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III. Die Landschaften Richters im Kontext des Gesamtwerkes

III.1. Die Gruppen der Landschaftsbilder

III.2.3. Verwischung und „Unschärfe“

gefolgt zu sein, so ist dies nur relativ. Dennoch sieht er tausende von Landschaften, photographiert davon nur hunderte, um von diesen Photos wiederum nur eines zu malen, das seinen Auswahlkriterien entspricht.303 Daß zu diesen unter anderem das „Unkünstlerische“ und „Dokumentarische“, aber auch das „Ästhetische“ zählen, läßt sich nur vermuten, scheint aber unter den oben aufgeführten Aspekten wahrscheinlich. In Richters Landschaftsbildern kommen keine – wie für die Zeit typischen – häßlichen Attribute vor, die etwa negative oder zerstörerische Tatbestände des gegenwärtigen Naturzustandes wiedergeben. Wie das typische Amateurphoto zeigen Richters Landschaftsbilder einen zugleich sachlich berichtenden und ästhetischen Ist-Zustand, der Zeugnis und Erinnerung sein kann; wie im Photo wird dieser Ist-Zustand im Augenblick der Anschauung durch den Betrachter zu einem Stück Vergangenheit, das in die Gegenwart transportiert werden soll – im Gemälde verliert er darüberhinaus seinen Zeitbezug und bekommt überzeitliche Gültigkeit. Richters Landschaftsbilder nach Photovorlagen vereinen diese beiden, im Grunde widersprüchlichen Eigenschaften von zeitbezogenem Zeugnis und zeitenthobener Dimension des Malerischen.

beim Einblick in private Bereiche der Dargestellten wird auf diese Weise ausgeschaltet. Statt dessen überführt Richter seine Figuren – darunter immer wieder Mitglieder seiner eignen Familie – in eine malerische Typisierung und stellt sie in Zusammenhang mit kunsthistorischen Darstellungsmodi.305 Im folgenden ist der Frage nachzugehen, inwieweit sich diese Handhabung des Motives auch auf die Landschaften beziehen läßt.

In der Verwischung wird der bewußte Rückgriff auf die photographische Vorlage deutlich,306 wobei Richter das künstlerische Mittel der Unschärfe auch dann anwendet, wenn die Photovorlage selbst scharf, das heißt ihr Motiv richtig fokussiert ist. Es sei bemerkt, daß sich im Vergleich von gemalter Photographie und photographierter Malerei die unterschiedliche, zugleich wechselseitige Wirkung der beiden Medien gerade in der Unschärfe besonders deutlich ablesen läßt: Beispielsweise an dem Motiv „Besetztes Haus“ [Abb. 35], das als Gemälde und als dessen Photoreproduktion vorliegt.307 Der Photodruck wirkt in den partiellen Bereichen der Unschärfe besonders „malerisch“, wohingegen das Gemälde in ebendiesen Bereichen eher „photoartig“ erscheint.

Mit dem Verweis auf die Herkunft der Vorlage durch das Mittel der Unschärfe macht Richter die doppelte Vermittlung der Bildgegenstände durch Photographie und Malerei deutlich und betont zugleich die Bildautonomie: Die Realität des Bildgegenstandes wird durch das malerische Mittel der Verwischungen überlagert, und das Motiv zu erkennen wird immer schwieriger, je näher der Betrachter an das Bild herantritt. Auf diese Weise wird die Aufmerksamkeit auf das Malerische des Bildes gelenkt und das Bild selbst wird zur Realität.308 Die Unschärfe wird als Störfaktor wahrgenommen, wenn man den Bildgegenstand auf die photographische Vorlage bezieht oder

305 Hierzu unter anderem Elger 2002, S. 112ff., 140; Kasper 2003, S. 92-103. Im Vergleich der „kleinen Badenden“, die als Gemälde nach einem Photo (WV 815-1, 1994, Öl auf Leinwand, 51 x 36 cm [in: Becker 2004]) und als photographische Reproduktion dieses Gemäldes vorliegt [in: Ausst.Kat. G.R. Bonn 2004, Abb. S. 236], läßt sich dieses Verhältnis bzw. die Wirkung der Verschleierung deutlich nachvollziehen: selbst in der Photographie von dem Gemälde kommt die „Nacktheit“ der weiblichen Figur stärker zum Tragen als in dem gemalten Bild.

306 Ehrenfried 1997, S. 25; Kasper 2003, S. 213.

307 WV 695-3, 1989, Öl auf Leinwand, 82 x 112 cm; davon der Offsetdruck 1990, Schwarz und Grau auf rein weißem Halbkarton, 62,5 x 80 cm.

