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5 Die auditive Ebene im Film Vitus

5.1 Die Musik im Film

5.1.1 Das Hauptwerk des Films – Robert Schumann: Klavierkonzert a-Moll, op. 54

Klavierkonzert a-Moll, op. 54

Das Klavierkonzert in a-Moll entstand über einen längeren Zeitraum hinweg: Immer wieder begann Robert Schumann (1810-1856) Skizzen zu verschiedenen Klavierkonzerten mit dem Grundgedanken, „kein Werk im Stil der gängigen Virtuosenkonzerte schreiben“ zu wollen (Meier 1995, S. 84). Für Schumann und seine Zeitgenossen der Romantik nahm die Klaviermusik generell in ihrem kompositorischen Gesamtwerk eine „unbestreitbare Führungsrolle“ ein (Gerstmeier 1986, S. 5), während das Klavier mit seinen weiterentwickelten klanglichen Möglichkeiten den Orchesterklang in seiner Bedeutung gewissermaßen ablöste (vgl. ebd., S. 6). Gleichzeitig nahm die Relevanz vorherrschender Gattungstraditionen ab. Im Zentrum stand nun das „fühlende Subjekt“, dem eine freiere Gestaltung, Ganzheitlichkeit und somit die Verbindung verschiedener Gattungen besser entsprach als das Kontrastprinzip der Sonate aus dem vorhergehenden Jahrhundert (ebd., S. 9). 1841 komponierte Schumann die Phantasie für Klavier und Orchester in a-Moll, welche sowohl sinfonische als auch kammermusikalische Züge in sich verbindet und im Unterschied zu den Konzertwerken seiner Zeit nicht zwei schnelle Ecksätze und einen langsamen Mittelsatz vorweist, sondern zu einem einsätzigen Werk komprimiert ist, wenngleich die traditionellen Anlagen der Dreisätzigkeit und der Sonatenform immer noch durchscheinen (vgl. Meier 1995, S. 85). Der überarbeiteten Phantasie fügte Schumann erst 1845, nachdem er dafür keinen Verleger gefunden hatte86, noch zwei weitere Sätze hinzu

85 Siehe dazu Abschnitt 5.1.2.9.

86 Ob dies der Grund für die Erweiterung zum dreisätzigen Konzert war, lässt sich nicht belegen.

Genauso könnte auch Clara Schumann Robert dazu bewogen haben, eine Ergänzung zur Phantasie zu schaffen, denn sie hatte diese nie öffentlich gespielt und begrüßte die Komposition des Konzerts

und schuf so das Klavierkonzert a-Moll in seiner endgültigen Form. Die vormals als eigenständiges Werk konzipierte Phantasie wurde somit zum ersten Satz des einzigen Klavierkonzerts aus dem Schaffen Schumanns. So blieb er letztendlich mit seiner Erweiterung der Phantasie zum Konzert nach außen hin formal bei der klassischen Dreisätzigkeit, die er jedoch, insbesondere durch die Verknüpfung der Sätze 2 und 3 sowie die „übergreifende Einheit der Gestaltung“ (Koch 2001, S. 215), im Grunde genommen wieder aufhob. Über alle Sätze hinweg ist eine Verwandtschaft der Hauptthemen zu erkennen (vgl. hierzu auch Koch 2001, S. 214). Darüber hinaus setzte Schumann hier eine thematisch-motivische Verwebung insofern um, als dass die meisten „der thematischen Gedanken keine in sich geschlossenen Gebilde darstellen, sondern sich tendenziell eher für eine Weiterführung öffnen“, wodurch es an vielen Stellen des Werks zu Überlappungen der Abschnitte kommt (ebd., S. 217).

Im gesamten Konzert wird nicht der Solist in seiner ausgeprägten Virtuosität besonders herausgestellt, wie es für die damaligen Virtuosenkonzerte üblich war. Im Gegenteil:

Schumann lehnte diese Art des Solokonzerts ab, bei dem das Orchester als umrahmendes Beiwerk funktionierte und vorwiegend im Wechsel – und somit im Kontrast – mit dem Solisten zu hören war. Sein Anspruch war ein Klavierkonzert, bei dem das Orchester mit dem Klavierpart eng verwoben würde, d. h. es sollte „mit dem Klavier zu einem untrennbaren Ganzen, zu einem homogenen durchgeformten Klangkörper verschmelzen“

bzw. sollten beide eine „bruchlose Verbindung“ eingehen (Gerstmeier 1986, S. 8). Auf dieses Verständnis geht Gerstmeier folgendermaßen näher ein:

„Das romantische Klavierkonzert hat seinem Wesen nach monologischen Charakter.

