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5 Die auditive Ebene im Film Vitus

5.1 Die Musik im Film

5.1.2 Musikeinsätze zur Darstellung von Vitus‘ Begabung, musikalischer

5.1.2.4 Tina Turner: Nutbush City Limits

Charakterstücks von Schumann identisch und demzufolge der Übergang so kurz wie möglich gestaltet, was für einen Überraschungsmoment sorgt. Den „Wilden Reiter“ spielt Vitus dann sehr flüssig und fehlerfrei vor, mit Wiederholung des ersten Teils, wie es auch die Noten vorgeben. Zum Ende hin wird er etwas schneller, so, als möchte er der Situation baldmöglichst entfliehen. Als er das Stück beendet hat, steht er zügig auf und entfernt sich vom Klavier. Sein Unbehagen angesichts dessen, im Moment Mittelpunkt für die geladenen Gäste gewesen zu sein und auch danach zum Gesprächsthema aller zu werden, ist damit umso deutlicher. Mit dem Vorspiel des „Wilden Reiters“ erfüllt er aber schließlich doch die Erwartungen der Eltern und hebt die zuvor kompromittierende Situation wieder auf. Hätte er es bei dem stümperhaften Auftritt mit dem Kinderlied belassen, würde er selbst genauso wie seine Eltern weiterhin von den Gästen belächelt werden. Zudem musiziert er tatsächlich gerne am Klavier und möchte einerseits doch sein Können beweisen.

Andererseits handelt er als Sechsjähriger – wie seine Altersgenossen auch – in Abhängigkeit von der Beziehung zu seinen Eltern: auch wenn diese ihm für den Moment das Gefühl geben, bloßgestellt zu werden, liebt er sie und spielt auch ihnen zuliebe Klavier. Dennoch wird mit dieser Szene früh sichtbar, dass er vonseiten seiner Eltern Druck empfindet und sich damit nicht dauerhaft abfinden wird.

Deutlich wird hier auch seine musikalische Entwicklung: Im Unterricht lernt er mit Czernys Etüden und dem „Album für die Jugend“ auch heute noch sehr verbreitete Standardwerke kennen. Er spielt bereits nach einem halben Jahr so gut, dass er ein Charakterstück wie den

„Wilden Reiter“ ohne Probleme vor Zuhörern vortragen kann. Dass sein Vortrag noch ein wenig kantig klingt, macht umso deutlicher, dass auch ein außerordentlich talentiertes Kind wie Vitus eine lange Entwicklung vor sich hat und erst an deren Beginn steht. Der Einsatz des Stücks im Film zeigt auch, dass Vitus nicht nur mit rein technischen Übungen aufwächst, sondern von seiner Klavierlehrerin an die Musik herangeführt wird, wie es seinem Alter entspricht.

Rock & Roll (vgl. hierzu z. B. Bego 2010, S. 11), lebt zudem seit den Neunzigerjahren in der Schweiz, allerdings erschließt sich nicht auf den ersten Blick, warum die Wahl für diese Szene ausgerechnet auf den Song „Nutbush City Limits“ fiel, der überdies aus dem Jahre 1973 stammt.

Der Titelsong des gleichnamigen Albums entstand in einer Phase, in der Ike und Tina Turner noch zusammen auftraten, die früheren großen Erfolge aber nicht mehr erreichten. Ihre Beziehung war längst geprägt von den alltäglich gewordenen, jedoch überaus grausamen und gefährlichen Gewaltausbrüchen Ikes gegenüber Tina und ihren Kindern. Tina hatte mit

„Nutbush City Limits“ nun ihren ersten eigenen Song komponiert, der für das Duo noch einmal zum äußerst erfolgreichen Hit und somit zum „bemerkenswerte[n] Sprung zurück ins Rampenlicht“ wurde (Turner & Loder 1986, S. 233) sowie bis heute eines ihrer beliebtesten Lieder blieb. Obwohl sie zusammen noch weitere Titel produzierten, war das Album ihr letzter gemeinsamer Erfolg, bevor Tina später als gefeierte Solokünstlerin auftrat.

Mit „Nutbush City Limits“ erzählt Tina Turner etwas über den Ort, in dem sie aufwuchs.

Nutbush ist ein kleiner Ort, am Highway 19 gelegen, „ca. 80 km nordöstlich von Memphis, Tennessee, und etwa 30 km vom Mississippi entfernt“, in dem es nicht viel gibt außer einer Kirche, einem sogenannten Ginhouse, einer Schule, einem Toilettenhäuschen (Bego 2010, S. 25). Das Leben ist bescheiden und klar geregelt innerhalb der „city limits“, die Turner in ihrem Song beschreibt. Aber auch wenn ihr selbst früh bewusst war, aus diesem ländlichen Umfeld ausbrechen zu wollen und es überdies in ihrer „Familie recht lieblos zuging“ (ebd., S. 28), war die Familie nicht verarmt und in ihrer Kindheit wusste sie die Seiten des Landlebens auch zu schätzen (vgl. hierzu auch Bego 2010, S. 28ff.). Nicht ohne Grund also erinnert sie mit der Komposition dieses Liedes an ihre Wurzeln und setzt der früheren Heimat damit „ein Denkmal“ (ebd., S. 25).

