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5 Die auditive Ebene im Film Vitus

5.1 Die Musik im Film

5.1.2 Musikeinsätze zur Darstellung von Vitus‘ Begabung, musikalischer

5.1.2.9 Johann Sebastian Bach: Goldberg-Variationen, BWV 988

akustischer Ebene bewusst gemacht, dass sich für Vitus etwas geändert hat, völlig greifbar ist es ihm zum Zeitpunkt der Szene allerdings noch nicht – erst dann, wenn Vitus sich mit seinem Klavierspiel in der folgenden Szene dem Großvater offenbart und zeigt, dass er noch genauso beeindruckend Klavier spielen kann. Die Sonate in C-Dur, K 159, die Vitus‘ weitere Fahrt auf seinem Fahrrad begleitet, nachdem Jens‘ Musik zum ersten Mal erklang, gehört zu den leichteren Stücken Scarlattis aus Band I der Handschriften von 1752. Sie hat einen lebhafteren Charakter und wirkt schneller115 als die zuvor eingesetzte Sonate in e-Moll, womit die Musik an Jens‘ Musik und die Situation des Fahrradfahrens angepasst wird. Wie bereits erwähnt, geht es bei dem Einsatz einer zweiten Sonate aber auch um die Darstellung eines längeren Zeitraums und darum, dass Vitus sich hier offensichtlich mit verschiedenen Stücken von ein und demselben Komponisten beschäftigt. Er interessiert sich nicht mehr nur dafür, technisch besonders schwierige Herausforderungen zu bewältigen. Dass hier eben nicht eine von Scarlattis glanzreichen, überaus virtuosen Stücken erklingt, lässt ebenso ahnen, dass er sich auf eine andere Weise mit Klaviermusik zu befassen beginnt. Er ist im Begriff, eine neue Herangehensweise an den Umgang mit Musik zu finden.

Können, die Klavierübung kann dementsprechend keineswegs als „pädagogisches Stück für Schüler“ angesehen werden (ebd., S. 21). Die Schwierigkeit der „Goldberg-Variationen“

liegt darüber hinaus im Wesentlichen in einem anderen Aspekt: „Im Grunde sind diese Handstücke woanders auszutragen als durch trainierte Technik der Hände. Sie zu spielen erfordert die Handhabung einer innerlichen Sprache, nicht nur Zunge oder Mund, sondern auch Verständnis der Werke und Gedanken.“ (Ebd.)

Nicht ohne Grund nahmen sich den „Goldberg-Variationen“ immer wieder bedeutende Pianisten an, die alle in einer angemessenen Interpretation auch eine große Herausforderung fanden. Hier handelt es sich um ein höchst durchdachtes Werk, mit dem Bach mitunter auf zweihundert Jahre Musikgeschichte Bezug nahm und so „ein eminent geschichtshaltiges Werk“ schuf (Traub 1983, S. 70); und auch davon abgesehen ist darin eine enorme Anzahl an unterschiedlichsten Symbolen und Bezügen verwoben:

„Von der musikalischen Analyse her erscheint das rätselhaft-bedeutungsvolle Werk wie eine kompositorische Alchimie. Denn nicht nur wird ein Baßschema dreißigmal aufs erfindungsreichste ausgestaltet, es sind noch Kanons verschiedener Art in das Ostinato hineingewoben, die doch in der konsequentesten Weise durchgeführt werden. Aber das bleibt unmerklich, verfliegt fast beim Hören. Ein ganzes Kompendium musikalischer Gattungen wirkt mit – Fugiertes, Tanzartiges, Konzertantes, Arios-Kantables, Virtuos-Brillantes; nahezu alle musikalischen Agenzien sind damit vertreten, wenn auch nicht alle mit gleichem Gewicht. In der Zusammenstellung wirken geheimnisvoll Zahlen; und in unangreifbarer Heiterkeit webt sich das Vielerlei zum Ganzen.“ (Kaußler & Kaußler 1985, S. 11)

Diese Aussage hebt bereits hervor, was die Struktur des Werks auszeichnet. Tatsächlich hat Bach den „Goldberg-Variationen“ schon allein mit ihrem grundlegenden Aufbau eine „bis ins Detail strukturierte“ (Schlüter 2011, S. 9) und für alle Teile des Werks bedeutsame Anlage verliehen: Den Ausgangspunkt bildet die Aria, die am Beginn steht und durch ihre Wiederholung zum Schluss den Rahmen bildet. Für die dazwischen liegenden Variationen ist sie das Fundament – allerdings nicht etwa durch ihre Melodie, sondern durch das Bassthema, auf das sich jede der 30 Variationen in verschiedenster Weise bezieht. Diese sind in zwei Teilen von je 15 Variationen angeordnet, welche wiederum in fünf Gruppen mit je drei Variationen aufgegliedert sind. Jede Dreiergruppe bildet die Folge einer Charaktervariation, einer virtuosen Variation und eines Kanons, womit sich eine Entwicklung vollzieht, die am Ende jeder Gruppe in fortgeschrittener Weise auf die nächste Dreiergruppe übergeht; dabei „vollenden [die Kanons] ihre Gruppe, machen aber gleichzeitig bereit zu Neuem“ (Kaußler & Kaußler 1985, S. 117). Die vorliegenden Kanonvariationen sind überdies „in ansteigender Ordnung vom Einklang bis zur None