Daran vermag der größte Orchesterapparat nichts zu ändern. Das Ich als maßgebende Instanz verleibt sich die Welt ein. Das romantische Konzert ist ein in sich verschlungenes Ganzes.“ (Ebd., S. 13)

So findet eine Integration des Solisten statt, die ein einheitliches Zusammenwirken mit dem Orchester ermöglicht (vgl. hierzu Gerstmeier 1986, S. 10), die allerdings infolgedessen auch danach verlangt, dass die Ausführenden spieltechnisch viel stärker aufeinander eingehen, als wenn sie ein „blockhafte[s] Gegenüber von Solo und Tutti“ wie im herkömmlichen Virtuosenkonzert darstellen würden (Voss 1979, S. 171). Mit dieser Integration wird die reine Virtuosität zugunsten einer Veredelung „in eine anspruchsvolle Komposition“

vermieden (ebd.), wobei „das eine den Klang des anderen färbend“ in Erscheinung tritt sehr, hatte ihr doch zuvor immer ein größeres Bravourstück unter den Werken ihres Mannes gefehlt (vgl. hierzu auch Voss 1979, S. 166 sowie Koch 2001, S. 231).

(ebd., S. 205). So wenig der Pianist jedoch im Vordergrund sozusagen über dem Orchester stehen sollte, so wenig sollte er dahinter zurücktreten. Schumanns Konzert ist so angelegt, dass das Orchester zum integralen Bestandteil wird und „seine eigenen Fähigkeiten und besonderen Eigenschaften voll entfalten kann“ (ebd., S. 196). Gleichzeitig bleibt der Pianist dabei ein virtuoser Solist. Er stellt sich allerdings mit seiner Rolle immer auch in den Dienst eines Ausdrucksmittels für das Werk (vgl. hierzu Voss 1979, S. 197).

Schumann schuf mit diesem Konzert ein Musikstück, das einerseits noch in der Tradition der gebräuchlichen Gattungsbegriffe und vordefinierten Kompositionsformen stand, aber andererseits dennoch klar davon abwich und verbunden mit dem neuen Geist der romantischen Anschauung auch ein neues Verständnis für die musikalische Gestaltungsweise erforderte.

Vor dem erläuterten Hintergrund der Werkentstehung erscheint die Auswahl für den Film Vitus überaus passend. Teile aus allen drei Sätzen tauchen im Laufe des Films an verschiedenen Stellen und mit unterschiedlicher Relevanz auf: Der Beginn des ersten Satzes erklingt extradiegetisch in den beiden Szenen, in denen Vitus gezeigt wird, wie er die Propellermaschine des Großvaters startet und damit abhebt. Im Vorspann wird der Zusammenhang dieser Szenerie noch nicht deutlich – zumal direkt im Anschluss an diese Eröffnungssequenz ein Zeitsprung zum Alltag des sechsjährigen Vitus erfolgt –, während dieses Geschehen gegen Schluss des Films erneut aufgegriffen wird. Die Szene funktioniert demzufolge als Rahmenhandlung, der Vorspann greift auf Vitus‘ Lebenswirklichkeit am Schluss vor. Genau diesem Zustand zum Ende des Films nimmt sich die musikalische Ebene an, wenn der erste Satz des Konzerts in a-Moll beide Sequenzen begleitet. Er ist einerseits Auftakt des Films, vermittelt aber, wie das Geschehen im Bild auch, schon im Vorspann den Stand der persönlichen Entwicklung Vitus‘, der zum Schluss erreicht wird. Somit gibt der Film von Anfang an einen noch nicht fassbaren Hinweis darauf, wohin sich die Geschichte entwickeln wird: nämlich zu einem zwölfjährigen Jungen, der sein außerordentliches Klaviertalent aufgeben wollte und zu ihm zurück findet in einer Art, in der er aus völlig freier Entscheidung heraus – nicht mehr unter dem Druck der Eltern und der festgelegten gesellschaftlichen Konventionen – seinen Weg findet. Der dritte Konzertsatz bildet den Abschluss des Films und erklingt diegetisch, als Vitus sein großes Konzert zusammen mit Orchester gibt. Hier fügt er sich zwar den Konventionen des Musikbetriebs, tut dies aber mit einer gewissen persönlichen Reife und einer Abgeklärtheit, die er erst finden konnte, nachdem er sich von äußeren Faktoren frei gemacht hatte. Auch der zweite Satz erklingt im Film, bleibt für den Zuschauer allerdings wenig auffällig und bedeutend; er begleitet die

