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III. Die Landschaften Richters im Kontext des Gesamtwerkes

III.1. Die Gruppen der Landschaftsbilder

III.1.3. Landschaften nach eigenen Photovorlagen

III.1.3.3. Wolkenbilder und Ausschnitte

oberen Bildteils durch die ungestaltete untere Bildfläche, die eher auf die Realität des Bildes als Malerei denn auf die ihres Sujets verweist.

Das „Seestück“ von 1998109 [Abb. 42] scheint eine versöhnliche Geste an die Illusion zu sein: Die Zusammensetzung der gleichberechtigten Masse von Meer und Himmel wirkt „realistisch“, „natürlich“ auch in der Farbgebung.

Im Vordergrund rollen seichte Wellen ans Ufer und bilden dort weiße Schaumkronen, der Übergang von Meer und Himmel am mittigen Horizont ist leicht gebrochen, erscheint trotz der Farbkontraste fließend, die Lichtführung logisch. Dennoch evoziert auch dieses Bild einen leisen Eindruck des Unwirklichen, mit den fast schwarzen Steinen im Vordergrund, auf die der Blick in Ermangelung von Licht keinen Zugriff zu haben scheint, obwohl die weiße Wolke am Himmel darüber eindeutig von einer (nicht sichtbaren) Lichtquelle erhellt ist. Auch bleibt aufgrund der zum Teil bräunlichen Farbgebung des Meeres zum Horizont und rechten Bildbereich hin unklar, wo die Trennung von Land und Wasser liegt. In der Glätte der Oberfläche gleitet das Auge über das Bild, ohne wiederum einen klaren Bezugspunkt zu finden.

Gruppe der Vesuv- oder der Davos-Bilder zuordnen als auch als Vorläufer der Wolkenbilder bezeichnen, vor denen sie unmittelbar datieren.

Ebenso können zwei Arbeiten von 1969 als Vorläufer gelten, die den Titel „Wolken (grau)“112 tragen; sie sind in Schwarz-Weiß gehalten, als müsse Richter wieder erst die Malbarkeit des Sujets in farblos-nüchterner Distanziertheit erproben, bevor er sich an eine Chromatik wagt, die die Gefahr von subjektiver Stimmungshaftigkeit und Emotionalität birgt.

Ab 1970 kommen die ersten Wolkenbilder113 auf, als hätten sie sich aus den Himmelsdarstellungen der Seestücke entwickelt;114 nach einem kurzen Intervall entstehen 1976 und 1978 weitere Gemälde mit Wolkenmotiv.115 Die großformatigen, manchmal mehrteiligen Bilder zeigen meist die ruhigere Form der Einzelwolke, seltener kontrastreiche Ballungsformen und Gewitterwolken.

„Wolken (rosa)“116 ist in duftigen, an Kitsch grenzenden Pastelltönen gehalten, die an barocke Farbchromatik erinnern. In der Mitte des dreiteiligen Gemäldes wird der Himmel von einer unsichtbaren Lichtquelle erleuchtet, um die sich kranzartig hellblaue und rosa getönte Wolken gruppieren, wie um eine Aureole, deren Zentrum jedoch leer bleibt. Die Komposition erhält dadurch einen sakralen Charakter, was durch die Triptychonform unterstützt wird. Gebrochen wird dieser Eindruck gleichzeitig von den Kanten der drei Leinwände, die das Motiv senkrecht zerschneiden und damit den Illusionismus brechen.

Auch „Wolken (Fenster)“117 besteht aus zusammengesetzten Leinwänden, deren Schnittstellen deutlich sichtbar bleiben – die Farben der einzelnen Bildteile sind nicht bis zu den Rändern fortgeführt, so daß um jede

112 WV 231/1-2, beide Öl auf Leinwand, 150 x 200 cm.

113 WV 262 – 270-3, 276, 277, 279, 296.

114 Siehe hierzu vor allem WV 242 („Wolke“, 1969, Öl und Zeichnung auf Leinwand, 100 x 80 cm), das zwei montierte Photovorlagen von einer Meeresoberfläche und einer Einzelwolke in einer Konstellation wiedergibt, wie sie in realiter aus meteorologischen Gründen nicht auftreten kann.

