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III. Die Landschaften Richters im Kontext des Gesamtwerkes

III.1. Die Gruppen der Landschaftsbilder

III.1.3. Landschaften nach eigenen Photovorlagen

III.1.3.1. Panoramalandschaften

Bei der Gruppe der Panoramalandschaften handelt es sich um seitlich offene, scheinbar unbegrenzte Landschaften mit zunächst niedriger Horizontlinie und weitem, meist leicht bewölktem Himmel.67 Die Kamera, das Photo und das davon abgemalte Bild gehen auf Distanz, landschaftliche Details sind kaum erkennbar. Allmählich rücken einzelne Landschaftselemente stärker ins Blickfeld und die Horizontlinie nach oben;

dennoch nimmt der Himmel stets mindestens die Hälfte des Bildes ein. In ihrer Weite wird die Natur als Landschaft unüberschaubar und der Betrachter vor ihr bleibt auf Grund eines fehlenden Vordergrundes ohne festen Standort.68

Zwischen den Städte- und Gebirgslandschaften und photorealistischen sowie konstruierten Bildern in Schwarz-Weiß wird diese Gruppe 1968/1969 von der Reihe der Korsika-Bilder eingeführt, die im ersten Familienurlaub Richters entstanden.69 Sie bereiten die eigentlichen Panoramalandschaften vor und werden – nach einer Pause Anfang der siebziger Jahre – 1976 mit den Vesuvbildern wieder aufgegriffen. Richter malt 1985 bis 1987 erneut etliche Bilder mit Panoramamotiv.

Nach eigenen Photos gemalt, ist die Farbpalette der Korsikabilder70 heller und feiner abgestuft als in den ägyptischen Landschaften nach Zeitschriftenvorlagen, was zu einem gewissem Grad durch das Filmmaterial der Photovorlage bedingt ist. Die Bilder zeigen in nahezu quadratischem Format den weiten Blick über eine Wasserfläche, die das untere Drittel der Bilder einnimmt.71 Darüber erhebt sich ein diffuses, wolkenverhangenes

67 Dieses Schema der Panoramalandschaften übernimmt Richter auch für die Seestücke.

68 „Als müßte die Ansicht ständig erneut wie durch ein Zugfenster anvisiert werden“, so Grüterich, in: Ausst.Kat. G.R. Bremen 1975, S. 62.

69 Elger 2002, S. 211.

70 WV 199 – 201, 211 und 212 [Abb. 2]. Das letzte Motiv fällt gestalterisch anders aus als die ersten vier, die hier behandelt werden.

71 Das Format ist möglicherweise auf eine Polaroid-Vorlage zurückzuführen.

Gebirgspanorama. Im Formalen wie im Chromatischen organisiert Richter die Bilder auf planes Gleichmaß hin; ihnen fehlt ein einführender Vordergrund, und etwaige Einzelheiten verlieren sich in der „Unschärfe“ der Darstellung.

In „Korsika“72 [Abb. 5] suggeriert die Helligkeit der Farben auf die Entfernung zunächst eine gewisse Heiterkeit, bei näherer Betrachtung jedoch wird die emotionale Dimension des Urlaubsmotivs durch die kühle, etwas verwaschene Tönung reduziert. Durch die fehlende „Komposition“ wird es einem Amateurphoto ähnlich73 – so entsteht ein Klischeebild, auf dem allerdings „selbst der südliche Sommer ohne Temperatur“74 bleibt.