Szene, in der Leo und Helen in ihrer Wohnung einen Empfang geben. Die Musik ist hier diegetisch als Hintergrundberieselung der Party eingesetzt und ist nur sehr leise zu hören.

Dennoch sind damit im Verlauf des Films alle Konzertsätze vertreten. Auch wenn das Werk nicht komplett erklingt, so bildet doch immerhin der Beginn des ersten Satzes auch den Anfang des Films, Teile des zweiten Satzes sind innerhalb der filmischen Handlung integriert und schließlich ist zum Filmende der Schluss des dritten Satzes zu hören. Diese Einsatzweise lässt durchaus den Eindruck entstehen, der Film beginne in Begleitung des Konzerts und schließe damit ab. Obgleich es tatsächlich nur Teile des Konzerts sind und während des Films natürlich eine Fülle an weiterer Musik erklingt, stellt Schumanns Konzert in a-Moll, insbesondere die Sätze 1 und 3, damit das Hauptwerk des Films dar. Ein genauerer Blick auf die einzelnen Sätze wird daher in den folgenden Abschnitten vorgenommen.

Besonders interessant erscheint vor dem Hintergrund des Klavierkonzerts von Schumann die Tatsache, dass die Auswahl des Stücks nicht die ursprüngliche Idee des Filmteams war, sondern auf den Vorschlag von Teo Gheorghiu hin erfolgte. Beretta hatte anstelle des Schumann-Konzerts eigentlich eines der Klavierkonzerte von Chopin im Sinn, denn „Chopin hat einen ganz einfachen Orchesterpart und das Klavier ist sehr präsent“. Obwohl für Beretta zuerst schwer vorstellbar war, mit den kleinen Händen Schumann zu spielen, versicherte Gheorghiu das Konzert zu beherrschen; und „er hat dann das ja ganz fantastisch gespielt“. Führt man sich vor Augen, wie sehr bei den Klavierkonzerten Chopins der Pianist mit seiner Virtuosität im Vordergrund steht, erscheint die Auswahl des Schumann-Konzerts für den Film noch gelungener: In den Sequenzen, in denen erster oder dritter Satz erklingen, steht eben nicht mehr Vitus‘ vordergründige Virtuosität und das Zur-Schau-Stellen seines Könnens allein im Zentrum, sondern es geht darum, wohin er sich persönlich entwickelt hat. Natürlich soll auch in der Konzertszene zum Schluss bekräftigt und für alle sichtbar werden, dass er sein Talent eben nicht verloren hat, so wie er es seinem Umfeld über lange Zeit vorspielte. Aber Vitus ist es nun besonders wichtig – nachdem er bereits früher mit außerordentlich virtuosen Stücken seine Begabung bewiesen hatte –, nicht mehr etwas vorzuzeigen in dem Sinne, wie ihn auch seine Eltern immer vorzeigen wollten. Ihm geht es vielmehr darum, dass er seinen Weg gefunden hat: einerseits im inneren Einklang mit sich selbst, andererseits innerhalb der gesetzten Konventionen, welche er akzeptiert und dabei öffentlich zu seinem Können steht, gleichzeitig aber eine gewisse, für ihn überaus wichtige Freiheit erlangt hat. Ebenso ließ auch Schumann mit seinem Klavierkonzert in a-Moll die damaligen Konventionen nicht gänzlich außer Acht, sondern fügte sich darin ein und überschritt zugleich deren Grenzen. Schumanns Konzert vermittelt diese filmische Situation dementsprechend aussagekräftiger und bedeutungsvoller als es ein typisches

Virtuosenkonzert leisten könnte, weil damit eher zu spüren wäre, dass Vitus sich wieder in die Grenzen einfügt, aus denen er ausgebrochen war. Doch so ist es nicht: Er hat sich tatsächlich persönlich weiterentwickelt, mit der Hilfe seines Großvaters und ansonsten ganz auf sich gestellt.