115 WV 411 – 414 und 443/A-B (sie schließen an die Vesuv-Bilder an); siehe hierzu auch die

„Seestücke“ WV 375 – 378 mit sehr diffuser, atmosphärischer Malerei von See und Wolkenhimmel. Reine Wolkenbilder sind im Ausst.Kat. G.R. Hannover 1998 nicht aufgeführt, vielleicht, weil sie für die Kuratoren (darunter auch Richter) nicht im engeren Sinne zur Landschaftsmalerei zählen.

116 WV 267, 1970, dreiteilig, Öl auf Leinwand, 200 x 300 cm.

117 WV 266, 1970, vierteilig, Öl auf Leinwand, 200 x 400 cm.

Leinwand ein weißlicher Rahmen entsteht. Wie beim Blick aus einem vierteiligen Fenster wird die Anschauung des Wolkenhimmels von den Rahmen geteilt. Und in dem sechsteiligen Gemälde „Wolken (Sylt)“118, in der das panoramaartige Wolkenband wiederum durch die Begrenzungen der einzelnen Leinwände in unterschiedliche Segmente zerlegt wird (deren Rhythmus durchaus an Klappaltäre erinnern mag), ist das fünfte Segment auf den Kopf gestellt, was die illusionistische Erscheinung (der Wolkendarstellung sowie des Altareindrucks) aufhebt.

In ihrer schnellen Wandelbarkeit von Farbe und Gestalt in Abhängigkeit von Licht und Klima sind Wolken schwer zu erfassende „körperhafte Luftgebilde“119; ihre ständige Verwandlung ist – ähnlich wie bei den Seestücken – mit dem bloßen Auge ebenso wie malerisch oder zeichnerisch schwer zu fixieren. Richter bedient sich dazu – wie zahlreiche seiner (früheren) Malerkollegen – des Hilfsmittels der Photographie, hält einen kurzen Augenblick dieser Verwandlung als eine mögliche Form der atmosphärischen Naturvorgänge im Photo fest, um dann das Photo in das Überzeitliche des Gemäldes zu überführen. Der zunächst fehlende Kontext der Bilder läßt sie zu Studien eines natürlichen Illusionsphänomens werden, das ohne photographische Vorlage nicht „wirklich“ sein könnte; dennoch sind die Wolkenbilder nicht zu reinen Naturstudien reduziert, denn durch die malerische „Abbildung“ und vor allem die überhöhte Dimension der Gemälde erhalten sie eine „autonome“ Gültigkeit.

Im Kontext des Gesamtwerkes ist zu berücksichtigen, daß Richter die Wolkenbilder im „Atlas“ in Architekturskizzen montiert hat.120 Nicht nur Wolkenbilder, auch vereinzelte Gebirgsmotive und „Ausschnitte“ sind hierin zu finden, die Richter ebenfalls 1970 entwickelt hat.121 Die Ausschnitte basieren auf photographischen Nahaufnahmen von pastosen Farbschlieren, die Richter in überwiegend großformatige Malerei überträgt, indem er winzige

118 WV 296, 1971, sechsteilig, Öl auf Leinwand, 100 x 700 cm.

119 Grüterich, in: Ausst.Kat. G.R. Bremen 1975, S. 67.

120 Siehe Atlas, Ausst.Kat. G.R. München 1998, Tafel 218 – 252. Es handelt sich um fiktive, nicht zur Realisierung gedachte und wegen ihrer Dimension nicht zur Realisierung geeignete Räume; auch sind nicht alle Photographien von Wolkenformationen in Malerei übertragen worden. Siehe hierzu Elger 2002, S. 224.

