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III. Die Landschaften Richters im Kontext des Gesamtwerkes

III.1. Die Gruppen der Landschaftsbilder

III.1.3. Landschaften nach eigenen Photovorlagen

III.1.3.5. Gebirge und Bilder vom Eis

Nach den Ansichten der späten sechziger Jahre, in denen sich das Gebirge auflöste zu einer informellen, als Bergpanorama kaum noch zu erkennenden Schwarz-Weiß-Malerei und nach den Korsika- und Vesuv-Ansichten von 1968 und 1976 entstehen erst wieder 1981 Bilder mit Gebirgsmotiven135, die knapp zehn Jahre zuvor wiederum bei einem Familienurlaub entstanden136.

Im unteren Bildfeld von „Davos“137 [Abb. 17] und „Monstein“138 zeigen sich schneebedeckte Gipfel, darüber ein kaum differenzierter Himmel, mit

131 WV 325/1-120, 1972, Öl auf Leinwand, 120teilig, je 27 x 40 cm, gesamt 270 x 480 cm.

Die Gliederung in kleine Bildteile unterstreicht den abstrakten Charakter der Arbeit in Abgrenzung zu den landschaftlichen Vorläufern der grünen Vermalungen beziehungsweise Parkstücke; sie erinnert darüberhinaus an die konstruierten Farbtafeln von 1966.

132 WV 326/1-16, verschiedene „Vermalungen“, alle 1972, Öl auf Leinwand oder Hartfaserplatte, 250 x 250 cm, 200 x 200 cm, 200 x 100 cm oder 70 x 55 cm.

133 WV 329, 1972, Öl auf Leinwand, 300 x 250 cm.

134 WV 333/1-5, alle 1972, Öl auf Leinwand, 250 x 200 cm; sie sind auch als Vorläufer der freien Abstrakten zu sehen.

135 WV 468-1 – 469-3, 471.

136 Elger 2002, S. 254.

137 WV 468/1-3, alle 1981, Öl auf Leinwand, 50 x 70 cm oder 70 x 100 cm.

einem hellen Fleck, der als Sonne hinter einer diesigen Atmosphäre erscheint; wie bei den frühen Panoramalandschaften und Seestücke handelt es sich um „Aufnahmen“139 im Gegenlicht. Die kühlen matten Farben und die neblig-diffuse Weichzeichnung vermitteln den Eindruck einer kalten, feuchten Luft, die sowohl das trübe Sonnenlicht als auch der Blick des Betrachters nur schwer zu durchdringen vermag.140

In dem Nachtstück „Davos N“141 [Abb. 18] und dem „Berg“142 ist der Grauwert der Farben entsprechend der fehlenden Lichtquelle noch verstärkt.

Bei „Garmisch“143 [Abb. 19] geht der Blick nicht mehr über das Gebirge hinweg, sondern in das Tal hinein, aus dem sich ebenfalls verschneite und nebelumhüllte Gebirgswände erheben. Im Mittelgrund des Bildes und vom Bildrand angeschnitten zeichnet sich eine dunkle Baumkrone ab, deren Standpunkt sich mangels Vordergrund nicht ausmachen läßt; so scheint es, als stehe der Betrachter an einem unsichtbaren Abgrund.

Hinter der auf den ersten Blick empfundenen Ästhetik und dem Stimmungsgehalt der Bilder liegt eine irritierende kühle Distanziertheit. Die

„oberflächliche“ Malweise durch die Verwischung der Konturen bewirkt eine Gleichstellung der wenigen Details, um das „Zuviel“ an Informationen auszuschalten144 und das Motiv einer persönlichen Identifizierung zu entziehen. Wie bei den Wolkenbildern und den Seestücken scheint es auch hier eher um die Suche nach der malerischen Darstellbarkeit des Naturphänomens atmosphärischer Dichte zwischen Nebel, Licht und Luft zu gehen als um die Wiedergabe berühmter, klischeebehafteter Ski- und Luftkurorte, die früher dem Geldadel vorbehalten waren, während sie heute auch dem durchschnittlichen Urlauber zugänglich sind. Die Darstellungen

138 WV 471, 1981, Öl auf Leinwand, 101 x 151 cm.

139 Daß Richter das Medium der Photographie dem der Malerei gleichsetzt, legitimiert hier den verwandten Sprachgebrauch, zumal auch diese Motive nach photographischen Vorlagen gemalt sind.

140 1968 hatten Gerhard Richter und Sigmar Polke die „Umwandlung eines Bergmassivs in eine Kugel„ entwickelt (siehe hierzu Elger 2002 S. 134); die dritte „Phase“ erinnert an die Bilder von „Davos“.