5.1.1.1 1. Satz: Allegro affettuoso

Der erste Satz des Klavierkonzerts erklingt von Beginn an in der Eröffnungssequenz, die als klassischer Vorspann gestaltet ist. Als Zuschauer sieht man, wie ein Junge im Anzug über den Zaun eines Flugplatzes klettert, in eine Propellermaschine steigt, den Motor startet und losfliegt. Ein Flugzeugmechaniker arbeitet in der Nähe, entdeckt ihn aber zu spät und kann ihn nicht mehr daran hindern. Daraufhin bildet blauer Himmel den Hintergrund des Bildes (ab Takt 59 des Klavierkonzerts), während der Titel Vitus sowie die Namen der hauptsächlich am Film Beteiligten eingeblendet werden. Es wird deutlich, dass dieser Junge, der noch nicht näher vorgestellt wird, mit seinem Handeln etwas Illegales tut. Jedoch bleibt an der Stelle offen, inwiefern dies mit der Folgehandlung ab Sequenz 187 zu tun hat. Die Musik wird in dieser Folgesequenz etwas leiser weitergeführt (Takt 77) und klingt dort einige Takte später aus.

Abbildung 14: Hauptthema im ersten Satz des Klavierkonzerts a-Moll von Robert Schumann, erstmals durch die Oboe ab Takt 4 eingeführt und in variierter Form immer wieder von verschiedenen Instrumenten aufgegriffen (eigene Transkription)

Der Vorspann hat demzufolge die Funktion einer Einleitung und stellt gleichzeitig mit der über weite Strecken des Films offen bleibenden Eingangsszenerie eine Rahmenhandlung her, die gegen Schluss des Films im Laufe der Sequenz 55 wieder aufgegriffen wird. Diese Handlung verfolgt der Zuschauer nun mit dem Wissen darüber, dass der Großvater im Krankenhaus Vitus äußerst detailliert geschildert hatte, wie er mit seiner Propellermaschine heimlich geflogen sei (Sequenz 50/Subsequenz 2). Vitus folgt dieser Beschreibung und sucht in der Werkstatt des Großvaters nach dessen Tod den Schlüssel für das Kleinflugzeug. Den vom Großvater erwähnten Bolzenschneider für das Vorhängeschloss am Zaun vergisst er

87 Die Nummerierung der Sequenzen beruht auf dem im Anhang B eingefügten Sequenzprotokoll.

und klettert stattdessen darüber. Hier überschneiden sich die Bilder mit denen des Vorspanns und dennoch ist die Szene anders gestaltet als zuvor: Das Geschehen am Flugplatz wird jetzt im Wechsel mit der Parallelhandlung zuhause bei Vitus‘ Eltern gezeigt.

Helen findet den Brief des Großvaters und liest ihn, während Vitus zum Flugzeug geht, einsteigt und dazu vorerst nicht Schumanns Klavierkonzert, sondern Mozarts Rondo in a-Moll erklingt.88 Das Rondo bricht ab, als es von den Motorgeräuschen des startenden Flugzeugs übertönt wird. Ist Vitus dann in der Luft und das Motorgeräusch ausgeblendet, werden die folgenden Bilder wie auch in der Eingangssequenz von Schumanns Klavierkonzert begleitet: Der erste Satz erklingt nun vom Auftakt zu Takt 67 an und ist so lange zu hören wie Vitus fliegt. Kurz darauf wird auch sein Ziel deutlich; er befindet sich im Anflug auf das Grundstück der Klavierlegende Madame Fois. Sobald er dort zur Landung ansetzt und das Motorgeräusch wieder in den Vordergrund tritt, wird die Musik übertönt und bricht somit zum Ende des Taktes 104 ab. Der hier eingesetzte Ausschnitt aus dem Klavierkonzert deckt sich für kurze Zeit fast89 mit dem Musikeinsatz zu Filmbeginn, wird im Vergleich dazu aber noch weitergeführt. Damit entspricht die musikalische Ebene dem Bild, wo die Handlung ebenfalls weitergeführt wird: Im Vorspann erscheint auf Vitus‘ Abflug hin blauer Himmel im Bild, der von der Anschlussszene abgelöst wird. Jetzt wird darüber hinaus gezeigt, was nach dem Aufsteigen des Flugzeugs in den Himmel geschieht. Auch wenn also diese Flugszene etwas anders als der Vorspann gestaltet ist und sich nur Teile überschneiden – und auch wenn diese Überschneidung auf musikalischer Ebene lediglich zu Teilen erfolgt –, ist deutlich erkennbar, dass es sich hier um denselben Szenenkomplex sowie dasselbe Musikstück handelt wie zu Beginn. Allerdings ist die Handlung des Vorspanns nun in einen größeren Zusammenhang eingebettet und lässt dadurch die Bedeutung der Szene erkennen, die sich dem Zuschauer zu Beginn des Films noch nicht erschlossen hat.

