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III. Die Landschaften Richters im Kontext des Gesamtwerkes

III.1. Die Gruppen der Landschaftsbilder

III.1.3. Landschaften nach eigenen Photovorlagen

III.1.3.6. Landschaftsausschnitte

Dichte. Wie bei den Wolkenbildern evoziert die kühle Stimmungshaftigkeit dieser Bilder den Schein des ungreifbar Transzendenten und fixieren sie zugleich das „ewige Eis“ in der Vergänglichkeit seiner Erscheinung zwischen den Veränderungen des Lichtes und der daraus resultierenden Wahrnehmung.

Die Bilder vom Eis ließen sich vom Sujet her auch den Seestücken zuordnen150; von der Behandlung des Motivs aber auch den Korsikabildern, in denen wie hier das Detail des Bildmittelpunktes – dort ein Schiff, hier ein Eisberg – derart reduziert und verschwommen dargestellt ist, daß es sich dem Zugriff des Betrachters nahezu entzieht. Auch sind diese Bilder im Verhältnis zu den meisten anderen Arbeiten von Landschaften nach Photovorlagen sehr klein, als wolle Richter der Macht des Sujets der Naturgewalt – oder seiner historischen und emotionalen Aufladung151 – durch ein kontrapunktisches Bildformat begegnen.

Die Landschaftsausschnitte entwickelt Gerhard Richter ab 1983.152 Es handelt sich um farbige Landschaften, in denen der Himmel eher weniger als die Hälfte des Bildes einnimmt; oft versperren Baumgruppen oder Büsche den Blick zum Horizont, und zuweilen vermittelt ein Feldweg, der in die Tiefe des Bildraumes führt, zwischen den Bildebenen [Abb. 30]. In einigen Landschaftsausschnitten verweisen auch Bebauungen wie Schober, Brücken, Zäune oder Straßenschilder ohne Anwesenheit von Menschen auf Kulturlandschaften, die vom zivilisatorischen Eingriff geprägt sind.153

Unter dem Titel „Scheune“154 entstanden zwei Bilder eines Motivs aus unterschiedlicher Perspektive; im ersten füllt die Scheune das Format weitgehend aus, im zweiten bleibt sie in weite Ferne gerückt. Bei beiden führt ein gekurvter Weg vom Bildrand zum Schober und verleiht der Darstellung eine leichte Dynamik. Auch die „Wiese“155 [Abb. 22] zeigt mit ihrem diagonalen Mittelgrund eine bewegtere Landschaft, als es die Panoramen getan haben. Die differenzierteren Details erlauben trotz ihrer leicht impressionistischen Auflösung ein besseres Verweilen bei den einzelnen Landschaftselementen.

An dem zwei Jahre jüngeren „Wiesental“156 [Abb. 25] sind diese Merkmale ebenso zu finden. Eine in sich geschlossene und dennoch differenzierte Chromatik verleiht dem Motiv eine harmonische Stimmung.

„Buschdorf“157 zeigt einen in dunkleren Tönen gehaltenen Landschaftsausschnitt mit hohem Horizont, der rechts und links von Buschwerk begrenzt wird, das – vielleicht ironisch – auf den Ortsnamen anspielt. Durch die zum Horizont ansteigende Böschung und die in die Tiefe gestaffelten Büsche wird der Blick durch die Bildmitte zunächst in die Landschaft hinein und dann den Hang hinauf zum Horizont gelenkt.

152 Einen ersten Landschaftsausschnitt gab es bereits 1970 mit der „Landschaft mit Baumgruppe“, WV 258, Öl auf Leinwand. Der Farbwechsel gegenüber den Bildern der 60er Jahre erfolgt, wie bereits erwähnt, durch einen bewußten Wechsel des Filmfabrikats.

153 Selbst bei den Panoramen handelt es sich nicht um Darstellungen unberührter Natur oder fiktiver oder idealisierter Weltlandschaften, sondern um von Menschenhand gestaltete Landschaft.

