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III. Die Landschaften Richters im Kontext des Gesamtwerkes

III.1. Die Gruppen der Landschaftsbilder

III.2.6. Motiv und Inhalt

„Landschaftsbild“ handelt. Daß die Photographie als Bildvorlage durchscheint, ist ein typisches Paradoxon der Richterschen Kunst zwischen Rückbezug auf die örtlich und zeitlich definierte (photographische) Wirklichkeit und überzeitlicher und ortloser autonomer Malerei.

transponiert und dort im kollektiven Gedächtnis verankert, während die Photographien überwiegend in Vergessenheit geraten.361

Die Motivvielfalt wurde analog zu Richters Stilpluralismus lange als

„Inhaltslosigkeit“ und „Absichtslosigkeit“ bezeichnet, die Wahl der Sujets als zufällig; in der frühen Rezeption von Richters Werk wurden kaum motivische Zusammenhänge gesehen, und wenn, dann wurden diese auf die mediale Vermitteltheit der Sicht auf die Realität bezogen und die Summe der Motive auf die Universalität der kunstgeschichtlichen Tradition.362

Daß der scheinbar fehlende Konsens als Beliebigkeit gewertet wurde, war Richter zunächst offenbar recht; das gab ihm die Möglichkeit, sich dem

„Bekenntnis zum Sujet“363 zu entziehen und so zu tun, als habe es tatsächlich keine Bedeutung.364 Gleichzeitig verwies Richter bereits 1966 darauf, daß ihm an den Motiven seiner Bilder etwas liege und was ihn daran fasziniere,365 und er suchte diese Ambivalenz des Dargestellten in der Ambivalenz seiner Malerei widerzuspiegeln. Richter betonte schließlich, daß er sehr wohl wisse, was er wolle366, und seine Motive nie beliebig oder

361 Siehe hierzu Honnef 1976, S. 28ff., und Elger 2002, S. 117. „Unvergeßliche“ historische Photomotive (wie Robert Capas „Loyalistischer Soldat im Moment seines Todes“ (1936) oder Nick Uts Bild von dem Mädchen „Kim Phuc“ (1972) als Opfer eines Napalmangriffs im Vietnamkrieg) sucht man unter Richters Motiven vergeblich. Das Kennedy-Attentat beispielsweise erinnert Richter nicht, indem er Sensationsphotos des Erschossenen zur Vorlage wählt, sondern ein „banales“ Photo der Witwe, die in ihrer privaten Trauer für unzählige und namenlose Hinterbliebene stehen könnte; in der malerischen Umsetzung und dem trivialen Titel „Frau mit Schirm“ weist kaum etwas auf die private und politische Tragödie hin. Erst das Hintergrundwissen um den Kontext der Bildherkunft öffnet dem Betrachter die Dimensionen des Bildes – ähnlich der Komplexität mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Gemälde.

362 Honnef 1997, S. 12-17.

363 Notizen 1986, in: Text S. 121.

364 Notizen 1964, in: Text S. 19. Die Herkunft der Vorlagen sei Richter weniger wichtig gewesen (siehe Elger 2002, S. 66 und S. 167), wenngleich bei den Landschaften auffällt, daß die Vorlagen sehr bald aus eigener Hand entstehen. „Vielleicht war es gut so, wenn es so aussah, als wäre alles zufällig und beliebig gewesen.“ Richter im Interview mit Benjamin H.D. Buchloh 1986, in: Text S. 133.

365 „Der Gegenstand ist mir so wichtig, daß ich sehr viel Mühe bei der Auswahl des Sujets aufwende, so wichtig, daß ich ihn male. Mich fasziniert das Menschliche, Zeitbedingte, Reale, Logische an dem Geschehen, das gleichzeitig so irreal, unverständlich und zeitlos ist.

