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Lebensende-Entscheidungen

Im Dokument DAS LEBENSENDE IN DER SCHWEIZ (Seite 188-191)

9. Fazit und Ausblick

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blierung mobiler Hospizteams («home hospice services») eine wichtige Rolle gespielt hat. Schliesslich wurde auf eine gute Verbindung zwischen der bundesstaatlichen und der lokalen Ebene geachtet. Die Lebensende-Forschung wurde ebenfalls gefördert. Wie bedeutend die Massnahmen für die Erreichung des Ziels waren, zeigt ein Vergleich mit dem benachbarten Bundesstaat Washington: Zwar wurden auch dort die POLST-Formu-lare eingeführt, jedoch auf alle begleitenden Massnahmen verzichtet mit dem Ergebnis, dass dort heute weitaus weniger Menschen zu Hause sterben als in Oregon. Wesentlich zum Erfolg des nunmehr seit über zwanzig Jahren in Oregon dauernden Programms hat das Vertrauen der Öffentlichkeit in dessen Bedeutung beigetragen: So konnte glaubwür-dig vermittelt werden, dass die Umsetzung individueller Wünsche Sterbender und nicht etwa Einsparungen bei Lebensende-Behandlungen im Zentrum der Bemühungen stehen.

Für die Schweiz bleibt es abzuwarten, ob die Bevölkerung, die Verantwortlichen in Gesundheitsversorgung und Politik gewillt sind, einen vergleichbaren Prozess zu initi-ieren. Die föderale Struktur und das entsprechende Selbstverständnis der Bürgerinnen und Bürger dürften dabei eher hinderlich sein. Eine weitere Schwierigkeit könnte sich da-raus ergeben, dass unterschiedliche Sterbeideale respektiert werden sollten, wobei einige dieser Vorstellungen nur bedingt mit rechtzeitigen und offenen Lebensende-Gesprächen zu vereinbaren sind. Eine ähnliche Schwierigkeit zeichnet sich im Streit um die bessere Eignung einer Zustimmungs- bzw. Widerspruchslösung bei der postmortalen Organ-spende ab: Hier besteht Uneinigkeit darüber, ob Menschen durch öffentliche Programme zum frühzeitigen Nachdenken und zu einer Entscheidung über eine postmortale Spen-de angehalten bzw. ‘geschubst’ werSpen-den sollten oSpen-der ob die rechtliche Einführung einer Widerspruchsregelung angemessen ist.

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Lebensende-Entscheidungen – namentlich das Lindern von Schmerzen und Symptomen unter Inkaufnahme einer Lebensverkürzung, der Verzicht auf die Fortsetzung einer be-reits begonnen Behandlung, die Beendigung einer solchen, die Einleitung einer tiefen Sedierung bis zum Tod, der assistierte Suizid oder auch der Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit – werden heute in der Schweiz häufig getroffen. Das ist das zentrale Thema in Kapitel 4. Alleine aufgrund der vielen Behandlungsoptionen sind Entscheidungen zum Abbruch oder zu einem Verzicht auf bestimmte Behandlungen bei vielen Sterben-den heute unumgänglich. Wie in Kapitel 4 detailliert dargestellt, werSterben-den Entscheidungen zum Behandlungsabbruch oder -verzicht bei über einem Drittel aller Todesfälle sowie Entscheidungen zur Symptom- und Schmerzlinderung bei jeder fünften sterbenden Per-son getroffen. Werden nur diejenigen Sterbefälle berücksichtigt, die nicht plötzlich oder unerwartet geschehen und somit eine Lebensende-Entscheidung überhaupt ermöglichen, wird bei über einem Viertel der Sterbenden in der Schweiz eine tiefe Sedierung bis zum

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Tod durchgeführt. Diese Vorgehensweise ist im Tessin mit einem Drittel der Fälle häu-figer als in der Deutschschweiz und der Romandie.

Auch wenn Ärztinnen und Ärzte häufig mit den Sterbenden über bevorstehende Lebensende-Entscheidungen sprechen, geschieht dies nicht in jedem Fall. In einem Vier-tel aller Entscheidungssituationen, in welchen Sterbende noch voll urteilsfähig sind, werden Lebensende-Entscheidungen nicht mit den Betroffenen besprochen. Folgen-de Einstellungen und BeweggrünFolgen-de Folgen-der Ärzteschaft könnten dabei eine Rolle spielen:

Werthaltungen, beispielsweise hinsichtlich einer vertretbaren Lebensqualität oder des assistierten Suizids, ebenso bezüglich der Gewichtung der Patientenautonomie als mehr oder weniger wichtig, unterschiedliche Einschätzung des Leidens Sterbender beispiels-weise als akzeptabel oder unzumutbar, auch ökonomische Gründe angesichts knapper Ressourcen.