88 Siehe dazu Abschnitt 5.1.2.12.

89 Die bildliche Entsprechung der beiden Szenen stimmt nicht genau mit dem jeweiligen Ablauf der Musik überein: Wenn im Bild zu sehen ist, wie Vitus die Maschine in der Luft steuert und gleichzeitig ein Panorama auf die vor ihm liegende Landschaft gezeigt wird, so erklingt im Vorspann dazu die Musik ab Mitte des Taktes 54; innerhalb der Sequenz 55 setzt die Musik zu dieser bildlichen Entsprechung jedoch ab dem Auftakt zu Takt 67 ein. Bei gleichen Filmbildern erscheint demnach in der späteren Flugszene ein späterer Musikausschnitt des ersten Konzertsatzes. Allerdings fällt dies beim Sehen nicht weiter auf, denn es geht darum, die Szene auch auf musikalischer Ebene wiederzuerkennen. Man kann davon ausgehen, dass diese Verschiebung aufgrund der filmischen Dramaturgie stattfand, da die Flugszene zum Ende des Films hin durch Einfügung der Parallelhandlung von zahlreichen Schnitten bzw. Ortswechseln durchsetzt ist. Somit ist auch für den recht kurzen Einsatz des Klavierkonzerts in dieser Szene ein zusammenhängender musikalischer Abschnitt gewährleistet.

Anfangs steht mit der Flugszene zunächst die Eröffnung des filmischen Themas im Mittelpunkt. In erster Linie geht es um die Perspektive des gezeigten Kindes, das wortwörtlich in die Lüfte abhebt und dabei jeden ihm in den Weg gestellten Widerstand überwindet. Die begleitende Musik kommt zwar aus dem Hintergrund, ist aber so präsent mit der Handlung verbunden und dadurch relevant, dass sie bereits zu diesem Zeitpunkt des Films Vitus‘ Sicht in den Vordergrund bringt90 – wenn auch erst mit der Entfaltung der Handlung in den kommenden Szenen sein enger Bezug zum Klavier deutlich wird. Durch die Musik wird seine Haltung und sein Wesen ausgedrückt, wie es durch das Bild allein nicht dargestellt werden könnte. Daneben wird durch Vitus‘ widerrechtliche Handlung im Bild eine Spannung hergestellt, die den Eröffnungstakten des ersten Satzes mit ihrem

„Ouvertürencharakter“ und dem „dramatische[n] Gestus“ entspricht (Gerstmeier 1986, S. 17), wobei die Handlung im Bild dem Ablauf der Musik folgt und nicht umgekehrt. Diese Spannung wird allerdings nicht aufrechterhalten: Musikalisch wird sie mit Wieder-Aufgreifen des Hauptthemas aufgelöst und genau an dieser Stelle erscheint im Bild der blaue Himmel. Dadurch verstärkt sich die vorläufige Offenheit dieser Eröffnungssequenz, die dem Zuschauer doch erst einmal lediglich eine Ahnung davon gibt, in welche Richtung sich die Geschichte entwickeln könnte. Vor allem im Hinblick auf die direkt folgenden Szenen, die den Alltag des sechsjährigen Vitus sehr wirklichkeitsnah beschreiben, bleibt der Zusammenhang zum Vorspann zunächst unklar, zumal die Märchenhaftigkeit, die der Szene anhaftet, erst im Verlauf des Films offenkundig wird. Der Kontext kann erst dann erschlossen werden, wenn Vitus nach seinem vorgetäuschten Unfall wieder zum Klavierspiel findet, und wird mit erneutem Aufgreifen der Flugszene zum Schluss hin konkret fassbar. Dann zeigt der extradiegetisch erklingende erste Satz des Klavierkonzerts an, dass etwas im Werden ist, dass Vitus dabei ist anzukommen, während der Schlusssatz später diegetisch im Konzertsaal gespielt wird und vermittelt, wie Vitus seine Haltung umsetzen konnte, bei sich angekommen ist und dies jetzt seinem gesamten Umfeld – nicht mehr nur seinem Vertrauten, dem Großvater – offenbaren kann. Er ist dazu schon während der Flugszene bereit und steht zu seinem Entschluss. Für jeden offensichtlich wird dies allerdings erst am Ende, wenn er das Konzert vor Publikum gibt.