Und ich möchte es so darstellen, daß diese Gegensätzlichkeit erhalten bleibt.“ Gerhard Richter im Interview mit Dieter Hülsmanns und Fridolin Reske 1966, in: Text S. 53.

366 Notizen 1986, in: Text S. 121: „Aber es ist auch nicht wahr, daß ich nichts Bestimmtes wollte [...] Ich suche also etwas ganz Bestimmtes; ich kann daraus schließen, daß ich weiß, was ich will.“

inhaltlos seien,367 sondern einer Befindlichkeit folgten, die preiszugeben Richter sich lange sträubte.368

In der jüngsten biographischen Publikation über Gerhard Richter legt Dietmar Elger die private Motivation bei der Wahl der Sujets offen.369 Die familiären Motive von „Onkel Rudi“, „Tante Marianne“ oder dem Vater „Horst mit Hund“ verweisen auf tragische Schicksale hinter einer oberflächlich heiteren Fassade, die Gerhard Richter persönlich betreffen, die er aber gleichermaßen mit Tausenden anderer Menschen teilt.370 Die Verarbeitung der eigenen Vergangenheit im Nazideutschland und in der DDR und die Sehnsuchtsbewältigung nach einer intakten bürgerlichen Familie und dem eigenen Heim als harmonischem Rahmen dafür, wie sie in seinen Bildern erfolgt, wird durch den kunsthistorischen und medialen Kontext zugleich auf eine allgemeine, öffentliche Ebene gehoben. Bilder nach Zeitungsvorlagen wie die scheinbare Familienidylle am Strand (die Flucht der „Terese Andeszka“ aus der DDR) oder (die ermordete Prosituierte) „Helga Matura mit Verlobtem“ ergänzen die privaten Bilder auf „objektiv“ medialer Ebene, und aus subjektivem Bildrepertoire stammende Arbeiten wie „Ema“, „Betty“ oder

„Lesende“ greifen kunsthistorische Vorbilder auf,371 um die private Bedingtheit der Motive zu relativieren.

367 Interview mit Benjamin H.D. Buchloh 1986 in: Text S. 133: „beliebig waren die Motive nie, dazu habe ich mir viel zu viel Mühe geben müssen, um überhaupt ein Photo zu finden, das ich benutzen konnte“. Die Kriterien waren “Ganz bestimmt inhaltliche – die ich früher vielleicht verleugnet habe, indem ich behauptete, mit Inhalt habe das gar nichts zu tun, weil es eben nur darum ginge, ein Photo abzumalen und Gleichgültigkeit zu demonstrieren.“ Ibid.

S. 144: „Wieso sollten meine Bilder inhaltlos sein“.

368 Nach den Erfahrungen mit und dem Scheitern an dem Informel war Richter die Subjektivität der Motive unangenehm, so Elger 2002, S. 161.

369 Elger 2002, S. 72. Siehe bereits das Interview mit Roald Nasgaard, in: Gerhard Richter.

Paintings. Ausst.Kat. Museum of Contemporary Art Chicago u.a. 1988, hg. v. Roald Nasgaard, London 1988, (S. 32-111) S. 106.

370 „Onkel Rudi“ und „Tante Marianne“ als Fallbeispiele kontrapunktischer, aber exemplarischer Schicksale in der Zeit des Nationalsozialismus: Der eine als Soldat in der Ambivalenz von Stolz und Angst, ideologischem Patriotismus und Schicksalsergebenheit, Heldentum und Tod, und bar all dieser Assoziationen freundlich in die Kamera lächelnd wie der unbescholtene Onkel; die andere zusammen mit dem Künstler selbst im unschuldigen Kindesalter ohne Hinweis auf das grausame Schicksal der Euthanasie dargestellt. Zu den privaten und zugleich kollektiven Erfahrungen gehören neben der „Klorolle“ oder dem

„Wäscheständer“ auch heimatliche Landschaften wie die Gegend um Köln, Düsseldorf oder Dresden.

