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Wie kommen die Entscheidungen zustande?

Im Dokument DAS LEBENSENDE IN DER SCHWEIZ (Seite 71-74)

4. Entscheidungen am Lebensende

4.3 Wie kommen die Entscheidungen zustande?

Zur Frage, wie Lebensende-Entscheidungen zustande kommen, ist leider nur wenig be-kannt. Aus derselben Untersuchung, aus der auch die im vorigen Teilkapitel dargestellten Ergebnisse stammen, liegen immerhin einige Angaben zur Art und Weise der Ent-scheidungsfindung sowie zur Urteilsfähigkeit der betroffenen Patientinnen und Patien-ten vor. Methodisch bedingt stammen diese Angaben allerdings ebenfalls aus der Per-spektive der Ärztinnen und Ärzte (Schmid et al., 2016). Über die Wahrnehmung von Sterbenden oder deren Angehörigen zur Entscheidungsfindung ist hingegen nur sehr wenig bekannt, obgleich diese wichtig wäre, um Entscheidungsprozesse als Ganze bes-ser verstehen zu können.

Selten «einsame Entscheidungen»

Die Ergebnisse der Studie aus dem Jahr 2013 zeigen, dass die grundsätzliche Bereitschaft der Ärzteschaft, Lebensende-Entscheidungen mit den Sterbenden und weiteren Perso-nen zu besprechen, in der Schweiz hoch ist und seit 2001 noch leicht zugenommen hat:

Im Jahr 2013 waren – aus Sicht der befragten Ärztinnen und Ärzte – lediglich knapp 8 Prozent aller nicht-spontanen Sterbesituationen einsame Entscheidungen, insofern die Befragten diese mit niemandem besprochen hatten. In einem Drittel aller anderen

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Situationen hatten sie die Lebensende-Entscheidungen mit der betroffenen Person, in zwei Dritteln mit den Angehörigen, in der Hälfte zudem mit ärztlichen Kollegen und in zwei Fünfteln der Sterbefälle mit Kolleginnen aus den Behandlungsteams besprochen, bevor sie entsprechende Massnahmen eingeleitet hatten (Schmid et al., 2016, S. 5, Table 3). Differenziert man den Einbezug der Patienten und ihrer Angehörigen nach Urteils-fähigkeit der Sterbenden, dann zeigt sich allerdings auch, dass ein beträchtlicher Teil der voll urteilsfähigen Patienten nicht in die Entscheidung miteinbezogen wurde (deutsch-sprachige Schweiz: 27 Prozent; französisch(deutsch-sprachige Schweiz: 29 Prozent; italienisch-sprachige Schweiz: 40 Prozent) (Hurst et al., 2018).

Urteilsfähigkeit bedeutsam

Aufschlussreich sind Angaben zu diesem Vorgehen in Abhängigkeit zur Urteilsfähigkeit der Sterbenden: War ein Patient oder eine Patientin am Lebensende noch voll urteils-fähig, haben Ärztinnen und Ärzte die Lebensende-Entscheidungen mit knapp drei Vier-teln der Betroffenen besprochen, mit anderen Worten: immerhin ein Viertel der urteils-fähigen Patientinnen und Patienten wurde – aus welchen Gründen auch immer – nicht in die Entscheidungsfindung miteinbezogen.

Waren die Sterbenden nur noch teilweise urteilsfähig, wurde gut ein Drittel von der Ärzteschaft in die Entscheidungen miteinbezogen, waren sie in keiner Weise mehr urteilsfähig, geschah dies noch in jedem zehnten Fall. Weitaus häufiger wurden Ent-scheidungen mit den Angehörigen besprochen: In 80 bis 90 Prozent der Situationen wur-den entweder die Betroffenen oder deren Angehörige einbezogen, und zwar unabhängig vom Status der Urteilsfähigkeit der Sterbenden. Insgesamt wurde etwa ein Drittel der in die Studie eingeschlossenen Sterbenden von ihren behandelnden Ärztinnen und Ärz-ten als urteilsfähig, ein Drittel als komplett urteilsunfähig und ein Sechstel als teilweise urteilsunfähig eingeschätzt; für das übrige Sechstel liegen keine Angaben zur Urteils-fähigkeit vor (Schmid et al., 2016, S. 9, Table S1).