154 WV 549-1, 1983, 70 x 100 cm; und WV 550-1, 1984, 95 x 100 cm; beide Öl auf Leinwand.

155 WV 549-2, 1983, Öl auf Leinwand, 100 x 150 cm.

156 WV 572-4, 1985, Öl auf Leinwand, 90 x 95 cm.

157 WV 572-5, 1985, Öl auf Leinwand, 100 x 140 cm.

Die zur gleichen Gruppe gehörenden Arbeiten „Straubach“158 und

„Troisdorf“159 befinden sich dagegen im Grenzbereich zum Panorama, da die dort abgebildeten Sträucher und Büsche die Horizontlinie nicht kreuzen;

so kann der Blick über die Details hinweggleiten und das Bild als offene, weite Landschaft wahrnehmen. Ebenso im fließenden Übergang zwischen Panorama und Landschaftsausschnitt liegt der „Feldweg“160, dessen linker Bildrand ein Fortlaufen der weiten Landschaft und damit ein mögliches Weiterschweifen des Blickes jenseits der Bildbegrenzung suggeriert.

Die „Apfelbäume“161 hat Richter in drei Variationen gemalt [Abb. 32-34].

Ähnlich der Reihe der „Verkündigungs“-Bilder nach Tizian162 oder der Parkstücke löst sich das Motiv von Mal zu Mal stärker auf: Zunächst ist eine doppelte Horizontlinie sichtbar zwischen Vorder-, Mittel- und Hintergrund;

über die so vermittelte Raumtiefe greifen die im Vordergrund stehenden Apfelbäume, die mit ihren Kronen dem Bild eine diagonale Dynamik verleihen; der Blick wird durch die Baumkronen und den Feldweg auf einen im entfernten Mittelgrund liegenden Busch gerichtet. Die „Komposition“ des Bildes ist wesentlich geschlossener und spannungsreicher als bei den meisten der bisherigen Landschaften. Unter der immer stärkeren Verwischung wird das Motiv von Bild zu Bild dem Blick des Betrachters langsam entzogen, bis die Apfelbäume als solche nicht mehr zu identifizieren sind und die dritte Variante der Reihe im Übergang zur Abstraktion steht. Das letzte der drei Bilder bezeichnet Richter als „Skizze“, die in der traditionellen Abfolge einer Bildentwicklung am Anfang stehen müßte. Damit kehrt er den Prozeß des Malaktes um: Nicht, daß sich aus einer angedeuteten Form ein konkreter Gegenstand entwickelt – das eindeutig definierte Motiv entzieht sich in die vage Andeutung eines bloßen Scheins.163

158 WV 572-1, 1985, Öl auf Leinwand, 85 x 120 cm.

159 WV 572-2, 1985, Öl auf Leinwand, 85 x 120 cm.

160 WV 629-4, 1987, Öl auf Leinwand, 82 x 112 cm.

161 WV 650/1-3, 1987, Öl auf Leinwand, 67 x 92 cm, 72 x 102 cm und 62 x 83 cm.

162 WV 343-1 – 344-3, alle 1973, Öl auf Leinwand, 125 x 200 cm und 150 x 250 cm.

163 Siehe auch die „Bühler Höhe“ und die dazugehörigen „Skizzen“, WV 749/1-4, 1991, Öl auf Leinwand, 52 x 72 cm und 35 x 40 cm. Ob die Bilder in der Reihenfolge entstanden sind, die ihre Einordnung im Werkverzeichnis nahelegt, ist hier nicht zu klären; Richter ordnet sein Werk nicht streng chronologisch, wie an der ersten Werkverzeichnisnummer, dem „Tisch“

abzulesen ist, bei dem es sich nicht um das erste, wohl aber um ein programmatisch aufschlußreiches Bild handelt, oder an WV 49, das 1964 entstand, aber nach Bildern von 1965 eingeordnet wurde. Siehe hierzu Elger 2002, S. 62. Mit dem dreimaligen Abmalen