371 Beispielsweise Marcel Duchamp („Nu descendant un escalier“, 1912) oder Jan Vermeer („Briefleserin in Blau“, um 1663-64, „Briefleserin am offenen Fenster“, um 1657).

Innerhalb des Gesamtwerkes decken auch die Landschaftsbilder viele motivische Bereiche der malerischen Tradition ab – Richter malt Panoramen, Ausschnitte, Gebirge, Hügellandschaften, Ebenen, Felder, Wiesen, Parks, Wolken- und Seestücke; zugleich stellt er sich damit der aktuellen Diskussion über Malerei.372 So, wie sich die anderen Motive seines Œuvres aus dem kunsthistorischen, medienspezifischen oder werkimmanenten Kontext erklären lassen, so sind auch die Landschaftsbilder aus diesen Bezugsfeldern zu erklären.

Kunsthistorisch betrachtet, entsteht beispielsweise die Serie der schwarz-weißen Städte- und Gebirgsansichten in der Auseinandersetzung mit expressiver gestischer und monochromer Malerei373 – inwieweit auch Vorbilder der klassischen Moderne wie der Impressionismus Einfluß übten, läßt sich nicht definitiv klären.374 Entscheidender als dieser mittelbare Einfluß scheint jedoch der unmittelbar zeitgeschichtliche zu sein375 – während die als romantisierend bezeichneten Landschaften die Frage nach der Malbarkeit von Bildern, wie Caspar David Friedrich sie schuf, thematisieren.376

Medienspezifisch ist die Wahl der Landschaftsmotive insofern, als sie zunächst durch den Kontext der photorealistischen Bilder nach Zeitungsvorlagen bedingt ist, wo die Landschaften ein Genre unter vielen ausmachen. Wie die Bilder von banalen Gegenständen oder sensationellen Ereignissen die Wahrnehmung der alltäglichen oder politischen Wirklichkeit über die Vermittlung von Photographie und Medien hinterfragen, beleuchten die der über Photovorlagen vermittelten Landschaften gleichermaßen die Wahrnehmung der Umwelt in einem vergleichbar breiten Spektrum, von stimmungshaften Gebirgslandschaften im Nebel bis zu unscheinbaren

„Hinterhofecken“.377

Werkimmanent lassen sich die Landschaftsmotive, wie oben dargelegt, ohne Ausnahme mit den methodischen und grundlegenden Aspekten der angrenzenden „Werkgruppen“ und des Gesamtwerks verknüpfen: mit den photorealistischen Bildern, insofern die Landschaften alle nach photographischen Vorlagen entstanden, und mit den Abstrakten, da Richter

372 Siehe Kapitel V.2.

373 Elger 2002, S. 203.

374 Vgl. Grüterich, in: Ausst.Kat. G.R. Bremen 1975, S. 48 und siehe unten Kapitel IV.2.

375 Siehe Kap. V.

376 Siehe hier unten und Kap. IV.

377 „Davos“, „Venedig“, „Domecke“, „Haus“; siehe hier weiter unten.

sie als deren Analogie betrachtet; die schwarz-weißen Städte- und Gebirge u.a. mit den Monochromen; die Parkstücke mit den Vermalungen, und die vermalten Landschaften als Bindeglied zwischen den photorealistischen und den abstrakten Bildern.

Der eigentliche Auslöser für Richters Entscheidung, überhaupt Landschaftsmotive zu malen, ist nicht eindeutig auszumachen.378 Es ist das Photo, das ihm die Möglichkeit gibt, sich nicht nur allen anderen figurativen Bildbereichen, sondern auch der traditionellen Landschaft zu nähern, insofern es nach seiner Sicht für die Landschaft die gleichen Kriterien der Objektivität erfüllt wie für die übrigen Motive. Dennoch erweist sich der Rückgriff auf eigene Photovorlagen, nach denen die meisten Landschaftsbilder entstehen, als schwierig: „Ich sehe unzählige Landschaften, photographiere kaum eine von 100.000, male kaum eine von 100 photographierten.“379 Richter wird bei der Wahl seiner Motive durch eine