308 Honnef 1997, S. 66f.; Schneckenburger, in: Ausst.Kat. G.R. Bremen 1975, S. 14; Uwe M.

Schneede in: Gerhard Richter in der Hamburger Kunsthalle, Ausst.Kat. Hamburger Kunsthalle 1997, Ostfildern-Ruit 1997, S. 10.

mit der Realität vergleicht; in der Realität des Bildes aber kann es keine Unschärfe geben, wie Richter erläutert: „Das was wir hier als Unschärfe ansehen, ist Ungenauigkeit, und das heißt Anderssein im Vergleich zum dargestellten Gegenstand. Aber da die Bilder nicht gemacht wurden, um sie mit der Realität zu vergleichen, können sie nicht unscharf sein oder genau oder anders. Wie sollte z.B. Farbe auf Leinwand unscharf sein?“309 Richter betont hier die bildautonome Wirklichkeit von Farbe und Form, die einen Eigenwert, eine eigene Realität jenseits des gegenständlichen Sujets erhalten.

Die Landschaftsbilder sind mit unterschiedlichsten Graden der Verwischung und Unschärfe gemalt. Während vor allem die weiten Panoramen wie die „Ruhrtalbrücke“ (WV 228) [Abb. 7] oder der „Feldweg“

(WV 629-4) kaum Verwischungen aufweisen – es ist aufgrund der Distanz zum Dargestellten und der Weite der Landschaft weniger notwendig, die ohnehin kaum erkennbaren Details zu verschleiern – ist bei den frühen Landschaften (wie „Alster“), bei den Eis- und Gebirgsbildern („Davos“,

„Garmisch“) und bei den Variationen („Apfelbaum“, „Venedig“) aus unterschiedlichen Gründen eine relativ starke Verwischung zu finden: Bei den im Kontext der frühen schwarz-weißen photorealistischen Bilder stehenden Landschaftsbildern fungiert die Unschärfe (neben der Darstellung weißer Rahmen und Bildunterschriften) wie dort als Verweis auf die mediale Vermittlung der Bildvorlage aus Zeitschriften. Bei den späteren Landschaften nach eigenen Photovorlagen steht dieser mediale Bezug nicht mehr so sehr im Vordergrund. Schon bei den Korsika-Bildern schafft die Unschärfe nicht nur eine Nähe zu amateurhaften Photographien und Kunstphotographie des 19. Jahrhunderts, sondern auch einen Stimmungsgehalt, der bewirkte, daß diese und zahlreiche weitere Landschaftsbilder von der Kritik als

„romantisch“ bezeichnet wurden. Auch im Falle der lieblicheren Vesuvbilder oder der farblich kühl und distanziert gehaltenen Eis- und Gebirgsbilder evoziert die Unschärfe einen stimmungshaften Eindruck; das Nebulös-Uneindeutige scheint der Verschleierung des Motivs zu dienen und erhöht das Geheimnis- und Sehnsuchtspotential der Bilder.310 Zugleich wird das

309 Gerhard Richter im Gespräch mit Rolf Schön, in: Text (S. 66-70), S. 67.

310 Vgl. Elger 2002, S. 116.

landschaftliche Motiv (wie bei den anderen Sujets) seiner Eindeutigkeit enthoben; dadurch vermeidet Richter – trotz der zum Teil konkreten Titel und der Identifizierbarkeit über die photographische Vorlage – eine präzise zeitliche und örtliche Einordnung der dargestellten Landschaft. Die reduzierte Lokalisierbarkeit und das Überzeitliche der gemalten Landschaften entspricht der Anonymisierung der Portraits, die ebenfalls aufgrund der „Unschärfe“

nicht eindeutig zu identifizieren sind. Auf diese Weise macht Richter das allgemein Verbindliche, Typische seiner landschaftlichen Motive sinnfällig.

Ein Motiv wie „Landschaft bei Koblenz“ (WV 640), „Wiesental“ (WV 572-4) [Abb. 25] oder „Landschaft mit Baumgruppe“ (WV 258) läßt sich an unterschiedlichsten Orten in Mitteleuropa und anderen geographisch vergleichbaren Regionen finden. Wenn auch diese Motive von privaten Reisen des Künstlers oder von Gängen in die Umgebung seines Wohnortes herrühren, so zeigen sie ein Spektrum landschaftlicher Wahrnehmung, die zum allgemeinen Erfahrungsbereich des Künstlers und des Betrachters gehört.311

Schließlich dient die Verwischung der Konturen dem Übergang vom Figurativen zum Abstrakten, was bereits in den frühen Schwarz-Weiß-Bildern angelegt ist und besonders in den Variationen der „Apfelbäume“ und

„Venedig-Bilder“ deutlich wird.312 Eine konsequente Folge dieser Verbindung von Figurativem und Abstraktem stellen die abstrakt vermalten Landschaften dar, in denen die obere Malschicht zwar nicht „unscharf“ ist, der glatte Untergrund dem Blick aber ebenfalls durch nachträgliche gestische Vermalungen entzogen wird.