121 WV 271 – 275, 288ff.

Details aus der Malpalette oder Bruchteile eines Pinselstrichs von einem Gemälde photographiert, auf die Dimension von 200 x 300 cm monumental vergrößert und „realistisch“ (im Sinne des in Kapitel V.1.2. bezeichneten Photorealismus) abmalt.122

Diese monumentalen Gemälde der Ausschnitte stellen eine weitere Schnittstelle zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion dar, zwischen

„objektiver“ Malerei nach Photovorlagen und „freier“ Malerei ohne Hilfskonstruktion: Wo die Photomalerei gegenständliche Motive aus Zeitungen in Schwarz-Weiß darstellte, beziehen sich die Ausschnitte auf eigene Photographien von farbigen, „zufällig“ durch den Pinselduktus und die daraus resultierende Farbmischung entstandenen abstrakten Mustern. Hat sich Richter nach dem Transponieren von fremden Zeitungs- und Urlaubsphotos in Malerei an das Malen nach eigenen Aufnahmen gewagt, so wird er nach dem Malen abstrakter Bilder nach Photovorlagen schließlich auch freie Abstrakte entwickeln, als benötige er bei der Erprobung eines neuen Sujets zunächst die Sicherheit einer „neutralen“, „nicht komponierten“

Vorlage, um sich endlich auch an eigene Kompositionen zu wagen.

Zunächst wirken diese monumentalisierten „Ausschnitte“ wie die reine Demonstration der malerischen Mittel ohne offensichtlichen darstellenden Zweck; sie erhalten wie die Grauen Bilder eine selbständige, allerdings sehr plastische Realität. Zugleich wecken sie teilweise Assoziationen an extrem nahsichtige Ausschnitte von Wellen oder Landschaften und bringen das abstrakte Bild in den Bereich gegenständlicher Wahrnehmungsmöglichkeiten. Von daher wären die hier benannten Ausschnitte ebensogut unter dem Kapitel der abstrakten Landschaften zu behandeln.

So steht beispielsweise ein „Ausschnitt“123 an einer solchen Wende zwischen Wolkenbild und Abstraktion. Wie die ersten Wolkenbilder als großformatiges Triptychon angelegt, zeigt diese Arbeit Ballungen von Farbfeldern in den Grundfarben Rot, Gelb und Blau, die wie von unsichtbaren Kräften bewegt ineinandergreifen und sich an den Verwirbelungen zu Mischfarben verbinden. Das Gemälde weckt trotz seiner

122 Diese Methode erinnert an Richters Vorgehensweise bei den Teydelandschaften – siehe Kapitel IV.

123 WV 291, 1971, Öl auf Leinwand, dreiteilig, 250 x 375 cm.

abstrahierten, „unnatürlichen“ Farbgebung Erinnerungen an Wolkenformationen.

In den fiktiven Architekturen seines „Atlas‘“ stellt Richter die Wolken- (und Landschafts-)Bilder gleichwertig neben die Ausschnitte124. Es scheint, als setze er das Sinnbild vom Gemälde als Fenster nach Leon Battista Alberti unmittelbar um, das auch Richter als solches sieht. Die Austauschbarkeit der Motive illustriert Richters Aussage, der Betrachter suche auch im Abstrakten den Vergleich mit der Natur.125 Mit der Gleichsetzung von Wolkenbildern und Ausschnitten im „Blick aus dem Fenster“ zeigt er die Analogie von Gegenständlichkeit und Abstraktion, wird doch auch die Darstellung einer Wolke zur reinen Farbmalerei jenseits aller (barocken oder romantischen) Assoziationspotentiale, so wie jedes Motiv, ob figürlich oder nicht, in dem Augenblick, da es ins malerische Bild übertragen ist, zu einer Abstraktion der Wirklichkeit wird. Damit sind auch Landschaftsbilder letztlich abstrakte Bilder;

dieser Gedanke wird gestützt von der oben gegebenen Definition von Landschaft, die diese als geistiges und damit abstraktes Konstrukt bezeichnet.

Die „Ausschnitte“, die auch als landschaftliche Abstraktionen oder abstrahierte Landschaften zu begreifen sind, stehen ihrerseits auch in Beziehung zu den handvermalten Monochromen und zu den Parkstücken und Vermalungen von 1971, insofern, als sie zwischen der Aufforderung, das gemalte Bild mit der Realität abzugleichen und der, es in seiner autonomen malerischen Qualität anzunehmen, fluktuieren.126