„Befindlichkeit“ gesteuert, die Elger als eine „private Attitüde“ aufdeckt.380 Folglich greift Richter nur Motive auf, die seine eigene, persönliche Erfahrung tangieren,381 seiner momentanen inhaltlichen Auseinandersetzung mit bestimmten Themen oder Problemen entsprechen382 oder mit einem bestimmten Gemütszustand korrespondieren383. Allerdings darf man davon ausgehen, das dies auf alle ernstzunehmenden Künstler zutrifft.

Zu den ersten Landschaftsmotiven („Sphinx, Pyramiden etc.“) äußerte Richter sich in einer skizzenhaften Werkübersicht von 1968, die erstmals

378 Elger (2002, S. 211, 213ff.) nennt als Grund den „Rückzug“ von der avantgardistischen Kunstszene „in die private Idylle“ (siehe hierzu Kapitel V); und auch Storr (in: Ausst.Kat. G.R.

New York 2002, S. 64) bezeichnet das Malen der ersten Landschaften (vermutlich der Korsika-Bilder, da dies die ersten Landschaften nach eigenen Urlaubsphotos sind) als privates „Vergnügen“.

379 Richter, Notizen 1986, in: Text S. 121. Und im Interview mit Hans-Ulrich Obrist 1993, in:

Text S. 256: „Eigentlich müßte ich es wissen, daß es mir fast nie gelang, ein Photo für ein Bild zu machen.“

380 Elger S. 72, 214, 288. Richter im Interview mit Jonas Storsve 1991, in: Text S. 216: „Aber Landschaften malen Sie immer noch?“ – „Auch nicht mehr.“

381 Z.B. der Wäschetrockner, „das war ja mein Wäschetrockner“, so Richter im Interview mit Sabine Schütz 1990, in: Text S. 200.

382 Z.B. die Bilder von Familien, die Richter selbst kannte oder die ihn an bekannte Familien und Schicksale erinnerten (ibid.)

383 Z.B. der „Hirsch“, den Richter selbst als Jugendlicher im Wald photographiert hatte (ibid.

S. 201).

Aufschluß über seine Motivwahl lieferte. Darin beschreibt er die nach Zeitungsausschnitten gemalten Landschaften als „anonym, prospekthaft, nicht individuell erfahren“.384

Die schwarz-weißen Städteansichten entwickelten sich ursprünglich aus einem Auftrag für ein photorealistisches Bild385, tarnen jedoch gleichermaßen die privaten Erinnerungen an das im Krieg zerstörte Dresden.386 Die Vorlagen zu den Korsika-Bildern entstanden 1968 im ersten Urlaub, den Richter sich leisten konnte,387 und geben noch am ehesten ein Klischeebild wieder, das Urlaubssehnsucht suggeriert. Die Eisbilder und die Seestücke nach Photographien von seiner Grönlandreise spiegeln unter anderem Richters melancholische Stimmung in einer Phase der privaten Krise – die Reise nach Grönland bezeichnet Richter als „Alibi“ für die Suche nach

„Sinnbilder[n] für seine persönliche gescheiterte Hoffnung“ auf ein bürgerliches Familienglück388 – und auch die Davosbilder sind in ähnlicher Situation entstanden.389 Wenn man dem Biographismus Elgers folgen will, scheint die „Befindlichkeit“, von der Richter als Voraussetzung für die Entstehung seiner Bilder sprach,390 die Korrespondenz seiner eigenen Stimmung mit dem Potential der photographischen Vorlage zu betreffen, die einerseits der Trauer und dem Schmerz gegenüber der eigenen Situation entspricht – dann bleiben die Farbwerte entsprechend gedämpfter – oder einer optimistischen Stimmung – dann entstehen hellere Bilder, nie aber von solcher Leuchtkraft wie bei manchen Abstrakten. Tatsache ist, daß ein Künstler sich von solcherlei Befindlichkeiten nicht gänzlich freimachen kann, daß sie aber nicht interpretatorische Grundlage seiner Werke sein kann, sofern diese nicht primär der Selbsttherapie dienen wollen; es bleibt unbestritten, daß Richters Gemälde weit über diesen Ansatz hinausweisen.

