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5 Die auditive Ebene im Film Vitus

5.1 Die Musik im Film

5.1.2 Musikeinsätze zur Darstellung von Vitus‘ Begabung, musikalischer

5.1.2.13 Wolfgang Amadeus Mozart: Requiem, KV 626 – Lacrimosa

Arbeitsweise bei großen Werken zu erklären, denn er verfuhr dabei in mehreren Schritten und legte für einen Satz zuerst die Hauptstimmen an, um später eine entsprechende Instrumentierung zu ergänzen: „Dabei arbeitet Mozart immer an mehreren Sätzen gleichzeitig, deren Phasen unterschiedlich weit gediehen sein können.“ (Schmid 1997, S. 129)

Bis in die jüngere Vergangenheit hinein wurden immer wieder Versuche unternommen, das Requiem im Sinne von Mozarts Verständnis angemessen zu vervollständigen. Bereits kurz nach Mozarts Tod übertrug seine Frau Constanze diese Aufgabe verschiedenen Musikern aus dem Umfeld ihres Mannes, um eine zügige Fertigstellung des Auftragswerks und somit ihren Lebensunterhalt sicherzustellen. Unter ihnen war Mozarts Assistent Franz Xaver Süßmayr vorerst der einzige, der die begonnenen Teile nicht nur weiter instrumentierte, sondern dem Werk auch „substanziell Eigenes“ hinzufügte, um das Requiem fertigzustellen (Schick 2005, S. 243). Immer wieder standen Süßmayrs Ergänzungen gegenüber die Vorwürfe im Raum, sie könnten „Mozarts Stil, seinen Formintentionen und seiner Instrumentationspraxis“ möglicherweise nicht ausreichend entsprechen (ebd., S. 244), zudem finden sich darin tatsächlich diverse Fehler und ungeschickte Wendungen. Aber immerhin ließ er damit aus Mozarts Hinterlassenschaft nach seinen Möglichkeiten ein Ganzes werden, denn aus seiner Sicht ging es in erster Linie darum, einen Auftrag zu erfüllen und „in Anlehnung an Mozart ein aufführbares Werk zu liefern“ (Schmid 1997, S. 141). So ist bei aller Kritik an Süßmayrs Werk immer zu bedenken, dass er derjenige unter den Bearbeitern des Requiems war, der Mozart selbst am nächsten stand, und es sich hierbei um „ein Produkt der Mozart-Zeit“ handelt: „Dies zumindest gilt, bei allem Streben nach Perfektion, für keinen der späteren Versuche mehr, ein Werk zu ‚rekonstruieren‘, das vielleicht nicht einmal Mozart selbst zur Gänze schon im Kopf entworfen hatte.“ (Schick 2005, S. 244)

Der im Film Vitus eingesetzte Satz aus dem Requiem, das „Lacrimosa“123, ist der letzte Satz der Sequenz, bevor im Ablauf der Totenmesse das Offertorium anschließt. Mozart hatte auch diesen Teil zwar begonnen und zwei einleitende Takte für Streicher sowie die daraufhin einsetzenden Chorstimmen bis Takt 8 niedergeschrieben, hier bricht seine Partitur allerdings ab und es fehlt ein weiterer Entwurf für die Fortführung des Satzes. In diesen Anfangstakten fällt die motivische Verbindung innerhalb der Streicher auf, die „das Seufzen und Weinen“ (Korten 1998, S. 105) im direkten Bezug auf den zugrundeliegenden

123 Die im „Lacrimosa“ enthaltenen Verse der Totenmesse lauten übersetzt: „Tag der Tränen, Tag der Wehen, Da vom Grabe wird erstehen Zum Gericht der Mensch voll Sünden. Laß ihn, Gott, Erbarmen finden; Milder Jesus, Herrscher Du, Schenk den Toten ew’ge Ruh. Amen.“ (Wolff 1995, S. 71)

Vers zum Ausdruck bringt. Hier wird mit musikalischen Mitteln der tiefe Schmerz des Verlusts in seiner Direktheit äußerst deutlich und er wird im Anschluss auch mit Einsatz der Chorstimmen fortgeführt. Überhaupt ist Mozarts Vertonung der Totenmesse stark durch ihren Text bestimmt, was mitunter in diesen wenigen Takten des „Lacrimosa“ offensichtlich wird. Süßmayr schloss in seiner Ergänzung daran an und ließ eine dreißigtaktige Vertonung entstehen, mit der er sich dicht am „Lacrimosa“-Fragment Mozarts orientierte.