141 WV 469-1, 1981, Öl auf Leinwand, 86 x 122 cm.

142 WV 469-2, 1981, Öl auf Leinwand, 70 x 100 cm.

143 WV 469-3, 1981, Öl auf Leinwand, 70 x 100 cm.

144 Gerhard Richter, Notizen 1964-1965, in: Text S. 31; siehe hierzu auch Birgit Pelzer, Es gibt kein Da. Gerhard Richter im Carré d’Art in Nîmes, in: Gerhard Richter 100 Bilder, Ausst.Kat. Carré d’Art, Musée d‘Art Contemporain de Nîmes 1996, hg. v. Hans-Ulrich Obrist, Osterfildern-Ruit 1996, (S. 133-154) S. 141.

von Davos oder St. Moritz145 zeigen jedenfalls keine „typischen“ Ansichten dieser namhaften Orte, sondern scheinbar beliebige Ausschnitte von schneebedeckten Gipfeln und Tannenwäldern, die verschiedensten Gebirgsgegenden entnommen sein können, aber keinen konkreten Anhaltspunkt liefern, anhand dessen die geographische Situation der titelgebenden Orte identifiziert werden könnte. Trotz der mangelnden ortsbezogenen Charakteristika eröffnen die Titel und die Atmosphäre der Bilder dem Betrachter ein Assoziationsfeld, das die historische Bedeutung der Orte und damit verbundene Stimmungen wachzurufen vermag.

Im Kontext des Atmosphärischen lassen sich auch die wenigen kleinformatigen Eisbergmotive sehen, die Richter etwa zeitgleich malt.146 Sie entstehen nach Photographien von seiner Grönlandreise 1972.147 Verglichen mit der Vielzahl an Photographien mit Eisbergmotiven, die Richter in seinem

„Atlas“ gesammelt hat, hat er nur wenige davon gemalt.148 Ähnlich wie bei dem Stammheimzyklus greift Richter dieses Motiv erst zehn Jahre nach Entstehung der Photographien auf, als habe es zur „objektiven“ malerischen Umsetzung des „subjektiv“ Erlebten und Gesehenen einer zeitlichen Distanz bedurft.

Der „Eisberg im Nebel“149 [Abb. 20] ist als solcher kaum zu erkennen.

Das untere Bilddrittel ist von undifferenziertem Blauschwarz, die oberen zwei Drittel von ebenso flächig gehaltenem Dunkelblau. Der Eisberg selbst ist in der Bildmitte nur anhand einer helleren Farbpartie auszumachen. Seine Konturen bleiben derart diffus, als handle es sich bei dem Dargestellten eher um eine optische Täuschung denn um ein reales Gebilde von materieller

145 WV 792-2, 1993, Öl auf Leinwand, 72 x 102 cm.

146 WV 476, 1981, Öl auf Leinwand, 70 x 100 cm; und WV 496/1-2, beide 1982, Öl auf Leinwand, 70 x 100 cm und 101 x 151 cm; das Eisbergmotiv erscheint nicht im Landschaftskatalog Hannover.

147 Richter macht diese Reise ohne Begleitung von Freunden oder Verwandten; er habe dort nach Bildern von der „Gescheiterten Hoffnung“ von Caspar David Friedrich gesucht – siehe Elger 2002, S. 254 und zum Bezug zu Friedrich unten Kapitel IV.2.3./4.

148 Zitat Richter: „Ich bin auch mal extra nach Grönland gefahren, weil C.D. Friedrich dieses schöne Bild der gescheiterten Hoffnung gemalt hatte ... Ich habe dort hunderte von Photos gemacht, und es ist fast kein Bild daraus entstanden, es ging nicht.“ Interview mit Hans-Ulrich Obrist 1993, in: Text S. 257; siehe hierzu auch Kapitel IV.2.1./2. und im Atlas, Ausst.Kat. G.R. München 1998, Tafel 342 – 359.

149 WV 496-1.

Dichte. Wie bei den Wolkenbildern evoziert die kühle Stimmungshaftigkeit dieser Bilder den Schein des ungreifbar Transzendenten und fixieren sie zugleich das „ewige Eis“ in der Vergänglichkeit seiner Erscheinung zwischen den Veränderungen des Lichtes und der daraus resultierenden Wahrnehmung.

Die Bilder vom Eis ließen sich vom Sujet her auch den Seestücken zuordnen150; von der Behandlung des Motivs aber auch den Korsikabildern, in denen wie hier das Detail des Bildmittelpunktes – dort ein Schiff, hier ein Eisberg – derart reduziert und verschwommen dargestellt ist, daß es sich dem Zugriff des Betrachters nahezu entzieht. Auch sind diese Bilder im Verhältnis zu den meisten anderen Arbeiten von Landschaften nach Photovorlagen sehr klein, als wolle Richter der Macht des Sujets der Naturgewalt – oder seiner historischen und emotionalen Aufladung151 – durch ein kontrapunktisches Bildformat begegnen.