384 Gerhard Richter, Arbeitsübersicht [zu den Arbeiten von 1962 bis 1967], in: 14 x 14 Baden-Baden 1968, o.S.; die frühen Landschaften decken damit ein anderes motivisches Spektrum ab als beispielsweise die, so Gerhard Richter, „bürgerlich intimen“ Familienbilder oder die „distanzierten“ Portraits; siehe Elger 2002, S. 162f.

385 Siehe oben Kapitel III.1.2.

386 Gerhard Richter, Ausst.Kat. Tate Gallery London 1991, Cambridgeshire 1991, S. 126, und Elger 2002, S. 203. Da Dresden als Motiv in dieser Werkgruppe nicht identifizierbar ist, läßt sich dieser private Anlaß für die schwarz-weißen Städtebilder nur bedingt assoziieren.

387 Elger 2002, S. 211.

388 Ibid., S. 254.

389 Ibid., S. 257.

390 Vergleichbar den Vanitas-Bildern von Schädeln und Kerzen, die Richter ebenfalls in besonderer Befindlichkeit malt, als er sich mit Thema Tod und eigener Vergänglichkeit auseinandersetzt (ibid., S. 326, 338).

Daß jedoch eine Entsprechung von Bildstimmung und Betrachterstimmung dem Landschaftsmotiv immanent sein muß, wie oben dargelegt, trifft auch auf Richter zu, wenn dieser bei der Auswahl von Bildvorlagen zum Betrachter seiner eigenen Photos wird. Das Potential, durch die malerische Qualität und das Sujet Stimmung zu erzeugen, haben alle seine Landschaften, auch wenn sie im Rückgriff auf die Photovorlage objektiviert sind und distanziert und unemotional bleiben.391

Betrachtet man die Landschaften im Vergleich zu den schwarz-weißen Photobildern und deren Spektrum vom „sensationellen“ bis zum „banalen“

Motiv, so ist festzustellen, daß auch das Landschaftssujet über diese Bandbreite verfügt: Richter berücksichtigt „berühmte“ Orte wie Davos oder Venedig392 ebenso wie unspektakuläre Gegenden „bei Hubbelrath“ oder

„Troisdorf“ – die einen Ziel seiner privaten Reisen, die anderen aus dem unmittelbaren Umfeld seines Lebensraumes, folglich gleichermaßen persönlich motiviert.393

Beide Extreme, die berühmte Landschaft und die banale, bleiben ambivalent: Richter greift bei Orten von historischer und touristischer Bedeutung wie Mailand, Venedig oder Davos nicht typische Darstellungsmodi und Klischeebilder der zentralen Sehenswürdigkeiten auf, sondern beschränkt sich auf Randzonen,394 die frei sind von kulturgeschichtlicher Überfrachtung und nahezu beliebig und ortlos wirken.

Bei durchschnittlichen Gegenden wie Buschdorf, Chinon oder dem Parkstück dagegen ästhetisiert er die Landschaftsausschnitte, indem er die Details egalisiert und glättet.395 Analog zu den übrigen figurativen Motiven, wo

391 Zu Stimmung und Sehnsucht siehe auch Kapitel IV.

392 Bilder von der „Sphinx“ oder „Ägypten“ reihen sich in die (private wie kollektive) Urlaubs- und Sehnsuchtsthematik ein und spiegeln zugleich die Auseinandersetzung mit der Wahrnehmung durch reproduzierbare Medien.