Dass die unterschiedlichen Sichtweisen von Ärzteschaft und Sterbewilligen von Bedeutung sein können, zeigt beispielsweise eine Studie, die alle Fälle von Suizidhilfe, die sich zwischen 2001 und 2004 in der Stadt Zürich (N = 165 Fälle) ereigneten, unter-sucht hat. In dieser Studie wurden Gründe und Motive von Patientinnen und Patienten erkundet, die um Beihilfe zum Suizid baten (Fischer et al., 2009): Dabei hat sich gezeigt, dass für Sterbewillige psychische, existenzielle und soziale Leidenssymptome viel be-deutsamer für das Zustandekommen des Sterbewunsches waren als dies die behandeln-den Ärztinnen und Ärzte vermuteten.

Einbezug der Eltern bei frühgeborenen Kindern wird kontrovers diskutiert Eine repräsentative Befragung von Pflegefachpersonen und Ärzteschaft aus dem Be-reich der Neonatologie hat ergeben, dass die Frage, wer schwierige

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scheidungen am besten treffen sollte, kontrovers beurteilt wird. Auf die Frage, ob El-tern in Entscheidungen einbezogen werden sollten oder nicht, antworteten lediglich 15 Prozent der Befragten, dass die Eltern in jedem Fall die Möglichkeit haben sollten, die ihr Kind betreffenden Entscheidungen bestimmen zu können. Die grosse Mehr-heit oder etwa zwei Drittel der Befragten äusserten die Meinung, die Eltern sollten in die Entscheidungsfindung mit einbezogen werden; immerhin ein Fünftel gab an, die Eltern sollten nicht einbezogen werden, ihre Wünsche und Haltungen hingegen in Er-fahrung gebracht und bei einer Entscheidung berücksichtigt werden. Diese letzte Ant-wort wurde deutlich häufiger in der Romandie (über 30 Prozent) als in der Deutsch-schweiz (ca. 18 Prozent) und von den Pflegefachkräften (25 Prozent) deutlich öfter als von der Ärzteschaft (12 Prozent) gegeben (Bucher et al., 2018; Hendriks et al., 2017b).

Eine repräsentative Telefonumfrage hat dagegen ergeben, dass sich die grosse Mehr-heit der befragten Bevölkerung (ca. 80 Prozent) zugunsten einer gemeinsamen Ent-scheidungsfindung von Behandlungsteam und Eltern aussprechen. Nur ein sehr klei-ner Teil möchte, dass das Behandlungsteam oder die Ärzteschaft alleine entscheiden (Hendriks et al., 2017b).

Diese deutliche Diskrepanz in der Einschätzung durch die Fachpersonen und die Bevölkerung wird verständlicher, wenn die Begründungen der Pflegefachkräfte und Ärzteschaft mit einbezogen werden: Warum sollten die Eltern ihres Erachtens nicht di-rekt an einer Entscheidung, die Intensivbehandlung ihres Neugeborenen einzuschränken oder fortzusetzen, beteiligt werden? Fast alle gaben an, dass die Eltern ihre Meinung spä-ter revidieren und sich dann schuldig fühlen könnten, über 80 Prozent bejahten zu-dem, dass den Eltern damit eine Belastung erspart bleibe, durchschnittlich 70 Prozent waren der Meinung, die Eltern seien nicht in der psychischen Verfassung, solche Ent-scheidungen zu treffen. Die beiden letztgenannten Annahmen wurden von den Pflege-fachpersonen auffällig häufiger bejaht als von der Ärzteschaft. Bemerkenswert ist die Diskrepanz der Einschätzung bei der Annahme, die Eltern seien nicht in der Lage, die unterschiedlichen Entscheidungsmöglichkeiten und deren Folgen gänzlich zu verstehen:

Dies wurde von 80 Prozent der Pflegefachpersonen, hingegen nur von 40 Prozent der Ärzteschaft als Begründung für die bevormundende Vorgehensweise bejaht. Ebenfalls auffällig ist die unterschiedliche Einschätzung der Annahme, die Verantwortung sol-cher Entscheidungen liege ausschliesslich bei den behandelnden Ärztinnen und Ärzten:

Dies wurde von knapp zwei Dritteln der Romands, hingegen nur von gut einem Drit-tel der Deutschschweizer Expertinnen und Experten bejaht (Bucher et al., 2018; Hend-riks et al., 2017b).

Eine Erklärung für diesen sprachkulturellen Unterschied liegt möglicherweise in einer unterschiedlichen Gewichtung des medizinisch-fachlichen Wissens und, damit verbunden, der Autorität oder Kompetenz der Ärzteschaft, Entscheidungen im Sinne der Kinder und ihrer Familien richtig zu fällen.

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