Ein Zuschauer, der das Klavierkonzert von Schumann und die Hintergründe dazu kennt, wird beim Sehen dieser Szenen zweifellos Parallelen zum Musikstück ziehen. Aber auch einem damit weniger vertrauten Rezipienten wird gerade durch das Zusammenwirken von

90 Die Vergegenwärtigung der Gedankenwelt des Protagonisten durch die Musik wird hier zwar nicht exakt in dem Sinne wie etwa Szpilmans gedankliche Musik in Der Pianist zum Teil der Handlungsebene, vermittelt aber dennoch nicht nur stimmungsbezogen Vitus‘ Befindlichkeit.

Bild und Musik die oben beschriebene Ahnung zu Beginn nicht entgehen. Vor allem wird er die Szene am Ende wiedererkennen; vermutlich besonders über die bildliche Ebene, aber genauso wird ihm die dann erklingende Musik nicht neu vorkommen91. Die Musik hebt sich in ihrem Charakter von den überaus technisch-virtuosen Stücken ab, welche Vitus im Laufe der Handlung darbietet, womit seine persönliche emotionale Entwicklung auch in musikalischer Hinsicht vollzogen wird. Mit seinem Ausbruch aus dem alten Leben eines hochbegabten Klavierschülers entwickelt er sich zu einer reiferen Persönlichkeit. Diese Entwicklung findet ebenso musikalisch statt: Zuerst geht es noch um das Zur-Schau-Stellen hoch komplizierter technischer Fertigkeiten, jetzt geht es überdies um musikalische Reife.

Über die bereits erläuterten Zusammenhänge hinaus sind für das Verständnis der Flugszene noch zwei weitere Aspekte wesentlich. Zum einen ist hier der Bezug zu Vitus‘ Besuch der berühmten Klavierlegende Madame Fois (Sequenz 22) relevant, zum anderen der Traum vom Fliegen, der eigentlich vom Großvater ausgeht.

Als Vitus in Sequenz 22 mit seiner Mutter auf dem Weg zu Madame Fois ist, hat er das Klavierspielen innerlich schon aufgegeben. Der Szene geht das Gespräch mit dem Großvater voraus, in dem dieser Vitus ausdrücklich dazu ermutigt, seinen dringlichen Wunsch, normal zu werden, in die Tat umzusetzen. Vitus vernachlässigt bereits das Üben, als Helen den Kontakt zu Madame Fois herstellen kann und ihm damit eine Unterrichtsstunde bei der begehrten Lehrerin ermöglicht. An dieser Stelle kommt es zum Eklat: Vitus weigert sich vorzuspielen, was seine Mutter, die sich selbst mehr und mehr über die Karriere ihres Sohnes definiert, nicht begreifen kann. Schließlich gipfelt in diesem Moment ihre Anstrengung, Vitus‘ Förderung voranzutreiben, womit sie nur das vermeintlich Beste für ihn will. Allerdings erkennt sie dabei seine eigenen Wünsche nicht mehr. Madame Fois hingegen geht verständnisvoll auf ihn ein und macht beiden Besuchern klar, dass es nicht darum geht, anderen zuliebe zu spielen. Zu Vitus sagt sie: „Nimm dir Zeit, bis du Lust verspürst, der Musik zuliebe Piano zu spielen. Kalte Vernunft und ein warmes Herz; das ist es, was einen großen Pianisten ausmacht.“ Diese Aussage weist ihn endgültig darauf hin, dass sein Weg in eine neue Richtung verlaufen muss. Daraufhin täuscht Vitus seinen Sturz vom Balkon vor und nimmt vorerst Abstand vom Klavierspiel. In seiner weiteren Entwicklung kann er die Empfehlung der Lehrerin allmählich zu seinem eigenen Leitsatz werden lassen. Er erfährt nun auch eine emotionale Reife, die es ihm ermöglicht Musik zu empfinden, nicht nur technisch-virtuos zu spielen. Auf Madame Fois‘ Unterrichtsangebot

