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III. Die Landschaften Richters im Kontext des Gesamtwerkes

III.1. Die Gruppen der Landschaftsbilder

III.1.3. Landschaften nach eigenen Photovorlagen

III.1.3.2. Seestücke

Eine der letzten Panoramadarstellungen ist „Chinon“ von 198792 [Abb.

31]. Wie in der „Landschaft bei Koblenz“93 oder dem „Feldweg“94 liegt der Horizont mittig im Bildausschnitt, der Himmel ist wolkenlos und das Land in mehrere Ebenen gestaffelt. Grashalme oder ein Weg führen in das Bild ein und leiten den Blick in die Tiefe der Landschaft, die sich mit Wiesen, Äckern, Sträuchern und größeren Baumgruppen abwechslungsreich, aber eindeutig als „kultivierte“, von Menschenhand domestizierte und gestaltete Landschaft zu erkennen gibt. Die Farbgebung erscheint „natürlich“ und homogen; weder schrille Farben noch einzelne Details stören das harmonische Gleichgewicht der „Komposition“, in der alle Konturen unscharf bleiben, als hätte die Kamera für die Photovorlage des Bildes einen Gegenstand zwischen den dargestellten Ebenen fokussiert, der nicht mehr da ist. So gleitet das Auge über die Landschaften, ohne von einem Fixpunkt aufgehalten oder abgelenkt zu werden. Jeder Teil des Bildes wird dem anderen gleichwertig.

Die Panoramen bleiben von einer gewissen Unbestimmtheit, mit der zwar vom Teilanblick der Natur auf das Naturganze geschlossen werden kann; man kann sich jedoch mangels lokaler Besonderheiten „weder ein individuelles noch ein universelles Bild“95 von diesen Landschaften machen.

meist tiefhängende, dramatische Wolkenformationen. 1975 folgt eine zweite Serie von Seestücken97, die etwas leichter und noch „verwischter“ werden, und nach mehr als 20 Jahren greift Richter das Thema 1998 wieder auf98 [Abb. 42, 43].

Ein erstes „Seestück (grau)“99 taucht als monochromes Bild zwischen den Städte- und Gebirgslandschaften auf; aufgrund seiner fehlenden Gegenständlichkeit sei es trotz seines Titels den abstrakten Landschaften zugeordnet.

Folglich ist das erste Bild dieser Gruppe „Seestück (Gegenlicht)“100; darin zeigen das untere Bilddrittel eine nur sanft bewegte Meeresoberfläche, die oberen zwei Drittel einen blauen, mit fast weißen Wolken durchzogenen Himmel. Die hinter den Wolken durchscheinende Sonne in der oberen rechten Bildecke wirft ihr gleißendes Licht auf die ebenfalls blaue Wasserfläche, von der es reflektiert wird. Diese Lichtführung ergibt eine Verklammerung der beiden Bildteile, die durch eine harte Schnittkante voneinander getrennt sind. Auch die Farbigkeit, die in der jeweiligen Bildzone

„natürlich“ wirkt, stößt hart aufeinander, so daß das Zusammenspiel von Himmel und Meer letztlich unwirklich erscheint. Der Grund hierfür mag darin liegen, daß Richter – wie im „Atlas“ nachzuvollziehen ist101 – zwei Teile zweier unterschiedlicher Photographien aneinandermontiert, und diese

„Komposition“ in ein Gemälde überträgt.

Ähnlich verhalten sich die beiden Bildbereiche auch in anderen Seestücken zueinander.102 Nur in wenigen Arbeiten dieser Gruppe103 wird ein homogenerer Eindruck vermittelt, als handele es sich in der Bildvorlage tatsächlich um e i n Photo. Richter scheint auf diesen optischen Bruch Wert gelegt zu haben, sonst wäre es ihm ein Leichtes gewesen, die „Naht“

zwischen oberem und unterem Bildteil beispielsweise durch „Unschärfe“ zu

97 WV 375 ff.

98 WV 852-1 ff..

99 WV 224-16, 1969, Öl auf Leinwand, 70 x 70 cm.

100 WV 233, 1969, Öl auf Leinwand, 200 x 200 cm

101 Atlas, Ausst.Kat. G.R. München 1998, Tafel 184 – 198.

102 Wie in WV 234, 235, 239/1-2, 240/1-2 und 241/1-2; die zwischen diesen Seestücken platzierten Panoramen WV 237/1-4 und 243 weisen die gleiche kompositorische Struktur auf. In WV 252 besteht die See nur aus einer unmodulierten, einheitlich blauen Farbfläche, als sei dieses Bild unvollendet, und als müsse das untere Bilddrittel noch mit der Darstellung einer Meeresoberfläche fertiggestellt werden.

