschiedliche Weise wahr, stellen es unterschiedlich dar, gewichten Erfahrungen auf je eigene Weise und bewerten diese häufig auch verschieden.

Kommt dazu, dass insbesondere die Schilderung aus Sicht der Angehörigen stark vari-ieren kann, je nachdem, ob diese während der Sterbephase, gleich nach dem Tod und damit unter dem Einfluss akuter Trauer oder erst zwei Jahre später stattfindet, wenn die grosse Trauer – hoffentlich – bewältigt werden konnte.

3.2 Das Sterben beschreiben

Denkbar wäre eine Vielzahl weiterer Antworten auf die eingangs gestellte Frage nach dem Sterben einer angehörigen Person. Jeder Mensch stirbt seinen eigenen Tod, genau-so wie jeder Mensch sein eigenes Leben lebt. Erst im Erzählen wird verständlicher, was dieses eine Leben und Sterben ausgemacht hat, wer dieser Mensch war, wie er sich selbst verstanden und gesehen hat oder wie ihn seine Angehörigen erlebt haben (Institut für Hermeneutik und Religionsphilosophie an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich, 2016). Das Sterben ist eine zutiefst intime und existenzielle Phase im Leben eines Menschen, bei der die Angehörigen, Freundinnen und Freunde, falls es solche gibt, meist emotional stark involviert sind und Anteil nehmen. Neben diesen sind oft auch die Be-treuungsfachpersonen emotional am Geschehen beteiligt: Stirbt beispielsweise eine Frau in sehr hohem Alter in einem Pflegeheim, stehen ihr in der Regel die Pflegefachkräfte sehr nahe, die sie über eine lange Zeit bis zu ihrem Tod betreut und eine Beziehung zu der sterbenden Person gepflegt haben. Doch es gibt auch das plötzliche und unerwartete Sterben: Ein Mensch wird mitten aus seinem Alltag herausgerissen, stirbt beispielsweise an den Folgen eines Herzversagens, an einem Unfall in den Bergen oder im Verkehr. In solchen Situationen ist es kaum sinnvoll, von einer Sterbephase zu sprechen; auch die An-gehörigen und Freunde werden dann durch die Mitteilung überrascht und müssen Vieles von dem, was unter anderen Umständen bereits während des Sterbeprozesses an Trauer durchlebt wurde, erst im Anschluss an den Tod der nahestehenden Person verarbeiten.

Die beispielhaften Antworten auf die eingangs gestellte Frage weisen auch dar-auf hin, dass in der Wahrnehmung des Sterbens die körperliche Funktionalität und die Lebensqualität eine wichtige Rolle spielen: War der Vater zuletzt noch selbständig, konn-te er noch Dinge tun, die ihm wichtig waren und Freude bereikonn-tekonn-ten? Hatkonn-te er Schmer-zen, war er pflegebedürftig? Wesentlich ist zudem auch die Frage nach der psychischen Befindlichkeit und den kognitiven Kompetenzen. Konnte er noch mit anderen Menschen kommunizieren und sie erkennen? War er guter Dinge oder niedergeschlagen?

Dane-3.2 Das Sterben beschreiben

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ben besteht ein Interesse an sozialen und existenziellen Aspekten des Sterbens, beispiels-weise, ob der Vater während der letzten Tage oder Stunden alleine oder ob jemand bei ihm war, ob er bis zuletzt einen Sinn in seinem Dasein erkennen konnte oder die letzte Lebensphase als nicht mehr erträglich wahrnahm.

Das Sterben eines Menschen wird unterschiedlich beschrieben, je nachdem, aus wel­

cher Perspektive das Geschehen betrachtet wird: Selbst die öffentlichen Sterbestatistiken geben lediglich Antworten darauf, was aus öffentlicher Sicht als bedeutsam bestimmt und deshalb erhoben wird, und was Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler den statisti-schen Daten entsprechend ihrem Fokus und ihren Fragestellungen entnehmen.

