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Sterben aus individueller Perspektive

Im Dokument DAS LEBENSENDE IN DER SCHWEIZ (Seite 184-188)

9. Fazit und Ausblick

9.1 Sterben aus individueller Perspektive

Wie erleben Menschen in der Schweiz heute das Sterben? Wo sterben sie, aufgrund wel-cher Erkrankungen und Ursachen, an welchen Orten, unter welchen Umständen? Ent-lang dieser Fragen wird in Kapitel 3 dargelegt, was heute über das Sterben aus

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dueller Perspektive – der Sicht der Sterbenden selbst, aber vor allem auch der Sicht von Angehörigen und Behandelnden – bekannt ist. Ziel ist das bessere Verstehen dessen, womit Bürgerinnen und Bürger am Lebensende heute konfrontiert werden. Typische Sterbeorte sind heute das Spital und das Pflegeheim, nur etwa ein Fünftel der Menschen in der Schweiz sterben zu Hause. Gestorben wird im hohen Alter, das durchschnittliche Sterbealter nimmt seit einigen Jahren kontinuierlich zu, die häufigsten Todesursachen sind Herz-Kreislauf- und Krebs-Erkrankungen. Werden typische Sterbeverläufe be-schrieben, unterscheiden sich die Darstellungen aus medizinischer und sozialwissen-schaftlicher Sicht: Während aus medizinischer Sicht körperliche Funktionalität, Lebens-qualität und die zum Tod führende Grunderkrankung hervorgehoben werden, geht es aus sozialwissenschaftlicher Perspektive um die gesamte Befindlichkeit einer Person in ihren Beziehungsnetzen, ihre soziale Integration, ihre psychosozialen und spirituellen Bedürfnisse und nicht zuletzt auch um das Sterbeideal, an dem sie sich orientiert. In Ka-pitel 3 wird schliesslich spezifisch auf Ängste Sterbender Bezug genommen, auch werden unterschiedliche Antworten auf die Frage nach dem zeitlichen Beginn des Sterbens dar-gestellt. Soweit bekannt werden zudem regionale Unterschiede in Bezug auf den Sterbe-ort sowie Unterschiede hinsichtlich des Alters und Geschlechts von Sterbenden thema-tisiert: Hier fällt besonders auf, dass in der Romandie deutlich mehr Menschen im Spital sterben als in der Deutschschweiz, ebenfalls von Bedeutung ist, dass Frauen viel häufi-ger in einem Pflegeheim sterben als Männer. Das heutige Sterben verbindet sich mit ver-schiedenen Kontroversen und Fragen, die im Folgenden erörtert und im Sinne eines Fa-zits kommentiert werden.

Zunächst ist umstritten, ob sich, wie häufig behauptet wird, der Sterbeprozess im Vergleich zu früher verlängert hat. Bei der Einschätzung der These von der Verlängerung des Sterbens kommt es wesentlich darauf an, ob die dem Sterben vorangehende Krank-heitsphase, die oft von Multimorbidität, chronischer Erkrankung und Altersschwäche gekennzeichnet ist, bereits als ein Teil des Sterbeprozesses angesehen wird oder nicht.

Analog verhält es sich mit der Beantwortung der Frage, ob die Phase der Isolation und Vereinsamung, die dem Tod nicht selten vorausgeht und aus soziologischer Sicht als Zu-stand des «sozialen Todes» beschrieben wird, bereits als Teil der Sterbephase definiert wird. Werden die Phasen einer schweren Erkrankung, der abnehmenden körperlichen Funktionalität und der sozialen Isolation im hohen Alter als Teil des Sterbens betrachtet, hat sich das Sterben in den letzten Jahren tatsächlich verlängert. Werden sie hingegen als Lebensphasen verstanden, die bei vielen Menschen einer sogenannt terminalen Phase vorausgehen – beispielsweise als das von Polymorbidität, chronischen Erkrankungen und nicht selten demenziellen Störungen gekennzeichnete «vierte» oder «fragile Alter» –, macht die Verlängerungsthese keinen Sinn. Das eigentliche Sterben, die letzten Lebens-stunden oder -tage, dauert aufgrund der heutigen Interventionsmöglichkeiten in der Regel nicht länger.