91 Ein derartiger Eindruck wird gewiss auch durch die Tatsache bekräftigt, dass Schumann dem ersten Satz des Klavierkonzerts „nur ein einziges Thema zugrunde“ gelegt hat, von dem „alle anderen thematischen Gestalten variativ abgeleitet“ sind (Meier 1995, S. 85).

kommt er innerhalb der Flugszene zurück: Er hat sich genügend Zeit genommen, um sich einen eigenen Zugang zur Klaviermusik zu schaffen. Nun will er ihr aus eigenem Antrieb am Klavier vorspielen und nicht mehr auf das Drängen der Mutter hin. Dieser Sachverhalt kommt auch musikalisch zum Ausdruck. Denn als Vitus von Helen zu Madame Fois gefahren wird, werden Fahrt und Ankunft von Ravels „Alborada del grazioso“92 untermalt. Vitus spielt dieses äußert virtuose und anspruchsvolle Stück lustlos und eher unfreiwillig in der vorherigen Szene, als er das Üben bereits vernachlässigt; mit den Bildern der Fahrt zur Lehrerin klingt diese Musik dann aus. Sein späterer Anflug auf das Grundstück, also seine Rückkehr zu Madame Fois, wird hingegen vom ersten Satz des Klavierkonzerts begleitet, der, wie oben ausführlich erläutert, seine emotional entwickelte Persönlichkeit widerspiegelt. Dass er hier in einem Flugzeug fliegend ankommt, gibt der Situation zusätzliches Gewicht und versinnbildlicht gleichzeitig seine nun erlangte innere Freiheit.

Überhaupt stehen die beiden Flugszenen zu Beginn und am Ende für diese innere Freiheit, die Vitus mithilfe seines Großvaters erlangen kann. Den ganzen Film über ist für Vitus der Großvater seine eigentliche Vertrauensperson innerhalb der Familie. In die Verbundenheit zwischen den beiden fließt immer wieder der Traum vom Fliegen ein, der den Großvater seit seiner eigenen Kindheit begleitet. Gleichzeitig vermittelt dieser seinem Enkel Bodenständigkeit, denn er selbst hebt nie ab. So bildet die Szene am Bach (Sequenz 20/Subsequenz 2), in der Großvater und Enkel ein Gespräch über Vitus‘ eigentliche Wünsche für sein Leben führen, einen Wendepunkt in der Erzählung: Vitus weiß trotz der zielstrebigen Karriereplanung durch seine Eltern gar nicht, was er selbst will; er weiß lediglich, dass er „normal“ sein möchte. Darauffolgend sucht Vitus einen Weg für sich, einerseits Normalität zu erlangen und nicht mehr ewiger Außenseiter und Mittelpunkt gleichermaßen zu sein, indem er erst einmal vortäuscht abzustürzen – im Gegensatz zum späteren Abheben in die Lüfte. Andererseits nutzt er später genau diesen Traum seines Großvaters dazu, auf seinem selbstbestimmten Weg anzukommen und seine Begabung zu akzeptieren. Er schafft es somit, die Widersprüche, die ihn bestimmen – nämlich die Diskrepanz zwischen seinen eigenen Wünschen und denen seines Umfelds –, mit ganz anderer Widersprüchlichkeit aufzuheben. Schließlich kommt er am Ende wieder auf die Musik und das Klavierspiel zurück und fügt sich zu einem gewissen Grad auch in Konventionen ein, aus denen er zuvor ausgebrochen war. Dabei deutet die Märchenhaftigkeit der gesamten zweiten Filmhälfte bereits darauf hin, dass die eigentlich widerrechtliche Handlung des Fliegens in der Propellermaschine ein Symbol darstellt. Und auch wenn zuvor der Großvater im Krankenhaus davon erzählt, er sei mit der

92 Siehe dazu Abschnitt 5.1.2.6.