gehalten“ und statt eines zehnten Kanons steht ein Quodlibet über zwei zeitgenössische Volkslieder als Abschluss der 30 Variationen – „anscheinend ein humorvoller Fingerzeig des Komponisten, daß der Höhepunkt des Werks nicht in Kontrapunktik besteht und mit musikalischer Logik und intellektuellem Scharfsinn allein zu fassen ist“ (Rampe 2008, S. 938). Insgesamt ist das Werk jedoch ganz und gar durch eine außerordentlich formvollendete Satztechnik geprägt und gleichzeitig weisen alle Variationen ihren eigenen Charakter auf.

Teile der „Goldberg-Variationen“ erklingen im Film, als Vitus im Anschluss an die Fahrradszene bei seinem Großvater ist (Sequenz 32/Subsequenz 1). Zuvor ist zu sehen, wie er sich im Musikgeschäft eine CD-Aufnahme des Werks kauft. Im Haus des Großvaters spielen die beiden daraufhin Schach und Vitus verliert – wie immer seit seinem Sturz. Der Großvater schlägt vor, in die Werkstatt zu gehen, Vitus aber verspricht nachzukommen. Er möchte sich zuerst noch mit der eben gekauften Aufnahme beschäftigen und hört sich die Musik eine ganze Weile andächtig an: Die Aria läuft auf CD von Beginn an und ist auch zu hören, wenn parallel dazu der Großvater auf seinem Weg in die Werkstatt gezeigt wird; für diesen Moment klingt sie etwas leiser, wie aus der Entfernung. Sie wird in der Mitte des Taktes 13 durch das laute Geräusch der Sägemaschine abgebrochen, wenn das Geschehen wieder zum Großvater wechselt und dieser in der Werkstatt arbeitet.

Abbildung 25: Beginn der Aria aus den „Goldberg-Variationen“ von Johann Sebastian Bach (Peters c 1937)

Stellt der Großvater die Säge aus, ist auch wieder aus der Entfernung Musik wahrzunehmen, die ihre volle Lautstärke annimmt, sobald Vitus erneut eingeblendet wird.

Er hört noch immer die CD an, nun erklingt allerdings der erste Teil der Variation 29.117 Vitus sitzt mittlerweile schon am Klavier, stellt die CD aus und beginnt selbst zu spielen. Er knüpft da an, wo er die CD-Aufnahme angehalten hat und führt die Variation 29 somit eigenhändig weiter.

Abbildung 26: Ausschnitt aus der Variation 29 (Beginn des zweiten Teils) der “Goldberg-Variationen” von Johann Sebastian Bach (Peters c 1937)

Er spielt den zweiten Teil einmal ohne Wiederholung und geht direkt zur Variation 30, dem Quodlibet, über. Diese Variation spielt er wiederum nicht von Beginn an, sondern ab Takt 7 und führt sie ohne Wiederholung der Teile bis zum Ende fort. Parallel dazu wird auch hier immer wieder der in der Werkstatt beschäftigte Großvater eingeblendet, der zuerst noch hört, wie die CD im anderen Raum läuft, dann wird er aber darauf aufmerksam, dass die Quelle der Musik nun das Klavier ist. Ohne den ganz in seinem Spiel versunkenen Vitus zu stören, blickt er in den Raum und sieht seinen Enkel tatsächlich am Klavier musizieren. Die Musik klingt mit Blick auf den nachdenklichen Großvater vor dem Haus aus. Nach dieser musikalischen Offenbarung sitzen die beiden beim Essen, Vitus entschuldigt sich für sein Verbergen der Tatsachen und dem Großvater wird nun vollkommen bewusst, dass Vitus seine ganze Familie hereingelegt, seinen Unfall nur simuliert hat und nach wie vor hochbegabt ist.

Dass in dieser Szene die „Goldberg-Variationen“ lediglich in Ausschnitten erklingen, zeigt erneut, wie bereits der Musikeinsatz in der Fahrradszene kurz zuvor, den Ablauf eines längeren Zeitraums an. Auch die Gestaltung dieser Szene lässt also beim Zuschauer den Eindruck entstehen, dass Vitus sich das Werk in voller Länge anhört bzw. dann selbst weiterspielt – vom Beginn der erklingenden Aria über die 30 Variationen bis zum Ende der

117 Zu hören ist die Variation etwa ab Takt 4, der erste Teil wird wiederholt und erklingt somit noch einmal von vorne bis zum Ende des Taktes 16 (Ende des ersten Teils).

abschließenden Wiederholung der Aria. Dazu legen die Schnitte zum Großvater in bildlicher Entsprechung nahe, dass Vitus sehr lange vor der Musikanlage und am Klavier sitzt, denn in diesem Zeitraum schafft es der Großvater einen Stuhl anzufertigen. Auch wenn der Zuschauer die sehr bekannten „Goldberg-Variationen“ nicht kennt, wird damit diese Funktion der Musik deutlich.