Die Bedeutung eines rechtzeitigen Gesprächs mit den Betroffenen über mögliche Lebensende-Entscheidungen darf nicht unterschätzt werden. Wenngleich solche Ge-spräche aus rechtlicher Sicht gefordert und aus ethischer Sicht notwendig sind, um die Selbstbestimmung der sterbenden Person gewährleisten zu können, stehen ihnen im ärztlichen bzw. klinischen Alltag eine Reihe von Hindernissen im Weg. De facto werden Gespräche in den meisten Fällen mit den Betroffenen geführt, allerdings nicht selten erst zu einem sehr späten Zeitpunkt. Findet ein Gespräch über das bevorstehende Lebens-ende erst wenige Tage vor dem Tod statt, ist es in der Regel für wesentliche Weichen-stellungen zu spät, zumal – gemäss einer aktuellen Schweizer Studie – zwei Drittel der Sterbenden zum Zeitpunkt einer Lebensende-Entscheidung nicht mehr urteilsfähig sind und ein Gespräch nicht mehr oder nur noch sehr bedingt möglich ist. Entsprechend star-ke Beachtung findet die Forderung, dass die Palliative Care rechtzeitig, das heisst bereits zu einem Zeitpunkt, in welchem auch kurative Behandlungen noch eine wichtige Rolle spielen, begonnen werden sollte und nicht erst dann, wenn sich kurative Massnahmen als hinfällig oder nutzlos erwiesen haben. Das hätte allerdings zur Voraussetzung, dass die im klinischen Alltag häufig praktizierte Einteilung in «kurative» und «palliative» Pa-tientinnen und Patienten aufgegeben würde und eine rechtzeitig einsetzende Palliative Care – im Sinne der allgemeinen und je nach Umständen auch der spezialisierten Pal-liative Care – quasi zu einem selbstverständlichen Teil der Pflege und Begleitung wäh-rend der letzten Lebensjahre bzw. -phase würde.

Ungeklärt ist in vielen Fällen die Zuständigkeit für die Gespräche über das bevor-stehende Lebensende, denn häufig sind die dafür prädestinierten Hausärzte und Haus-ärztinnen in der letzten Phase im Spital oder im Pflegeheim nicht mehr verantwortlich und daher auch nicht mehr anwesend, die Versorgung in Akutspitälern ist zudem stark fragmentiert und auf viele Personen verteilt. Auch bei den Patientinnen und Patienten und deren Angehörigen besteht nicht immer die Bereitschaft, über das bevorstehende Ende zu sprechen, nach wie vor werden die damit verbundenen Themen von ihnen auch

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umgangen und Gespräche vermieden. Wie in Kapitel 8 gezeigt wurde, können dieser unterschiedlichen Bereitschaft zum Gespräch auch verschiedene Sterbeideale zugrunde liegen, die im klinischen Alltag berücksichtigt werden sollten. Umgekehrt zeigt sich, dass Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeheimen in vielen Fällen durchaus über das bevorstehende Sterben und ihre Sterbewünsche reden möchten, jedoch kaum die Möglichkeit dazu erhalten. Erfahrungen aus Oregon zeigen zudem, dass rechtzeitig ge-führte Gespräche über voraussichtlich anstehende Entscheidungen eine offene Kultur des Umgangs mit Sterbefragen voraussetzen: «Offen» in dem Sinn, als auch bereits mitten im Leben über Fragen gesprochen werden kann, die allfällige schwierige Entscheidungen wie einen Reanimationsverzicht in einer Notfallsituation oder das Abschalten eines Herzschrittmachers betreffen, eine «Kultur» insofern, als es gesellschaftlich erwünscht, ja sogar selbstverständlich ist, dass ein Arzt, eine Ärztin oder eine Pflegefachkraft auf Entscheidungen am Lebensende zu sprechen kommt und gemeinsam mit einer Patien-tin oder einem Patienten rechtzeitig entsprechende Abklärungen trifft.

Mit Blick auf Sterbeverläufe, bei denen eine Lebensende-Entscheidung getroffen wird, ist schliesslich darauf hinzuweisen, dass viele Menschen am Lebensende nicht mehr oder nur noch bedingt urteilsfähig sind. Gemäss der erwähnten Schweizer Stu-die ist lediglich ein Drittel der Sterbenden zum Zeitpunkt der Entscheidungsfindung noch voll urteilsfähig. Für die Gespräche folgt einerseits daraus, dass sie auch mit Blick auf die schwindende Urteilsfähigkeit Sterbender früh genug initiiert werden sollten, andererseits aber, dass die gesetzlich zuständigen Vertretungspersonen rechtzeitig mit den Betroffenen sprechen sollten, um für den Fall der Urteilsunfähigkeit der sterbenden Person deren mutmasslichen Willen vertreten zu können. Auch hier zeigt sich die Be-deutung einer möglichst «offenen Kultur» im Umgang mit schwierigen Entscheidungen am Lebensende.

Die Häufigkeit und Zunahme der tiefen Sedierung am Lebensende in der Schweiz ist überraschend und bedarf weiterer Klärung, weil sie ethische Fragen aufwirft. Was geschieht genau, wer ist betroffen, in welchen Situationen findet die tiefe Sedierung An-wendung, inwieweit ist sie bzw. der Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit die eigentliche Todesursache, warum schliesslich nimmt sie seit einigen Jahren stark zu? Zu klären sind hier sowohl klinische Aspekte betreffend korrekter Anwendung und Durchführung, darüber hinaus aber auch rechtliche und ethische Fragen im Hinblick auf eine Ab-grenzung der tiefen Sedierung von der ärztlichen Tötung auf Verlangen bzw. der Tötung im mutmasslichen Interesse eines Patienten. Kontrovers diskutiert wird ebenfalls die Gewichtung des Kriteriums des unerträglichen Leidens: Die Berufung der Betroffenen auf ein unerträgliches Leiden kann sowohl auf körperliche als auch auf psychische Lei-den, darüber hinaus aber auch auf existenzielle Verlusterfahrungen zurückgehen. Zu beantworten bleibt vor allem die Frage, ob eine tiefe Sedierung bis zum Tod eine an-gemessene Antwort auf ein existenziell unerträgliches Leiden sein kann oder nicht. In

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diesen Situationen wäre nämlich eine ärztliche Behandlung inklusive Lebensende-Ent-scheidung notwendig, welche die Patientin oder ihre Stellvertreter treffen, ohne dass ein somatisches oder psychisches Leiden vorliegt.

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