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IV. Richters Landschaften im historischen Vergleich

IV.2. Gerhard Richter und die Romantik

IV.2.4. Gerhard Richter und Caspar David Friedrich im Vergleich

IV.2.4.2. Seestücke

Doch sind diese „Panoramalandschaften“ nach Nahaufnahmen von Grasbüscheln gemalt, die Richter auf extreme Dimensionen vergrößert.182 Nur in der nebulösen Uneindeutigkeit des Malerischen funktioniert die Suggestion von einer weiten „erhabenen“ Landschaft und erzeugt eine

„romantische“ Stimmung, die im Zwiespalt der Wahrnehmung gleich wieder aufgehoben wird.

verbunden, die – etwas aus der Mittelachse gerückt – in der linken Bildhälfte steht, mit dem Rücken dem Betrachter zugewandt, den Blick aufs Meer gerichtet. Diese Figur, der „Mönch“, schneidet als einzige Vertikale die horizontalen Bildzonen und verbindet sie gleichsam; Strand, Meer und Himmel lassen sich symbolisch als irdische und geistige Sphäre interpretieren.185 Aus dem Dunkel des Meeres steigt oberhalb des Horizontes zunächst dunkles, dann heller werdendes Blau, bis im letzten Drittel des Bildes ein weißlich-heller Bereich das Ende der Wolkenschicht anzeigt, die wie eine farbliche Spiegelung des hellen Vordergrundes wirkt. Darüber liegt der offene wolkenfreie Himmel.

Bei Richter dagegen zeigt das untere Drittel des Bildes nur Meer an; die Wellen und Schaumkronen sind nahezu waagerecht, als rollten sie fast frontal auf den Betrachter zu. Wo sich Friedrichs Wolken aus dem Dunkel des Meeres erheben und aufklären, da hängen bei Richter die Wolken von oben herab, als wollten sie sich gleich aufs Meer legen und die diffuse Helligkeit, einzige lichte Zone im Bild links über dem Horizont, verdrängen.

Bei Richters Seestück gibt es keine Anzeichen menschlicher Existenz; damit entfällt alles, was die Forschung zum Thema der (Rücken-)Figur(en) bei Friedrich im allgemeinen und speziell zum „Mönch“ diskutiert186. Folglich ist sein „Seestück (bewölkt)“ auch nicht mehr lesbar als Spiegel der Seele oder Symbol von Diesseits und Jenseits, Transzendentem oder Spirituellem im Sinne der Romantik Caspar David Friedrichs. Wo der „Mönch“

Identifikationsfigur für Friedrich und damit Schlüssel zu seiner privaten Symbolik wird und zugleich Identifikationsfigur für den subjektiv

185 Vergleiche die „Abendlandschaft mit zwei Männern“; beim „Mönch am Meer“ waren ursprünglich auch Schiffe geplant, was eine erweiterte Symbolik ergeben, andererseits von der Einsamkeit der Figur und der Landschaft abgelenkt hätte.

186 Zur Figur im „Mönch am Meer“ siehe Hofmann 2000, S. 53ff; Jensen 1995 S. 106ff;

Rosemblum 1981, S. 11, 13ff.; Wedewer 1978, S. 46. Siehe auch Antoine 1995, S. 79, der im Vergleich zu Friedrichs „Mönch am Meer“ auf Richters „Königstein“ (WV 651-2, 1987, Öl auf Leinwand, 52 x 72 cm) verweist, beim dem es sich zwar nicht um ein Seestück handelt, die Figuren aber wie dort winzig erscheinen im Verhältnis zur unendlichen Weite der Natur;

die gewaltige Mauer distanziert die Figuren von der Unendlichkeit und macht ihnen die Natur unerreichbar. Allerdings wird das „Erhabene“ hier eher angezeigt durch die von Menschenhand errichtete Festungsmauer, als durch die Natur selbst; des weiteren handelt es sich bei „Königstein“ um zwei Figuren, die entsprechend nicht eine Einsamkeit „nahe der Verzweiflung“ symbolisieren können wie etwa der „Mönch“; und schließlich sind die Figuren so verschwindend klein, daß sie der Veranschaulichung von Erhabenheit und der Identifizierung des Betrachters mit ihnen kaum gerecht werden, wohl aber Assoziationen an eben solche mit Bedeutung aufgeladenen Figuren wecken können.

interpretierenden Betrachter ist; wo die menschliche Figur die Relation der Dimensionen definiert, da bleibt Richters Bild leer, da ist die Verortung des Menschen darin nicht möglich.187 Das Motiv (fast doppelt so groß wie der