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Pflegeheime sind von diesem Disput in besonderer Weise betroffen: Während die Betreiber ihre Organisationen in der Regel als «Orte des Lebens» verstehen und den All-tag der Bewohnerinnen und Bewohner entsprechend gestalten, werden sie von aussen nicht selten als das Gegenteil wahrgenommen: nämlich als «Orte des (langsamen) Ster-bens». Zur Einschätzung der Verlängerungsthese ist ebenfalls von Bedeutung, dass häu-fig Sterbeverläufe infolge einer Tumorerkrankung als typisch angesehen und die damit in der Regel verbundenen Umstände verallgemeinert werden, obgleich heute viele Men-schen Krebsdiagnosen überleben und die Tumorerkrankungen in der Schweiz statistisch gesehen nicht die häufigste Todesursache darstellen. Zu bedenken ist auch, dass durch die Anwendung aggressiver Chemo- oder heftiger Bestrahlungstherapien die letzte Lebens-phase von Tumorkranken tendenziell eher verkürzt als verlängert wird.

Ein zentraler Fragenkomplex sind die Ängste und Bedürfnisse Sterbender. Un-abhängig von den näheren Umständen wird häufig der Wunsch geäussert, im Sterben nicht alleine zu sein. Ängste sind zwar individuell verschieden, beziehen sich aber – ana-log zu den Ängsten während einer chronischen Krankheitsphase im hohen Alter – häu-fig auf einen Kontrollverlust, den Verlust der körperlichen Integrität und der geistigen Identität, auf unerträgliche Schmerzen, auf Entscheidungszwänge oder die Abhängigkeit von der Hilfe anderer Menschen. Ebenfalls typisch sind die Sorge, anderen zur Last zu fallen, die Angst vor hohen Kosten für die Pflege und Behandlung, die Furcht vor sozialer Isolation und ungelösten Sinnfragen. Die Bedürfnisse Sterbender sind ebenfalls indivi-duell und oft eng mit den erwähnten Ängsten verknüpft. Sterbewünsche sind verbreitet, haben unterschiedliche Bedeutungen und sind nicht selten in sich widersprüchlich. Den Wunsch, das Leben möge baldmöglichst zu Ende gehen, äussern viele Menschen im hohen Alter. Er ist aber häufig instabil sowie nur bei wenigen damit verbunden, das Ster-ben möge aktiv durch medizinische Massnahmen beschleunigt werden. Viel eher äussern Sterbende den Wunsch, möglichst rasch zu sterben, und bitten gleichzeitig darum, noch einmal nach Hause, in die Ferien fahren oder bestimmte Dinge erledigen zu können.

Aus Sicht der Betreuungspersonen kann eine systemische, also die Bedürfnisse Angehöriger und Nahestehender mit einbeziehende Wahrnehmung unter Umständen dazu verhelfen, Zusammenhänge besser zu verstehen und darauf angemessen einzu-gehen. Wünsche und Bedürfnisse Sterbender und deren Nahestehenden sind häufig eng aufeinander bezogen und bedingen bzw. beeinflussen sich gegenseitig; das macht es für die Betreuungspersonen schwierig, die prioritären Wünsche und Bedürfnisse der Ster-benden selbst zu eruieren und von denjenigen der Umstehenden zu unterscheiden. Be-sonders schwierig ist das in Abhängigkeitsverhältnissen, wie sie beispielsweise bei ster-benden Kindern und ihren Eltern gegeben sind.