393 Während einer privaten Krise suchte Richter verschiedene Orte in der näheren Umgebung auf, wo verschiedene Motive entstanden, die er später in Landschaftsgemälde umsetzte, so Elger 2002, S. 339.

394 Honnef 1997, S. 16: Alpen und Seelandschaften, gewöhnlich Orte der Sehnsucht, werden nicht schön und romantisch, sondern in erschreckender Häßlichkeit oder so übertriebener Schönheit dargestellt, daß sie wieder penetrant wirken. Von Florenz, das 1999 Ziel einer Reise Richters und Anlaß für eine Serie von Bildern wurde, zeigt Richter zwar die markanten Sehenswürdigkeiten, vermalt diese aber so abstrakt, daß das Motiv dahinter zum Teil kaum noch zu identifizieren ist. Siehe Gerhard Richter. Firenze 2001.

395 Vgl. das „Parkstück“ (WV 311) mit der Vorlage im Atlas, Ausst.Kat. G.R. München 1998, Tafel 155, auf der links im Hintergrund eine Kuh und der Schemen eines Hauses zu sehen

Spektakuläres verschleiert und Banales ästhetisiert wird, entzaubert Richter landschaftliche Mythen und macht durchschnittliche Landschaften zu Stimmungsträgern. So werden nicht nur die Bildteile gleichwertig, sondern auch die Bildmotive – einerseits innerhalb des Landschaftsgenres, andererseits innerhalb seines vielschichtigen Gesamtwerkes.

Richters Landschaftsbilder stellen unabhängig von den jeweiligen malerischen Mitteln „schöne“ Motive dar396; sie zeigen keine Industrien, keine Verstädterung oder Zersiedelung und keine sonstigen Zerstörungen der Landschaft und Natur durch den Menschen, wenngleich Richter vereinzelte Hinweise auf menschliche Existenz (wie Straßenschilder, Autobahnen oder Gebäude) nicht vollständig tilgt. Richter malt Kulturlandschaften von der ägyptischen Sphinx und Venedig über Parkgelände bis zu Wiesen mit Apfelbäumen;397 in ihrer malerischen Glätte erscheinen selbst die Meeresoberflächen bei den Seestücken domestiziert und die in dunstige Nebelschwaden gehüllten Gebirge ästhetisiert.398 Richter malt keine

„unzivilisierte“, wilde oder furchteinflößende Natur, keine Schrecken von Naturgewalten und kein unberührtes oder unberührbares Land – andererseits bleiben seine Landschaftsbilder frei von momentanem, zeitgebundenem menschlichen Handeln, frei von der Anwesenheit des Menschen selbst, was den Bildern eine idyllisierte Erscheinung gibt, die ein sind; oder „Chinon“ und die Vorlage im Atlas, ibid., Tafel 451, wo am Horizont das Schemen eines Atomkraftwerkes zu sehen sei, so Arnim Zweite, Gerhard Richters „Atlas der Fotos, Collagen und Skizzen“, in: Gerhard Richter, Atlas, Ausst.Kat. Städtische Galerie im Lenbachhaus München, Museum Ludwig Köln 1989/90, hg. v. Fred Jahn, München 1989, (S. 7-20) S. 16; dem folgt Kasper 2003, S. 130 Anm. 42. In der Reproduktion der Photovorlagen im Atlas, Ausst.Kat. G.R. München 1998, Tafel 451, ist das Kraftwerk allerdings nicht auszumachen – eine Überprüfung am Original war mir leider nicht mehr möglich. Nichtsdestotrotz zeigt sich hierin, daß sich die vordergründig „schönen“ oder

„banalen“ Gemälde Richters erst mit der Kenntnis um die Herkunft der Vorlagen in der Komplexität ihrer Bezüge erschließen. Interessant in dem Zusammenhang der Übertragung der Photos in Gemälde ist die Tatsache, daß Richter die zur Umsetzung vorgesehenen Photos im „Atlas“ mit Skizzen und kurzen Anmerkungen versieht, in denen er die

„Korrekturen“ vorgibt (siehe Atlas, Ausst.Kat. G.R. München 1998, Tafel 452).