Parallel zu den hart gespachtelten Abstrakten beginnt Richter 1985 mit einer Serie von Bildern nach Photographien von einer Vendigreise. Wie die Bilder der Alpenkurorte Davos oder St. Moritz zeigen „Venedig (Insel)“164 [Abb. 26] und „Venedig (Treppe)“165 nicht jene typischen touristischen Attraktionen der Lagunenstadt wie Markusplatz, Rialtobrücke oder Gondeln im Canal Grande – obwohl Richter solche Aufnahmen in seinem „Atlas“

vorliegen hat.166 Anders als bei den ersten photorealistischen Gemälden verwendet Richter keine „Klischee“-Motive, wie sie unzählige Postkarten, Poster und Photoalben von Amateurphotographen schmücken, sondern eher unspektakuläre, „banale“ Ansichten von Molen und Grenzbereichen zwischen Bebauung und Gewässer, die sich in der Schlichtheit der Motivik ganz in die Gruppe der Landschaftsausschnitte einfügen. Damit nimmt er dem historisch beladenen Sujet Venedig das Nostalgisch-Romantisierende und Morbide; stattdessen zeigt er andere Seiten dieser Stadt, die dem (heutigen) Alltag entsprechen, ohne daß sie etwas von diesem Alltag erzählten.

In einer späteren Fassung eines dem ersten ähnlichen Motivs167 [Abb.

27] kehrt Richter zu der farbverwischenden Unschärfe zurück; dennoch verklärt er den Blick auf das Dargestellte nicht in einer Weichzeichnung, sondern evoziert vielmehr den Eindruck, als ziehe das Gesehene schnell an dem Betrachter vorbei, der sich seinerseits auf einer Bootsfahrt durch die Lagune befindet (dagegen weist das Wasser wie in allen Venedigbildern Richters eine glatte, fast leblose Oberfläche auf).

Weitere Venedig-Motive sind unter den (noch zu behandelnden) vermalten Landschaften zu finden; dabei handelt es sich erneut um Landschaftsmotive, die zwei Gruppen miteinander verbinden und in dieser Verbindung einen Schnittpunkt zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion markieren.

desselben Motivs thematisiert Richter auch die Frage der Originalität und der Reproduzierbarkeit eines Werks.

164 WV 586-1, 1985, Öl auf Leinwand, 50 x 70 cm.

165 WV 586-3, 1985, Öl auf Leinwand, 50 x 70 cm, ist eine der wenigen Ausnahmen in Richters Werk: Hier sitzt eine Figur auf der Treppe, die ins Wasser führt; daß man dabei Figuren von C.D. Friedrich erinnert, ohne deren Symbolik auf Richters Bild zu übertragen, ist im Sinne der Mnemosyne legitim (siehe hierzu Kapitel IV.2.).

166 Siehe Atlas, Ausst.Kat. G.R. München 1998, Tafel 151-154, 178.

167 „Venedig“ WV 606-1, 1986, Öl auf Leinwand, 70 x 100 cm.

Im Rahmen der Landschaftsausschnitte entstehen einige Bilder, die im weitesten Sinne der Stadtlandschaft zuzuordnen wären, so die „Domecke“168 [Abb. 29], ein „Besetztes Haus“169 [Abb. 35] oder eine „Passage (Leipzig)“170. Die Enge des Ausschnitts, durch den die Motive extrem begrenzt und nah an den Betrachter herangerückt werden, legitimiert jedoch ebenso, diese Werke nicht mehr unter dem Aspekt der „Landschaft“ zu erfassen.171 In diesen Ansichten dominieren städtische Gebäude, während „landschaftliche“

Attribute wie Bäume oder Sträucher höchstens rahmendes Beiwerk einer von Menschenhand gestalteten Umwelt, nicht mehr harmonischer integrativer Bestandteil eines „natürlichen“ Landschaftsgefüges sind. Diese dörflichen oder städtischen Ausschnitte bleiben ebenso menschenleer wie die meisten Landschaften Richters; sie zeigen den Blick in wiederum alltägliche, eher unbeachtete weil unspektakuläre Winkel einer vom Menschen täglich frequentierten Umgebung, die in ihrer Belanglosigkeit fast selbstverständlich geworden und daher nicht mehr bewußt wahrgenommen wird, so, als wolle Richter mit seinen Bildern auch und gerade diesen Teil menschlichen Lebensraumes ins Bewußtsein unserer Wahrnehmung zurückbringen und einen Zeitaspekt heutigen Lebens im überzeitlich Malerischen für die Nachwelt fixieren.