Die verstärkte Thematisierung der Ängste und Bedürfnisse Sterbender haben in den letzten Jahren zu einer Reihe von Vorschlägen und Initiativen, ja sogar neuen Ge-setzen geführt. Ein Beispiel sind die Initiativen zugunsten einer gesetzlichen Regelung

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von Patientenverfügungen und der Möglichkeit der Ernennung einer Vertretungsperson für den Fall der eigenen Urteilsunfähigkeit. Das Advance Care Planning verbessert da-rüber hinaus die Wirkung von Patientenverfügungen, indem rechtzeitig, kontinuierlich und unter Einbezug der Behandlungsteams mit den Patientinnen und Patienten an ihrem Lebensende über mögliche Lebensende-Entscheidungen gesprochen wird. Auch die An-gebote der Palliative Care, der Hospizbewegung und der Sterbehilfe-Organisationen orientieren sich an den genannten Ängsten und Bedürfnissen. Das Instrument der Patientenverfügung ist in der Deutschschweiz zwar 80 Prozent der Bevölkerung be-kannt, dennoch hat nur ein Fünftel eine Patientenverfügung abgeschlossen. In der Ro-mandie und im Tessin ist die Patientenverfügung dagegen weitaus weniger bekannt (41 bzw. 51 Prozent), und auch der Anteil der Menschen, die tatsächlich eine solche hinter-legt haben, ist mit 9 bzw. 7 Prozent deutlich geringer als in der Deutschschweiz.

Eine häufige Herausforderung im Sterben ist der angemessene Umgang mit dem Delir, wobei «Delir», wie in Kapitel 3 und 4 erläutert, in der Medizin für eine Vielzahl von Symptomen steht, die das Sterben für den Betroffenen – vorübergehend oder defi-nitiv – unerträglich machen und auch Anlass für die Einleitung einer tiefen Sedierung bis zum Tod geben können. Einige hermeneutisch-theologische Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass gewisse, auf viele Menschen befremdend wirkende Phänome-ne wie Wachträume, VisioPhänome-nen oder Träume als störendes Delir im medizinischen Sinn betrachtet werden, auch wenn sie das nicht sind, sondern für die Sterbenden eine Sinn-ressource darstellen können, sofern ihnen der nötige Raum gegeben wird.

Ein eindeutiger Widerspruch zwischen Wunsch und Wirklichkeit besteht heute hinsichtlich der Sterbeorte: Vier Fünftel der Betroffenen sterben in der Schweiz heute in Spitälern und Pflegeheimen, in beiden Institutionen jeweils rund 40 Prozent, ein wei-teres Fünftel oder 20 Prozent (grösstenteils) zu Hause oder (nur einige wenige) auch unterwegs. Zu Hause zu sterben wird von vielen Menschen zwar gewünscht, bedeutet in der Realität aber oft eine starke Belastung der Angehörigen und ist nicht selten mit einer Spitaleinweisung der sterbenden Person während der letzten Tage verbunden. Im US-Bundestaat Oregon, der einwohnermässig etwa halb so gross ist wie die Schweiz, ist es gelungen, dieses Verhältnis umzukehren, da dort heute über zwei Drittel aller Men-schen zu Hause sterben. Wie in Kapitel 3 beschrieben, wurden dort seit der rechtlichen Einführung des ärztlich assistierten Suizids im Jahr 1996 eine Reihe von Massnahmen auf verschiedenen Ebenen ergriffen: Auf individueller Ebene sowie der Ebene der Organi-sationen wurden während vieler Jahre Sensibilisierungs- und Weiterbildungsprogramme für die Bevölkerung und das Gesundheitspersonal durchgeführt und auf staatlicher Ebene ein Register sowie ein Qualitäts-Monitoring etabliert. Auf der Ebene der loka-len Gesundheitsversorgung wurde durch Einführung des POLST-Formulars («Physi-cian Orders for Life Sustaining Treatment») einerseits und des Advance Care Plannings andererseits ein Mentalitätswandel erreicht, wobei sicherlich auch die gleichzeitige

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