Bei „Korsika (Schiff)“75 ist das Bild in gedämpfter bräunlicher Tonigkeit gehalten. Es stellt im Gegensatz zu dem belanglosen Motiv des ersten Beispiels eine dramatisierte Szene dar. Der Blick des Betrachters richtet sich auf ein auf der Mitte der Grenzlinie zwischen Meer und Land liegendes Schiff, das sich hell vor der dunklen Bergkulisse abhebt; aus der im Zentrum des Bildes aufgerissenen Wolkendecke fällt wie ein Bühnenspot helles Licht auf das Schiff und das umliegende Wasser, so daß eine Art auratischer Überhöhung dieses einzigen Bilddetails entsteht. Die „theatralische“

(theaterhaft inszenierte) Komposition weckt Assoziationen an Andachtsbilder sowie an romantische Motive sowohl im Sinne der Epoche der Romantik76 als auch im Sinne der sehnsuchtsvoll-emotionalisierten Urlaubsphotographie77. Doch auch hier wird der Stimmungsgehalt der Landschaft in der Übertreibung der Mittel durchbrochen, die Farben erweisen sich als kühl und das Motiv in seiner Unschärfe und der Unerreichbarkeit des Schiffes als unnahbar.78

72 WV 199, 1968, Öl auf Leinwand, 86 x 91 cm.

73 Zum Amateurphoto siehe Kapitel III.2.2.

74 Wedewer 1975, S. 47.

75 WV 201, 1968, Öl auf Leinwand, 86 x 91 cm.

76 Siehe hierzu Kapitel IV.

77 Die „Komposition“ tausender von Urlaubsphotos rekurriert auf das Erbe der Landschaftsdarstellung in Malerei und Photographie, die ihrerseits das Sehen und visuelle Empfinden des Betrachters beziehungsweise des Amateurphotographen geprägt haben.

78 Zum Vergleich mit der Romantik siehe Kapitel IV. Das Schiff Richters ist so weit entfernt, daß eine symbolische Identifikation im Sinne Caspar David Friedrichs beispielsweise kaum möglich erscheint.

Ähnlich dunstige Landschaftsbilder mit Hell-Dunkel-Werten zeigen die Arbeiten vom „Vierwaldstätter See“79: In der Erprobung extremer Lichteffekte wirken sie wie dramaturgisch „komponiert“; da sie jedoch wie die frühen photorealistischen Bilder in schwarz-weiß gehalten sind, entgehen sie einem allzu emotionalen Stimmungsgehalt, dem sie „in Farbe“ leicht unterlegen wären. Wie das Gemälde von der „Alster“ bleiben diese Arbeiten trotz ihres Abbildungscharakters „unrealistisch“ in dem Sinne, als die „Realität“ nicht farblos ist. In der Entbindung von der Chromatik schlagen sie auch eine Brücke zwischen den Städte- und Gebirgslandschaften und den späteren farbreduzierten Davosbildern.

Die Vesuv-Reihe von 197680 verbindet die Korsika-Bilder mit den frühen Landschaftspanoramen, indem sie einerseits die Urlaubsthematik aufgreifen, andererseits einen extrem tiefen Horizont aufweisen. Während jedoch die bisherigen Bilder den Blick auf eine Landschaft zeigten, so richtet sich hier der Blick vom Land auf Himmel und Meer, so daß die Vesuv-Bilder zugleich eine Verbindung zu den (bereits früher entwickelten) Seestücken und den Wolkenbildern darstellen. Außerdem sind die Vesuv-Bilder als Vorläufer der Davos-Reihe von 198181 zu sehen.

Der Übergang zwischen Himmel und Meer ist in diesen Panoramen kaum auszumachen; er verliert sich im Dunst zarter Wolkenschleier. Im Vordergrund rücken Landschaftselemente wie Baumwipfel und Bergspitzen ins Bild; sie wirken aber unmotiviert und haltlos in der Weite des dahinterliegenden Panoramas. Sowohl der Standpunkt des Photographen in der Natur als auch der des Betrachters vor dem Bild sind in Frage gestellt.

„Vesuv“82 [Abb. 16] folgt zwar den ungeschriebenen Gesetzen einer

„guten Komposition“ der Photographie – die Felsenspitze und die im Meer liegenden Berge sind im Bild zentriert, ein Stück Baumkrone am rechten Bildrand soll die Größenverhältnisse angeben und Tiefenperspektive vermitteln –, doch evozieren das Unspektakuläre, Banale des Motivs und die

„Unschärfe“ seiner Darstellung einen „unprofessionellen“ Eindruck, als

79 WV 226/1-4, 1969, Öl auf Leinwand, -1 und -2 je 120 x 150 cm, -3 und -4 je ca. 100 x 130 cm. 80

WV 404 – 410.