Grenzen der klinischen Perspektive

Sterbeverläufe werden unterschiedlich beschrieben, je nachdem, was dem Erzählenden beim Verlauf der letzten Lebensphase wichtig war oder wesentlich erscheint. Die Medi­

kalisierung des Sterbens dürfte massgeblich dazu beigetragen haben, dass heute körper-liche oder funktionale Aspekte und die entsprechenden Folgen für die medizinische Versorgung ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt sind und auch die öffentliche Wahrnehmung prägen. In einem häufig zitierten Beitrag beschreiben US-amerikani-sche Epidemiologinnen und Epidemiologen vier typiUS-amerikani-sche Sterbeverläufe aus kliniUS-amerikani-scher Perspektive (Lunney, Lynn, Foley, Lipson & Guralnik, 2003): Unter dem Titel «Theore-tische Abläufe des Sterbens» unterscheiden sie (1) den plötzlichen Tod, (2) das Sterben aufgrund einer terminalen Krebserkrankung, (3) das Sterben aufgrund eines multiplen Organversagens und (4) das Sterben aufgrund einer Altersschwäche.

In der grafischen Darstellung dieser vier Verläufe erfassen sie auf der horizon-talen x-Achse den zeitlichen Verlauf des Sterbens, auf der vertikalen y-Achse die ver-bleibende körperliche Funktionalität des Sterbenden. Folgende Merkmale erhalten so ein besonderes Gewicht: Der zeitliche Verlauf des Sterbens, die verbleibende körperliche Funktionalität, die Lebensqualität sowie die zum Tod führende Grunderkrankung. In ihrem Kommentar betonen die Autorinnen und Autoren, diese Einteilung sei klinisch intuitiv nachvollziehbar und habe wesentliche Konsequenzen für eine angemessene Ver-sorgung Sterbender: Für jede der genannten vier Gruppen von Sterbenden sollte ihres Er-achtens eine unterschiedliche Lebensende-Versorgung zur Verfügung stehen, um mög-lichst gut auf die unterschiedlichen Bedürfnisse eingehen zu können.

Was aus klinischer Sicht unmittelbar einleuchtet, kann aus einer anderen Perspek-tive weniger klar erscheinen: Aus Sicht der Angehörigen könnte entscheidender als die verbleibende körperliche Funktionalität des Sterbenden die Frage sein, ob sie sich selbst zutrauen und aufgrund ihrer Berufstätigkeit auch in der Lage sind, seine Pflege zu Hause ganz oder zumindest teilweise zu übernehmen. Für eine Sterbende selbst könnte die Frage, an welchem Ort sie ihre letzten Lebenswochen verbringen kann, wichtiger sein als die Art ihrer zum Tod führenden Grunderkrankung. Für einen Bauer oder eine Bäuerin,

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die ihr ganzes Leben lang für einen Hof verantwortlich waren, kann es in der letzten Lebensphase entscheidend sein, ob sich jemand findet, der den Hof übernehmen wird.

Für einige Sterbende mag im Vordergrund stehen, wie sie mit dem langsamen körper-lichen Verfall zurechtkommen, für andere, ob sie noch einige, für sie wichtige Aufgaben erledigen können, bevor sie sterben.

Auch für die Versorgungsplanung ist die Fokussierung auf die klinische Pers-pektive zu einseitig, damit werden wichtige Bedürfnisse der Sterbenden nicht berück-sichtigt. Handelt es sich beispielsweise um alleinstehende Menschen, die der Gefahr eines einsamen Sterbens ausgesetzt sind und darunter leiden? Oder handelt es sich um Personen, die am Ende des Lebens unter einer schweren existenziellen Krise leiden und eine spirituelle Begleitung benötigen? Wie steht es mit finanziellen Nöten, welche

Hoch Plötzlicher Tod

Tod

Zeitverlauf Tief

Funktionalität

Tödliche Erkrankung

Tod

Zeitverlauf

Hoch Organversagen

Tod Zeitverlauf Tief

Funktionalität

Langzeit-Pflegebedürftigkeit

Tod

Zeitverlauf Abbildung 3.1: Vier typische Sterbeverläufe nach Lunney et al. (2003)

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