Im Film reden Isabel und Vitus eines Abends, als sie alleine in der Wohnung sind, über Berufswünsche. Vitus weiß nicht, was er einmal werden will, während Isabel den klaren Wunsch hat, Rocksängerin zu werden. Obwohl Vitus‘ Talent sich schon früh zeigt, scheint er eine Karriere als Pianist nicht in Betracht zu ziehen. Isabel dagegen hat eine kindliche Auffassung davon, später ihre Träume zu leben und den entsprechenden Beruf zu ergreifen.

Sie beginnt im Stil des gleich im Anschluss zu hörenden Liedes zu summen. Dazu kommt aus dem Hintergrund das E-Gitarren-Intro des Liedes „Nutbush City Limits“, das in die folgende Einstellung übergeht. Hier sind die beiden zu sehen, wie sie im Wohnzimmer eine Rockshow imitieren. Dabei läuft eine Tonaufnahme des Liedes, Isabel führt zuerst einen Dialog mit dem imaginären Publikum, singt daraufhin zur Stimme der Tonaufnahme und

Vitus spielt eine passende Begleitung am Klavier mit. Zu hören ist während der Szene die vollständige erste Strophe mit Refrain, bevor die Musik mit Ende der Subsequenz abgebrochen wird.

Mario Beretta selbst kann im Gespräch über die Auswahl der Musikstücke zum Film die damaligen Überlegungen zum Einsatz des Songs nicht mehr sicher rekonstruieren. Jedoch geht er davon aus, dass ein hier eingesetzter Rocksong „etwas Antiquiertes“ sein sollte.

Man könnte sich vorstellen, dass eine CD der Eltern mit diesem Lied irgendwo in der Wohnung lag und von den Kindern gefunden wurde, als sie Isabels Vorstellungen des späteren Künstlerlebens in einer imitierten Aufführung umsetzen wollten und dafür passende Musik suchten.

Beretta merkt zum Einsatz des Songs außerdem an, dass der Text bei der Auswahl keine Rolle spielte. Dennoch kann man im Hinblick auf die Bekanntheit des Liedes annehmen, dass dem einen oder anderen Zuschauer während des Sehens der Szene auch ein Bezug zum Text bewusst wird. Das Lied steht daher auch sinnbildlich dafür, dass Vitus und Isabel mit dieser Inszenierung aus ihren äußeren, von den Eltern gesetzten Grenzen, ausbrechen und sich die Welt nach ihren Vorstellungen gestalten. Isabel hat als Kindermädchen für die Dauer des Abends den Auftrag, diese vorgegebenen Grenzen an Vitus zu vermitteln. Doch die Kinder halten sich mit ihrem imaginären Auftritt beide nicht daran. Einerseits ist es ein Ausbrechen-Wollen von Isabel, indem sie ganz klar festlegt, Rocksängerin werden zu wollen. Der Wunsch nach einem normalen, langweiligen Beruf kommt ihr gar nicht in den Sinn. Andererseits ist dies die Träumerei jedes Kindes und genau dies drückt die Szene auch aus: die Gestaltung der kindlichen Wünsche und Phantasien, indem die beiden eine Show so nachahmen, wie es allein ihrer Vorstellung entspricht. Tatsächlich wird Isabel später natürlich nicht Rocksängerin, aber sie sucht sich mit ihrer Anstellung im Musikfachhandel einen Beruf aus, der ihrem kindlichen Wunsch möglichst nah bleibt. Und auch Vitus wird im Laufe des Films nach Möglichkeiten suchen, den für ihn richtigen Weg in Zukunft selbst gestalten zu können.

Für Vitus ist die Situation zudem ein Ausbrechen auf musikalischer Ebene. Was er hier hört und spielt, ist nicht die Musik, die er normalerweise hört und spielt. Damit verlässt er seine musikalische Lebenswelt ebenso wie seine abgegrenzte Lebenswelt eines Hochbegabten und die ihn umgebenden Konventionen und übertritt genau die Grenze, die ihn üblicherweise von anderen Kindern abhebt. Der Song „Nutbush City Limits“ ist nicht zuletzt das Lied, das Isabel und Vitus als Freunde verbindet. Zuerst spielt er ihr zuliebe die Klavierbegleitung zu ihrem Gesang bzw. der Musik, die eigentlich ihre Lebenswelt

wiedergibt – aber er lässt sich darauf ein. Als die Eltern daraufhin durch Leos heimlich aufgenommenen Videomitschnitt erfahren (Sequenz 12/Subsequenz 5)98, was die Kinder im Wohnzimmer veranstaltet haben, wird die Inszenierung des Songs zum Grund dafür, dass Vitus seine Freundin nicht mehr sehen darf und die beiden sich aus den Augen verlieren.