396 Das bescheinigt Richter seinen Landschaften mit der Antwort: „Ich hatte Lust, etwas Schönes zu malen“ auf die Frage, warum er sich diesem Motiv zuwende (a.a.O.).

397 Dem Randbereich der Landschaftsausschnitte lassen sich auch Motive wie „Domecke“

(WV 629-1 und 656-1), „Dorf“ (WV 663-4) oder „besetztes Haus“ (WV 695-3) zuordnen, in denen die Architektur mehr als die Hälfte des Bildes einnimmt.

398 Eine Ausnahme stellen die in schwarz-weiße Farbflächen zerlegten Städte- und Gebirgsansichten dar, in denen Richter die malerische Methode bald mehr zu interessieren scheint als das Motiv.

größeres Sehnsuchtspotential birgt, als es eine von Menschenmassen belebte Landschaft täte.

Wie bei den schwarz-weißen photorealistischen Bildern399 erscheint auch in den Landschaften eine vordergründig schöne Welt, die eine dem Menschen (spätestens seit der Romantik) potentiell immanente Sehnsucht nach einer im Landschaftsbild versinnbildlichten heilen Welt erfüllen zu können vorgibt.400 Dieser Sehnsucht scheint Richter selbst zu folgen, wenn er, wie Elger mehrfach schildert, in Zeiten emotionaler Unsicherheit den Gang in die Landschaft sucht und seine Landschaftsmotive besonders in Situationen des Selbstzweifels und der Beziehungskrisen entstanden – sowohl als Photo als auch als Gemälde. Mehrfach hat Richter den Begriff der Sehnsucht im Zusammenhang mit seinen Landschaften angesprochen; so nannte er Sehnsucht als den Anlaß seiner Reise nach Grönland401 und erklärte, die Landschaften spiegelten seine Sehnsucht402.

Dennoch schafft Richter keine landschaftlichen Idyllen oder utopischen Visionen, in denen sich seine und des Betrachters Sehnsüchte erfüllen könnten. Dies entspräche nicht seiner anti-ideologischen Haltung, die aufgrund der eigenen Erfahrungen mit konträren Ideologien und deren Scheitern jeder politischen oder gesellschaftlichen Utopie gegenüber skeptisch bleibt. Wenngleich sie durch ihre vordergründige Ästhetik Sehnsüchte zu wecken vermögen, erweisen sich Richters Landschaften auf den zweiten Blick durchaus als „Kuckuckseier“403, weil sie diese – ebenso wie die Landschaft selbst – nicht erfüllen, weil sie vorgeben beziehungsweise

„als etwas genommen werden, was sie gar nicht sind“404: Die Natur als Ausgangspunkt für Landschaft ist unemotional und „blöde“, geradezu

„unmenschlich“, wie Richter kommentiert405; jede Konstitution von

399 Vgl. hierzu die oben erwähnten Bilder „Helga Matura“ oder „Terese Andeszka“.

400 Grüterich in: Ausst.Kat. Kunsthalle Bremen 1975/76 (S. 16-96), S. 60.

401 Elger 2002, S. 254.

402 Notizen 1981, in: Text S. 89/91: „Wenn die ‚Abstrakten Bilder‘ meine Realität zeigen, dann zeigen die Landschaften oder Stilleben meine Sehnsucht.“

403 Gerhard Richter im Interview mit Benjamin H.D. Buchloh 1986, in: Text S. 153; siehe Kapitel IV.2.2. und VI.

404 Text S. 153. Auch wenn im Umgang mit Richters Äußerungen zu seinem eigenen Werk als Künstleraussage Vorsicht geboten ist, liegt in dieser Aussage ein wichtiger Hinweis auf die Interpretation der Landschaftsgemälde, die zu dieser Zeit noch überwiegend als

„romantisch“ bezeichnet wurden – eine Rezeption, die, wie unten zu zeigen sein wird, „nur“

den oberflächlichen Schein der „schönen“ Landschaften berücksichtigt.