„Mönch am Meer“) verhält sich uneindeutig in seinen Größenverhältnissen gegenüber dem Betrachter, der unvermittelt in das Bildgeschehen hineintritt – fast möchte man meinen, Richter habe das Bild, das sich dem „Mönch“

bietet, „herangezoomt“, so daß der Betrachter nun an der Stelle steht, an der sich in Friedrichs Gemälde der „Mönch“ befindet. Das hieße nach Kleists berühmter Kritik, die er bei der ersten öffentlichen Präsentation von Friedrichs „Mönch am Meer“ formulierte188, daß sich Richters Seestück jenseits der „abgeschnittenen Augenlider“ befände, also im Kopf, im Geiste des Betrachters.

In beiden Bildern entsteht eine optische Irritation durch die fehlende eindeutige Perspektive und damit fehlende Räumlichkeit. Bei Friedrich erscheint dies nicht so gravierend wie bei Richter, weil dort die menschliche Figur das Maß der Dinge angibt. Bei Richter wird die Perspektive durch die Dynamik der Farbe ersetzt, die sich zu Wolken „zusammenbraut“ und die Tiefenwirkung eines fiktiven Raumes erzielt. Die Natur reißt den Betrachter mit, schafft ein Gefühl der „Erhabenheit“, weil die Natur in ihrer scheinbaren Unmittelbarkeit mächtig und bedrohlich wirkt189. Doch nur im ersten Augenblick.

Schon im zweiten nimmt der Betrachter die optische Irritation wahr, die Glätte der malerischen Oberfläche und die Schnittkante zwischen Himmel und Meer. Hier offenbart sich nicht ein harmonisch komponiertes, symbolträchtiges Bild von der Anschauung der Natur. Hier zeigt sich vielmehr die Macht der Suggestion, mit der Richter nach der Vorlage zweier

187 Siehe Grüterich, in: Ausst.Kat. G.R. Bremen 1975, S. 62: „am nicht überschaubaren Gegenstand Natur wird klar, daß wir vor diesen Bildern keinen festen Stand haben“.

188 Siehe S. 177, Anm. 184, und Hofmann 2000, S. 56.

189 In der Romantik wird das „Erhabene im Bild angezeigt durch das Mißverhältnis der Mächtigkeit der Natur gegenüber den extrem klein dargestellten Menschen – hier zeigt sich keine Relation mehr zum Menschen, die Natur steht für sich allein. Nach Wedewer 1978, S.

46, erscheint Natur in ihrer jedes menschliche Maß übersteigenden Weite als unvertraut, fremd und unmenschlich – vgl. Richters Notiz 1986 zur „Unmenschlichkeit der Natur“, in:

Text S. 115.

zusammenmontierter Photographien190 ein „malerisches“ Bild erstellt, das dem Betrachter vormacht, eine „wahre“ Momentaufnahme von einer speziellen Situation zu sein, wie sie der Betrachter selbst vielleicht schon mehrfach erlebt hat. Über diesen Bruch in der Wahrnehmung will das Bild Richters nicht hinwegtäuschen. Anders als in Friedrichs symbolhafter Stimmungslandschaft (die im Atelier aus Versatzstücken von Skizzen nach der Natur zusammengefügt wurde) macht das Seestück Richters deutlich, daß sich dem Betrachter kein Bild von der Natur darbietet, sondern ein Bild von Farben, die der Betrachter in seinem assoziativen Sehen und Empfinden für ein Bild von der Natur nimmt. Dennoch vermag das Seestück eine gewisse Stimmung zu vermitteln, je nachdem, in welcher Verfassung der Betrachter ist, ob er entsprechend eher geneigt ist, der Täuschung zu erliegen und sich dem hinzugeben, was er in seiner Erinnerung an ähnliche Landschaftsbilder empfunden hat und was hier wieder wachgerufen wird, oder ob er das „Unechte“ wahrnimmt und das Bild als „verlogen“ enttarnt. In der subjektiven Wahrnehmung des Betrachters suggeriert das Bild bei Richter trotz der Malerei nach „objektiven“ Photovorlagen weniger

„Naturwahrheit“ als bei Caspar David Friedrich.