Mit ihrem Lied haben sie eine Grenze überschritten, die die Kinder auf unbestimmte Zeit trennt. Der kleine Vitus wiederum kann seinen Eltern nicht verzeihen, dass sie Isabel von ihm fernhalten, und er wird seine Freundin über die Jahre hinweg nicht vergessen. Sehr deutlich wird die gemeinsame Verbindung, als der zwölfjährige Vitus Isabel im Musikgeschäft wiedererkannt hat, sich selbst ihr gegenüber zuerst aus eigener Unsicherheit heraus nicht zu erkennen gibt, einige Zeit später aber doch die Musik aus Leos damaliger Videoaufnahme auf CD brennt (Sequenz 47/Subsequenz 1)99. Das Lied, das zuvor Isabels Lebenswelt darstellte, nutzt er nun, indem er es ihr im Musikgeschäft vorspielt (Sequenz 47/Subsequenz 2)100 und zum sofortigen Erkennungszeichen werden lässt. Auch wenn Vitus bereits vorher mehrmals im Musikgeschäft vor ihr stand und sogar dezente Hinweise101 auf

98 Leo zeigt Helen, dass er die Kinder den Abend über unbemerkt mit einer Videokamera aufgenommen hat. Zusammen sehen sich die Eltern das Video an – Helen ist entsetzt, Leo eher erheitert angesichts des „Auftritts“ von Vitus und Isabel. Zu sehen ist hierbei lediglich ein kurzer Ausschnitt der musikalischen Inszenierung, allerdings gibt er nicht genau wieder, was kurz zuvor zu sehen war: hier singt Isabel nicht, sondern tanzt zu Tonträger- und Klavierbegleitung. Zu hören ist eine Refrain-Passage des Liedes.

99 Vitus ist in seinem Appartement beschäftigt: Neben Mozarts Rondo hört er gleichzeitig Nachrichten des Anrufbeantworters ab und sieht sich Leos Videomitschnitt von früher am Laptop an, wovon er daraufhin eine Musik-CD brennt. Der zu sehende und zu hörende kurze Ausschnitt der früheren Inszenierung der Kinder ist musikalisch in die erste Strophe des Liedes einzuordnen, die zugehörigen Bilder der Szene weichen aber unbeträchtlich von Isabels Auftreten aus Sequenz 12 ab.

100 Die Tonebene ist hauptsächlich aus Isabels Perspektive wahrnehmbar: Wenn Vitus die CD anstellt, ist die Musik zuerst außerhalb der zugehörigen Kopfhörer leise wahrnehmbar, während Isabel sich noch mit einer Kollegin unterhält. Sobald Isabel die Kopfhörer aufsetzt, erklingt die Musik in der Lautstärke ihrer subjektiven Wahrnehmung. Allerdings läuft die Musik beim Absetzen der Kopfhörer in fast gleicher Lautstärke weiter, wird also für einen kurzen Moment bis zum Abbruch durch das Szenenende extradiegetisch bzw. spiegelt somit die Verbindung zwischen den Jugendlichen umso stärker wider. Mit Einschalten der Musik erklingt diese etwa von Beginn der ersten Strophe an, daran schließt die zweite Strophe an, die innerhalb des Films bis dahin noch nicht zu hören war. Interessant ist, dass hier, wie auch in der Szene zuvor im Appartement, während der Musikausschnitte nur noch die Stimme von Isabel sowie die Tonträgerbegleitung zu hören sind, nicht jedoch die Klavierbegleitung durch Vitus. Damit sind vor allem das Lied selbst und Isabels Stimme in den Vordergrund gestellt.

101 Vitus ist erstmals in Sequenz 32 im Musikgeschäft zu sehen, als er die CD mit Bachs „Goldberg-Variationen“ kauft (siehe dazu Abschnitt 5.1.2.9), wobei Isabel noch keine Rolle spielt. Daraufhin sucht er das Geschäft einige Male erneut auf: Als er in Sequenz 39 nach Klassik-CDs stöbert, sieht er Isabel und starrt sie eine Weile an, bevor sie ihn anspricht. Er gibt sich nicht zu erkennen, gibt bei der Frage nach ihrer CD-Empfehlung jedoch vor, sich (mitten in der Klassik-Abteilung des Ladens) für die Musik der Spice Girls zu interessieren. Diesen Aspekt spricht auch Beretta in einem Telefonat an, denn die Spice Girls sind zu diesem Zeitpunkt im Geschäft nicht mehr aktuell, sie waren es aber in der Zeit der Freundschaft zwischen Vitus und Isabel einige Jahre zuvor. Auch wenn kein Lied dieser Band im Film erklang, ist davon auszugehen, dass auch diese Musik zu Isabels Lebenswelt von damals gehörte und sie diese mit Vitus teilte. Dennoch erkennt sie ihn im Geschäft nicht. Der verliebte Vitus möchte Isabel eine Stofffledermaus übergeben, die sie ihm als Kind geschenkt hatte. In Sequenz 41

ihre frühere Freundschaft gab, begreift sie erst beim Hören ihrer gemeinsamen Version von

„Nutbush City Limits“, dass es sich bei diesem an klassischer Musik interessierten Jungen um Vitus handelt.