405 Notizen 1986, 18.2.86, in: Text S. 115; siehe Kapitel II.3.

gefühlsmäßiger Entsprechung entsteht durch ihre subjektive Anschauung seitens des Betrachters. Ebenso unemotional bleiben Richters Gemälde,406 die erst durch die Reflexion und Befindlichkeit des korrelativen Betrachters ihr Assoziationspotential entfalten. Indem Richter sie in Schwarz-Weiß, düster oder kühl, verwischt oder vermalt gestaltet, unterwandern sie den ersten „schönen“ Eindruck: Die gebrochene Chromatik bricht jede Illusion von Idylle und die „Banalität“ selbst berühmter Orte verhindert eine emotionale Aufladung der Motive.

In der Summe von banalen und zugleich stimmungshaften, von ästhetischen und zugleich nüchternen Motiven zeugen die Landschaftsbilder Richters (im Sinne der Amateurphotographie) von einem Ist-Zustand in der Schwebe zwischen dokumentarischem Zustandsbericht und ästhetisierter Erinnerung407. Sie zeigen in einer subjektiv motivierten Auswahl, wie Landschaft „heute“ ist, in ästhetischer Weise, aber nicht beschönigend im Sinne einer utopischen Illusion, sondern als das „So-Sein“408 einer landschaftlichen Umwelt, die mit den persönlichen Erfahrungswerten des Künstlers, aber auch mit denen des Betrachters korrespondieren, und die Gerhard Richter ebenso betreffen wie die Allgemeinheit.409 Sie bewegen sich zwischen der Subjektivität der eigenen Erfahrung und der objektivierten Neutralität der überzeitlichen Geschichtlichkeit von Malerei, die auf diese Weise selbst die durchschnittlichen Landschaftsmotive der photographischen Vergänglichkeit ent- und sie zu exemplarischer Bedeutung erhebt. Wie bei den „Ready-Made-Motiven“ seiner photorealistischen Schwarz-Weiß-Malerei

406 Dies garantiert ihm auch die objektive Photovorlage.

407 Richter will „ein Bild machen von dem, was ist“ Richter in: Text S. 80, 85, 87. Anläßlich der XXXVI Biennale von Venedig bemerkte Heinz Ohff (Über Gerhard Richter, in: Ausst.Kat.

Venedig Biennale 1972, Essen 1972, S. 17-18), daß das photographische Bild so, wie es hier vom Künstler benutzt wird, seine Banalität verliere und eine völlig neue Bedeutung annehme; es hört auf, reines Infodokument zu sein und künstlerisches Zeugnis einer Malweise, die auf ihre Weise realistisch ist. Richters Gemälde werden charakterisiert als nicht leicht zu definierende Symbiose zwischen subjektiver Erfindung und der Darstellung objektiver Realität, die – jenseits dessen, was in erster Instanz sichtbar wird – eine Transformation bewirkt, den Blick weg zwingt von dem Bestand, den die Medien vermitteln, und den Betrachter zwingt, seine Perspektive auf das Bild zu überdenken. Siehe auch Pier Luigi Siena in: Ausst.Kat. G.R. Bozen 1996, o.S.

408 Notizen 1985, 30.5.85, in: Text S. 113: die Malerei analog dem „So-Sein“ der Natur setzt Richter gegen Ideologie und Religion.

409 Das Amateurphoto als „Residuum eines Jedermann“ (Honnef 1997, S. 133) fungiert zugleich als Erinnerung und Zeugnis vom Ist-Zustand.