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5 Die auditive Ebene im Film Vitus

5.1 Die Musik im Film

5.1.2 Musikeinsätze zur Darstellung von Vitus‘ Begabung, musikalischer

5.1.2.3 Kinderlied: Hänschen klein; Robert Schumann: Album für die Jugend, op

Szene zum ersten Mal. Sie lernt ihn als außergewöhnlich talentierten Jungen in dem Moment kennen, als er sich gerade mit Klaviermusik beschäftigt. Auch sie hat Interesse an Musik, worauf die Kopfhörer um ihren Hals hindeuten, aber ihre musikalischen Vorlieben sind noch nicht genauer einzugrenzen.

Klavierschüler, gehören immer noch zum Standard der Klavierdidaktik und „präg[en] den Amateur ebenso wie den Pianisten von Weltrang“ (ebd., S. 9).

Der im Film Vitus erklingende „Wilde Reiter“ gehört zum ersten Teil des Albums95. Das Stück weist eine einfache Harmonik mit a-Moll in den Rahmenteilen und F-Dur im Binnenteil auf:

„Die Harmonik wird dem Spieler gewissermaßen doppelt bewußt gemacht:

Während die Begleit-Akkorde die harmonischen Funktionen vertikal konzentrieren, zerlegt der melodische Verlauf diese Harmonien ins Linear-Horizontale. Durch den Austausch der Melodie zwischen Sopran und Baß werden beide Spielhände gleichermaßen beansprucht.“ (Ebd., S. 120)

Abbildung 16: Beginn des „Wilden Reiters“ aus dem „Album für die Jugend“ von Robert Schumann (Henle 2007)

Bevor Vitus beim Empfang in der Wohnung den Gästen den „Wilden Reiter“ vorspielt (Sequenz 7/Subsequenz 1), gehen der Situation Gespräche der Erwachsenen über das talentierte Kind voraus. Insbesondere der Sohn von Leos Chef kann nicht glauben, dass Vitus bereits nach nur einem halben Jahr Unterricht aus der vorliegenden Klavierliteratur spielt. Die Eltern begegnen seiner Arroganz, indem sie ihn mit einem Vorspiel ihres Sohnes überzeugen wollen. Damit prallen in dieser Szene auch die jeweiligen Interessen der Eltern und des Kindes direkt aufeinander: Vor allem dem Sohn des Chefs, der Leo offensichtlich aufgrund seines Erfolgs nicht leiden kann, wollen sie beweisen, was er nicht glaubt. Zudem möchten sie mit Vitus‘ Talent vor versammeltem Publikum glänzen. Vitus dagegen verneint die Bitte des Vaters, etwas vorzuspielen, zuerst. So wird er gegen seinen Willen zum Klavier getragen, wird instrumentalisiert und in gewisser Weise genötigt. Hier ist es nicht seine Lust

95 Die Stücke sind in zwei Teilen angeordnet, wobei die „Erste Abteilung, für Kleinere“ 18 Stücke umfasst; die 25 weiteren Stücke sind in der „Zweiten Abteilung, für Erwachsenere“ enthalten.

an der Musik und dem Umgang mit dem Instrument, die zum Tragen kommen kann, sondern nun soll er aus einem Zwang heraus musizieren. Eine Trotzreaktion ist für ihn in dieser Lage unumgänglich und sie führt zuerst dahin, dass nicht das gewünschte und angekündigte Stück erklingt. Zwar spielt er am Klavier etwas vor, wie gefordert, aber zum Besten gibt er in außerordentlich dilettantischer Art das Kinderlied „Hänschen klein“96. Er spielt damit ein einfaches Lied vor, das jeder kennt und aller Wahrscheinlichkeit nach schon im jüngeren Kindesalter kennen und singen gelernt hat. Das Lied wäre seinem Alter entsprechend keineswegs dilettantisch, hätten nicht seine Eltern und seine Patentante in den höchsten Tönen geschwärmt, wie begabt er sei. Dilettantisch klingt es für den Zuschauer außerdem, da dieser bereits weiß, dass Vitus viel mehr kann.97 Für die Gäste ist das, was sie hören, auch das, was sie erwartet hätten von einem Sechsjährigen, der seit einigen Monaten Klavier spielt. Für Helen und Leo ist dies hingegen ein Schreckmoment, der vor allem sie selbst bloßstellt. Für den Zuschauer wiederum wird diese Lage sofort deutlich, eben weil er mehr weiß: Hätte er Vitus nicht bereits in Sequenz 5 die Etüde von Czerny spielen hören, könnte auch er – genauso wie die Gäste – nicht einschätzen, dass dieses Vorspiel eben nicht wiedergibt, was Vitus wirklich kann. Mit diesem Wissen ist jedoch klar, dass es in Wirklichkeit um ein Aufbegehren des Kindes gegenüber seinen Eltern geht. Vitus möchte nicht vorgeführt werden und handelt auf höchst kluge Weise, indem er seinen Trotz gegen die Eltern nicht in Verweigerung enden lässt, sondern das Gefühl des Bloßgestellt-Seins umkehrt, indem er es mit dieser Liedeinlage an die Eltern weitergibt.