Unter den Photographien, die Gerhard Richter von einzelnen seiner Gemälden fertigte, die wiederum auf eigene Photovorlagen zurückgehen, befindet sich neben der bereits erwähnten Domecke die Arbeit „Ravine“172.

168 WV 629-1, 1987, Öl auf Leinwand, 122 x 87 cm und WV 656-1, 1988, Öl auf Leinwand, 140 x 100 cm. Vgl. hierzu auch das Bild „Dom“, WV 629-2, das zwar ein Interieur zeigt und als solches hier nicht zu behandeln ist, aber im motivischen Repertoire Richters eine Ausnahme darstellt; es erinnert an die Kircheninnenräume der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts.

169 WV 695-3, 1989, Öl auf Leinwand, 82 x 112 cm.

170 WV 714, 1990, Öl auf Leinwand, 72 x 102 cm.

171 Dies betrifft auch WV 663-4, „Dorf“, 1988, Öl auf Leinwand, 67 x 92 cm; WV 772-7,

„Haus“, 1992, Öl auf Leinwand, 82 x 62 cm; WV 778-1, „Chicago“, 1992, Öl auf Leinwand, 122 x 82 cm; bereits 1964-1966 entstehen vergleichbare Motive (WV 39, 48-2, 49, 80-9/10/16/18), die den frühen schwarz-weißen Photobildern zuzuordnen sind.

172 1997, Cibachrome-Photographie, zwischen Plexiglas aufgezogen, 75 x 54 cm [in:

Ausst.Kat. G.R. Stuttgart 2000, Abb. S. 32], nach: „Schlucht“, WV 837-1, 1996, Öl auf Leinwand, 71 x 51 cm. Diesem Gemälde stehen die beiden Landschaftsausschnitte

„Wasserfall“ (WV 847/1-2, 1997, Öl auf Leinwand, 126 x 90 bzw. 165 x 110 cm) [in: Elger 2002, Abb. S. 396f.] nahe; in diesen beiden, aus leicht unterschiedlicher Perspektive

„aufgenommenen“ und in unterschiedlichen Partien leicht verschwommenen Bildern bildet

Motivisch handelt es sich um einen typischen Landschaftsausschnitt, bei dem der Blick in eine Schlucht hinein gerichtet ist, der Horizont dagegen fast verschwindet. Im Wechselspiel von Licht und Schatten werden steile Felsen sichtbar, in die sich ein Bachlauf eingegraben hat; auf der rechten Seite steht eine steinerne Hütte und linkerhand schneidet eine dunkle, vermutlich weibliche rückenansichtige Figur senkrecht durch die das Gewässer anzeigende, gewundene weiße Farbpartie. Das gesamte Motiv ist von einer dunstartigen Unschärfe überzogen, die entgegen ihrer vermeintlichen photographischen Herkunft – anders als in den Gemälden – paradoxerweise nicht so wirkt, als rühre sie von einem technischen Mangel her; in der Photographie entwickeln die diffusen Konturen nahezu einen stärkeren malerischen Charakter als in der Malerei selbst. Wie in den anderen Photographien nach eigener Malerei thematisiert Richter hier in der methodischen Umkehrung seiner eigenen Arbeitsweise erneut das wechselseitige Verhältnis von Photographie und Malerei sowie die Frage nach der Originalität der Kunstwerks, seiner Reproduzierbarkeit und dem

„Ikonischen“ der Re-Produktion.173