Abbildung 30: Ausschnitt aus dem „Lacrimosa“ des Requiems von Wolfgang Amadeus Mozart in der für den Film Vitus arrangierten Klavierfassung von Mario Beretta (in der Notenausgabe der „Filmmusik arrangiert für Klavier“ überschrieben mit „Vitus trauert um seinen Grossvater“, Hug & Co. 2011)

Die filmische Verwendung des „Lacrimosa“ erfolgt innerhalb der Sequenz 50 zuerst extradiegetisch. Hier ist der Chor- und Streichereinsatz basierend auf Süßmayrs Fassung ab Takt 19 zu hören, als die Familie direkt im Anschluss an das Verfassen des Briefs durch den Großvater zuhause zu sehen ist. Gleichzeitig erklingt schon an dieser Stelle kurz dessen Stimme aus dem Off, die den Beginn des Briefs vorträgt. Die Verbindung von Briefinhalt und der bedeutungsvollen Musik lassen schnell erkennen, dass dieser Moment den Tod des Großvaters anzeigt. Den trauernden Eltern ist ihre bedrückte Stimmung anzusehen, während Vitus auf dem Balkon seinen Auftrag ausführt und den Brief in einem Umschlag verpackt, um ihn Helen und Leo zukommen zu lassen. Die Musik hat in erster Linie die Aufgabe, auf akustischer Ebene überhaupt erst deutlich zu machen, was nicht direkt im Bild gezeigt wurde, und vermittelt zugleich die entsprechende Stimmung. Darüber hinaus findet jedoch ein Wandel statt, indem zur originalen Fassung des Requiems ein Klaviereinsatz hinzukommt. Dieser wird zum Gehörten in einem allmählichen Übergang eingeblendet:

Zuerst begleitet das Klavier die Chorstimmen, während letztere mit dem Wechsel zu Sequenz 51 immer leiser werden, bis das Klavier alleine zu hören ist. Hier sieht man Vitus in seinem Appartement am Klavier sitzen, er spielt das „Lacrimosa“ selbst bis zum Satzende und lässt es dadurch zu einem diegetischen Musikeinsatz werden.

Die Trauer ist nicht mehr die Stimmungslage der Familie, sondern wird hier ganz explizit zu Vitus‘ Form der aktiven Bewältigung seines schmerzlichen Verlusts. Sein Gefühl zeigt er weniger durch das Bild, sondern lässt es musikalisch stattfinden. Beretta selbst erwähnt dieses Sinnbild. Die Klavierfassung für den Einsatz im Film stammt von ihm und steht direkt für Vitus‘ Trauerarbeit; diese Trauer kann der Junge über die gespielte Musik verarbeiten.

Dass Beretta gerade das „Lacrimosa“ dafür wählte, hat er „aus dem Bauch heraus entschieden“: „Ich habe einfach gemerkt, das stimmt am besten für die Szene und gibt mir die beste Möglichkeit, ein hübsches Klavierstück darüber zu schreiben.“ Der Wandel von der Chorfassung hin zur Klavierfassung stellt eine Brücke dar, die nicht mehr allein Ausdruck einer Totenmesse ist, sondern zum Ausdruck bringt, „dass es ‚Lacrimosa‘ in einer ganz bestimmten Lesart ist, die filmisch hilft“.

Zweifelsohne wird einem Zuschauer, dem die Hintergründe zu Mozarts Werk bekannt sind, bei seiner Wahrnehmung dieser Szene zudem auch immer der Zusammenhang zur Werkentstehung ins Bewusstsein gerufen. Angesichts dessen kann durchaus eine Verbindung zu Vitus‘ Erfüllung seines Auftrags hergestellt werden. Ähnlich wie Süßmayr den ausstehenden Auftrag durch seine Erweiterung des Werks für Mozart zu Ende führt, so handelt auch Vitus über den Tod seines Großvaters hinaus in dessen Sinne weiter: zuerst, indem er dessen Brief seinen Eltern zuspielt und somit zulässt, dass diese die Wahrheit über ihn erfahren; später, indem er den Traum des Großvaters vom Fliegen sinnbildlich selbst in die Tat umsetzt.