Vitus spielt den ersten Teil der Strophe und findet dann auf dem Schlusston geschickt einen Übergang zu dem eigentlich angekündigten Klavierstück. Bemerkenswert ist, was beim Hören während des Films und insbesondere ungeübten Ohren höchstwahrscheinlich nicht auffällt: Vitus wählt für das Kinderlied nicht etwa eine für Anfänger einfachere Tonart, sondern spielt es in E-Dur, um den „Wilden Reiter“ daraufhin in der Originaltonart wiedergeben zu können. Somit ist der Schlusston des Liedes mit dem Anfangston des

96 Der Text des Kinderliedes, wie man ihn heute kennt, ist nicht der ursprüngliche: Das Original mit drei Strophen stammt aus dem 19. Jahrhundert von Franz Wiedemann und beschreibt den Prozess des Erwachsenwerdens, indem Hänschen sich vom Elternhaus löst und erst nach Jahren als Hans wieder heimkehrt. Seit dem 20. Jahrhundert ist das Lied in veränderter Form und mit lediglich einer Strophe verbreitet. Nun geht es um ein Kind, das wegläuft, sich besinnt – und es „kehrt nach Haus‘

geschwind“. (Vgl. hierzu auch z. B. Wikipedia 2013). Über die Tatsache seiner weiten Verbreitung und generellen Bekanntheit hinaus, vermittelt der Einsatz des Liedes im Film vielleicht auch, dass Vitus der Situation mit diesem einfachen Kinderlied entfliehen möchte und erst einmal wegläuft. Er möchte sich zu diesem Zeitpunkt keinem spontanen Klaviervorspiel stellen, tut aber dennoch, was die Eltern verlangen und beginnt zu musizieren. Zwar kommt der Liedtext selbst im Film nicht vor, dennoch ist anzunehmen, dass den meisten Zuschauern der Inhalt der heutzutage verbreiteten Version durchaus geläufig ist und beim Hören des Klaviereinsatzes bewusst wird.

97 Siehe dazu Abschnitt 5.1.2.2.

Charakterstücks von Schumann identisch und demzufolge der Übergang so kurz wie möglich gestaltet, was für einen Überraschungsmoment sorgt. Den „Wilden Reiter“ spielt Vitus dann sehr flüssig und fehlerfrei vor, mit Wiederholung des ersten Teils, wie es auch die Noten vorgeben. Zum Ende hin wird er etwas schneller, so, als möchte er der Situation baldmöglichst entfliehen. Als er das Stück beendet hat, steht er zügig auf und entfernt sich vom Klavier. Sein Unbehagen angesichts dessen, im Moment Mittelpunkt für die geladenen Gäste gewesen zu sein und auch danach zum Gesprächsthema aller zu werden, ist damit umso deutlicher. Mit dem Vorspiel des „Wilden Reiters“ erfüllt er aber schließlich doch die Erwartungen der Eltern und hebt die zuvor kompromittierende Situation wieder auf. Hätte er es bei dem stümperhaften Auftritt mit dem Kinderlied belassen, würde er selbst genauso wie seine Eltern weiterhin von den Gästen belächelt werden. Zudem musiziert er tatsächlich gerne am Klavier und möchte einerseits doch sein Können beweisen.

Andererseits handelt er als Sechsjähriger – wie seine Altersgenossen auch – in Abhängigkeit von der Beziehung zu seinen Eltern: auch wenn diese ihm für den Moment das Gefühl geben, bloßgestellt zu werden, liebt er sie und spielt auch ihnen zuliebe Klavier. Dennoch wird mit dieser Szene früh sichtbar, dass er vonseiten seiner Eltern Druck empfindet und sich damit nicht dauerhaft abfinden wird.

Deutlich wird hier auch seine musikalische Entwicklung: Im Unterricht lernt er mit Czernys Etüden und dem „Album für die Jugend“ auch heute noch sehr verbreitete Standardwerke kennen. Er spielt bereits nach einem halben Jahr so gut, dass er ein Charakterstück wie den

„Wilden Reiter“ ohne Probleme vor Zuhörern vortragen kann. Dass sein Vortrag noch ein wenig kantig klingt, macht umso deutlicher, dass auch ein außerordentlich talentiertes Kind wie Vitus eine lange Entwicklung vor sich hat und erst an deren Beginn steht. Der Einsatz des Stücks im Film zeigt auch, dass Vitus nicht nur mit rein technischen Übungen aufwächst, sondern von seiner Klavierlehrerin an die Musik herangeführt wird, wie es seinem Alter entspricht.