103 WV 235, 239-1.

kaschieren. In der Irritation liegt jedoch die Möglichkeit, das Seestück als Konstrukt zu entlarven104 – es mag kein Zufall sein, daß im Kontext dieser Bilder die erste „vermalte“ Landschaft entsteht.105

Noch stärker sichtbar wird die Montage in der zweiten Serie von Seestücken 1970: Im „Seestück (See-See)“106 [Abb. 9] stoßen „zwei Meere“

aneinander: Richter hat zwei Bildhälften mit Meeresdarstellungen aneinandergesetzt, das eine davon auf den Kopf gedreht, als handele es sich um ein Stück Himmel. Hier zeigt sich besonders deutlich, daß es Richter bei aller Ästhetik nicht um die Illusion einer „naturgetreuen“ Wiedergabe der Natur geht. Selbst die hellere Bildpartie in der oberen Hälfte, die in der Photographie die Lichtreflexe auf dem Wasser zeigt, hier aber den Widerschein einer vielleicht untergehenden Sonne suggerieren sollen, entpuppt sich schnell als „in Wirklichkeit“ unmögliches Phänomen. Der Bruch mit der „Realität“ der Natur ist so offensichtlich, daß das Bild fast surreale Dimensionen annimmt. Dennoch läßt sich das Bild nicht einfach auf den Kopf stellen, da es dann seinen latenten Illusionscharakter verliert und gemessen an der Realität augenblicklich als „falsch“ erscheint. Richter spielt auch mit der malerischen Darstellbarkeit der physikalischen Gegebenheiten von Luft und Wasser insofern, als die Elemente Luft, Wolken und Wasser aus der gleichen Materie geschaffen sind, ihre unterschiedliche Zusammensetzung aber zu unterschiedlicher Konsistenz und Wahrnehmung dieser Materie führt.

Im „Seestück mit Vogel“107 sind die zwei oberen Drittel des Bildes als bewölkter Himmel malerisch ausdifferenziert; ein Vogel erscheint als dunkler Fleck etwas aus der Bildmitte gerückt. Das untere Drittel, das dem Thema entsprechend Wasser darstellen müßte, zeigt sich als nahezu monochrome Farbfläche. Wie bei einigen früheren Landschaften nach Zeitungsvorlagen108 wirkt dieses Bild wie unfertig; Richter bricht die Illusion des „Wirklichen“ des

104 Butin weist zurecht darauf hin, daß diese Irritation in der Reproduktion der Druckgraphik der „Wolke“ nahezu aufgehoben wird, weil die Montage der beiden Bildteile aus zwei Photovorlagen hierin kaum mehr wahrzunehmen ist; siehe auch den Offsetdruck „Meer“ (in:

Ausst.Kat. G.R. Bonn 2004, S. 73f.).

105 „Seestück (abstrakt)“ WV 239-3, 1969, Öl auf Leinwand, 147 x 200 cm.

106 WV 244, 1970, Öl auf Leinwand, 200 x 200 cm. Vgl. Atlas, Ausst.Kat. G.R. München 1998, Tafel 194.

107 WV 252, 1970, Öl auf Leinwand, 170 x 170 cm.

108 Vgl. den „Hirsch“ WV 7, oder die „Vögel“ WV 21.

oberen Bildteils durch die ungestaltete untere Bildfläche, die eher auf die Realität des Bildes als Malerei denn auf die ihres Sujets verweist.

Das „Seestück“ von 1998109 [Abb. 42] scheint eine versöhnliche Geste an die Illusion zu sein: Die Zusammensetzung der gleichberechtigten Masse von Meer und Himmel wirkt „realistisch“, „natürlich“ auch in der Farbgebung.

Im Vordergrund rollen seichte Wellen ans Ufer und bilden dort weiße Schaumkronen, der Übergang von Meer und Himmel am mittigen Horizont ist leicht gebrochen, erscheint trotz der Farbkontraste fließend, die Lichtführung logisch. Dennoch evoziert auch dieses Bild einen leisen Eindruck des Unwirklichen, mit den fast schwarzen Steinen im Vordergrund, auf die der Blick in Ermangelung von Licht keinen Zugriff zu haben scheint, obwohl die weiße Wolke am Himmel darüber eindeutig von einer (nicht sichtbaren) Lichtquelle erhellt ist. Auch bleibt aufgrund der zum Teil bräunlichen Farbgebung des Meeres zum Horizont und rechten Bildbereich hin unklar, wo die Trennung von Land und Wasser liegt. In der Glätte der Oberfläche gleitet das Auge über das Bild, ohne wiederum einen klaren Bezugspunkt zu finden.