81 Zu den Seestücken und Wolkenbildern sowie der Davos-Reihe siehe unten.

82 WV 408, 1976, Öl auf Holz, 73 x 105 cm.

handele es sich bei der Photovorlage um eine mißlungene Amateuraufnahme83, in der das ins Visier genommene Motiv aus dem Zentrum beziehungsweise aus dem Blick geraten ist.

Eine der ersten Panoramalandschaften mit der für diese Gruppe typischen „Komposition“ ist die „Landschaft bei Hubbelrath“84 [Abb. 6]: Sie zeigt einen tiefen, kaum bewegten Horizont, eine flache, dunkel gehaltene Landschaft mit einem hohen, fast leeren Himmel in geringer farblicher Differenzierung. Eine Straße am rechten Bildrand vermittelt in dem ansonsten unbetonten Vordergrund weit in die Bildtiefe hinein und verweist zusammen mit dem Straßenschild auf die Gestaltung der Kulturlandschaft durch Menschenhand. Am Horizont, der in sanfter Unschärfe endet, werden entfernt Bäume sichtbar; vor den helleren Himmel schiebt sich von links eine dunklere Wolkenzone und gibt ein geringes Zeichen der Bewegung an. Die unabgeschlossene Landschaft verzichtet auf eine „interessante“

Komposition, als handele es sich um einen Ausschnitt aus einem gleichförmig weiterlaufenden Band. Die Verteilung der Massen, Nähe und Ferne, Licht und Schatten zeigen sich in harmonischer Ausgeglichenheit, obwohl die malerische Behandlung eher flächig und körperlos bleibt85 und Bildelemente und Farbverteilungen erst vom Betrachter durch einen Wiedererkennungseffekt in ein räumliches Verhältnis gesetzt werden müssen.

Die zurückhaltende Farbigkeit erscheint „natürlich", frei von dramatischen Stimmungseffekten, und erwirkt ungeachtet des Friedlich-Atmosphärischen und Malerischen den Eindruck des Tatsächlichen. Das Bild ist menschenleer, aber fern von falscher Idealität – das garantieren die photographische Authentizität, die Zeichen der Zivilisation (Straße und Verkehrsschild) sowie die „Banalität“ des Motivs, die der Titel betont.86

83 Damit stehen sie außerhalb der Landschaften in Beziehung zu Motiven nach Amateurphotos wie dem der „Familie am Strand“ und dem kollektiven Streben nach der Urlaubs-Idylle. Italien im allgemeinen und der Vesuv im Besonderen („Neapel sehen und sterben“) eigenen sich als Motivtypus des Urlaubsbildes bestens für die kollektive Erinnerung – vgl. dazu den u.a. von Germer konstatierten Memorialcharakter des Oktoberzyklus (Stefan Germer, Ungebetene Erinnerung, in: Gerhard Richter. 18. Oktober 1977, Museum Haus Esters Krefeld, Portikus Frankfurt/M 1989, Köln 1989, S. 51-53).

84 WV 221, 1969, Öl auf Leinwand, 100 x 140 cm [Abb. 4].

85 Die photographische Vorlage bleibt sichtbar; die Glätte des Farbauftrags bewirkt, daß das Bild von weitem wie ein Photo erscheint.

86 Ähnliche Motive zeigen unter anderem die Arbeiten WV 227 – 230, 243.