Extremer noch als im „Seestück (bewölkt)“ demonstriert Richter die Montage zweier Photovorlagen und damit die Verfremdung der

„Naturansicht“ im „Seestück (See-See)“191 [Abb. 9], das hier Caspar David Friedrichs „Meeresküste beim Mondschein“192 [Abb. 52] gegenübergestellt werden soll. Bei beiden Bildern liegt der Horizont in der Bildmitte, bei beiden wirken der obere und der untere Bildteil in ihrer Verbindung zueinander fremdartig.

Friedrich stellt in der unteren Bildhälfte einen Uferbereich als Vordergrund dar, in der Bildmitte ein Segelboot und zwei kleine Gestalten an einem Feuer, das die Takelage erhellt. Wie der „Mönch“ schneidet der Mast die Horizontlinie; das Schiff und die Figuren entsprechen der für Friedrich in der Literatur einheitlich konnotierten Symbolik. Die obere Bildhälfte ist wie eine Doppelung aufgebaut: In dem wolkenverhangenen Himmel wird der Blick auf den Mond gelenkt, der am oberen Bildrand hinter den Wolken

190 Siehe Atlas, Ausst.Kat. G.R. München 1998, Tafel 187.

191 (WV 244), 1970, Öl auf Leinwand, 200 x 200 cm.

192 Um 1830, Öl auf Leinwand, 77 x 97 cm.

sichtbar wird und dort eine Lichtquelle bildet. Beide Bildhälften werden durch einen harten Schnitt am Horizont voneinander getrennt, unterstützt durch die Farbigkeit, die in der unteren Hälfte grünlich dunkel (hier dürfte man „realiter“

mangels Lichts eigentlich nichts mehr erkennen), in der oberen blauschwarz gehalten ist.

Auch bei Richter wirkt die Farbigkeit nicht „natürlich“, das ganze Bild ist in kalte silberblaue Grautöne gefaßt, die an die „Indifferenz“ der Grauen Bilder erinnern. Wie im ersten Vergleichsbeispiel der Seestücke, dem

„Seestück (bewölkt)“, fehlen im Vergleich zu Friedrichs Gemälde der Vordergrund, das Ufer, und die symbolträchtigen Attribute Schiff und Mensch. Extremer als bei Friedrich zeigt sich hier eine „Montage“ von oben und unten: Richter hat – wie im „Atlas“ nachzuvollziehen193– zwei Photos von Meeresoberflächen aneinandergelegt. Die Schnittkante wird im Gemälde zum sanften Übergang – sie ist nicht vonnöten, da sich das Bild schnell als Konstrukt erweist. Die untere Meereshälfte hat keine direkte Lichtquelle, sie bleibt bleiern und undurchlässig (Friedrichs Meer dagegen ist transparent).

Die obere Meereshälfte, respektive der „Himmel“, zeigt sich bewegter und von einer Lichtquelle angestrahlt, die jenseits des Horizonts zu liegen scheint, wie bei einer untergehenden Sonne (tatsächlich aber müßte die Sonne bei der photographischen Aufnahme des Meeres noch am „echten“

Himmel gestanden haben). Vielleicht handelt es sich auch um ein ironisches Spiel mit den Naturphänomenen wie einer Fata Morgana, einer Spiegelung oder einer Halluzination, oder mit den verschiedenen Aggregatzuständen von Wasser, das nicht nur Materie des Meeres, sondern auch des Himmels und der Wolken ist. Auch scheint es ein Spiel mit der Wahrnehmung zu sein, denn beim allerersten oberflächlich-flüchtigen Blick mag die obere Bildhälfte als Wolkengebilde erscheinen.194 Aber dem „Seestück (See-See)“ liegt keine Symbolik zugrunde wie dem Vergleichsbeispiel aus der Romantik. Selbst Stimmung wird hier kaum evoziert, da die Wasseroberfläche wie nach einer Ölpest eher tot und abweisend wirkt. Dennoch mag das Richtersche

„Konstrukt“ eine Faszination auf den Betrachter ausüben. Obwohl dieser um die Täuschung weiß, daß es sich zum einen offensichtlich um ein konstruiertes Bild handelt und zum anderen eben nicht um eine Landschaft,

193 Vgl. Atlas, Ausst.Kat. G.R. München 1998, Tafel 194.

194 Die optische Täuschung funktioniert in der Umkehrung des Bildes nicht.

sondern um ein Bild nach einer Photovorlage von einer Landschaft, wird er eingenommen für die suggestiven Möglichkeiten der Malerei. Die Täuschung (die „Verlogenheit“) hindert den Betrachter nicht daran, hier in der Mnemosyne eine Landschaft beziehungsweise ein „Seestück“ zu erkennen.