Solch unspektakuläre Landschaften wie die eben beschriebene stellt Richter auch um 1985 in einigen Bildern dar87, die als Grenzgänger zwischen den Panoramalandschaften und den Landschaftsausschnitten gelten können, da sie zum Teil über weite Landschaften mit unbewegtem Horizont hinweg-, zum anderen Teil in näher gerückte Landschaftsausschnitte mit hoher Horizontlinie hineinblicken. Unter diesen kann „Troisdorf“88 zu den Panoramen gezählt werden; das Gemälde gibt mit einer etwa mittigen Horizontlinie, fehlendem Vordergrund, einem sehr dunkel gehaltenen Mittelgrund und fast einheitlich grauem Himmel eine weite Landschaftsansicht aus der Gegend um Troisdorf wieder. Erneut fehlen Plastizität und Körperlichkeit der einzelnen Bildelemente; die Tiefenperspektive erschließt sich über die farbliche Staffelung der Bäume unterhalb des Horizontes von fast schwarzer zu grau-blauer Farbgebung. Die Industriestadt Troisdorf, süd-östlich von Köln gelegen, gehört nicht zu den kulturhistorischen, touristischen Attraktionen der Gegend – dennoch erhebt Richter ihre landschaftliche Umgebung89 zum überzeitlichen Motiv eines Gemäldes.

In der „Landschaft“90 ist der Horizont ausnahmsweise in extreme Höhe gerückt: In Umkehrung des üblichen Panoramaschemas füllt der dunkle, kaum zu differenzierende Vordergrund zwei Drittel des Bildes; darüber öffnet sich horizontal ein gelblich-weißer, von einer untergehenden Sonne überstrahlter Streifen Himmels, der von einer ebenfalls horizontal gelagerten, grau-blauen Wolkenschicht abgeschlossen wird. An der Überzeichnung des Lichtkegels, der von der Sonne ausgeht91 und über die Hügelkette strahlt, wird die photographische Vorlage wieder sichtbar. Das menschliche Auge wäre kaum in der Lage, direkt in das Sonnenlicht zu blicken; andererseits könnte es dennoch Einzelheiten im Vordergrund differenzieren. Die Kamera dagegen läßt sich auf die fokussierte Lichtintensität einstellen, registriert aber dafür im Vordergrund nur noch fast einheitliche Dunkelheit.

87 WV 572/1-6.

88 WV 572-2, 1985, Öl auf Leinwand, 85 x 120 cm.

89 Dem Titel entsprechend wird die Stadt mit ihrer Umgebung gleichgesetzt.

90 WV 586-2, 1985, Öl auf Leinwand, 100 x 140 cm.

91 Die meisten Landschaftsbilder Richters weisen keine eindeutige Lichtquelle auf.

Eine der letzten Panoramadarstellungen ist „Chinon“ von 198792 [Abb.

31]. Wie in der „Landschaft bei Koblenz“93 oder dem „Feldweg“94 liegt der Horizont mittig im Bildausschnitt, der Himmel ist wolkenlos und das Land in mehrere Ebenen gestaffelt. Grashalme oder ein Weg führen in das Bild ein und leiten den Blick in die Tiefe der Landschaft, die sich mit Wiesen, Äckern, Sträuchern und größeren Baumgruppen abwechslungsreich, aber eindeutig als „kultivierte“, von Menschenhand domestizierte und gestaltete Landschaft zu erkennen gibt. Die Farbgebung erscheint „natürlich“ und homogen; weder schrille Farben noch einzelne Details stören das harmonische Gleichgewicht der „Komposition“, in der alle Konturen unscharf bleiben, als hätte die Kamera für die Photovorlage des Bildes einen Gegenstand zwischen den dargestellten Ebenen fokussiert, der nicht mehr da ist. So gleitet das Auge über die Landschaften, ohne von einem Fixpunkt aufgehalten oder abgelenkt zu werden. Jeder Teil des Bildes wird dem anderen gleichwertig.

Die Panoramen bleiben von einer gewissen Unbestimmtheit, mit der zwar vom Teilanblick der Natur auf das Naturganze geschlossen werden kann; man kann sich jedoch mangels lokaler Besonderheiten „weder ein individuelles noch ein universelles Bild“95 von diesen Landschaften machen.