Dennoch lohnt sich ein genauerer Blick darauf, welche Teile des Werks innerhalb der Szene tatsächlich erklingen. Zuerst hört sich Vitus die Aria, die Grundlage für die folgenden Variationen, auf CD an:

„Wie die Ruhe und Weite der Nacht selbst erklingt die Aria, fließend, offen, ohne sich festzulegen – ein allgemein-lebendiges ‚Chaos‘, lang fortschreitend im grenzenlosen Raum. Kein Melodie-Thema zwingt die Gedanken in feste Bahn; in stetigem Fluktuieren verändert sich das Melodische, im atmenden Gang der Begleitstimmen sicher geborgen.“ (Kaußler & Kaußler 1985, S. 183)

Durch ihren ruhigen Gestus wirkt sie recht schlicht, womit die Aria aber „Freiheit für Ornamente, Auszierungen, Tiefe und Improvisation“ lässt (Schlüter 2011, S. 37). Während der später zu hörenden Variation 29 entscheidet sich Vitus, selbst weiterzuspielen: Seit der Aria hat das Werk eine umfängliche Entwicklung genommen und strebt jetzt seinem Ende entgegen. Diese Variation ist gegenüber der Aria lebendig und impulsiv, sie ist einer der virtuosen Höhepunkte des Werks (vgl. hierzu auch Schlüter 2011, S. 132). Dadurch erscheint sie wie „ein Bestätigen alles Bisherigen, ein Herauslösen wie das Amen, das abschließt und zugleich freigibt – in übermütiger Kraft, in hochgemuter elementarer Spielfreude“ (Kaußler & Kaußler 1985, S. 222). Vitus schließt zwar an dieser Stelle direkt das Quodlibet an, die Anfangstakte sind jedoch nicht zu hören, was ebenfalls auf einen kurzen Zeitsprung schließen lässt bzw. eventuell auf eine auch damit etwas kompakter gestaltete Szene. Denn auch die Wiederholungen lässt Vitus aus, wenn er selbst spielt. Es ist nicht zu vermuten, dass hier vermittelt werden soll, Vitus spiele die jeweiligen Variationen möglicherweise aus dem Grund nicht vollständig, da er ohne Noten Teile davon nicht mehr auswendig kann. Gerade das Quodlibet ist von eingängigen Melodien geprägt, was ein hochbegabter Pianist, der es gewohnt ist, auswendig zu spielen, kaum vergessen würde.

Auch ein bloßes Vor-sich-hin-Spielen von Teilen eines Werks ist in dieser Szene nicht die Absicht, denn Vitus meint seine Sache gerade hier besonders ernst. Er offenbart sich damit dem Großvater und spielt gleichzeitig für sich selbst, aber eben nicht so, wie wenn er einfach aus Lust und Laune etwas daherspielen würde. Schließlich hat er sich im Vorfeld darum gekümmert, eine Interpretation des Werks zu besorgen, gleichzeitig kann er die

„Goldberg-Variationen“ bereits auswendig und befasst sich intensiv damit, nun eine eigene Interpretation davon zu schaffen.

Das Quodlibet hat Bach explizit so genannt, offensichtlich nicht nur im allgemeinen Begriffsverständnis, sondern ganz konkret auch im Hinblick auf die scherzhaften musikalischen Potpourris, die auf den Familienfeiern der Bachs gang und gäbe waren (vgl.

hierzu z. B. Rampe 2008, S. 943). Bach verarbeitete hier neben dem Thema aus der Aria zwei damals geläufige Volkslieder, welche beide Abschied thematisieren (vgl. Dammann 1986, S. 236). So kann man das Quodlibet an seiner Stelle innerhalb des Werks durchaus als Kehraus verstehen, mit dem auch die Wiederkehr der abschließenden Aria angekündigt wird. Nachdem direkt davor die überaus virtuose Variation 29 erklang, steht nun „das Volkstonartige, das Direkte und doch kunstvoll Gefügte als ein Kraftquell, als Ausgleich zum erlebten Höhenflug“ (Kaußler & Kaußler 1985, S. 227).

Mit Verwendung gerade dieser Stücke aus den „Goldberg-Variationen“ im Film sind alle Facetten wiedergegeben, die Vitus nun zu erfüllen fähig ist: Die Aria spielt er zwar nicht, aber auch seine hörende Beschäftigung damit bringt zum Ausdruck, dass er sich auf eine Art von Musik einlässt, die nicht mehr einer rein technischen Herausforderung entspricht. Sie erfordert einen tieferen Zugang, um angemessen interpretiert zu werden. Mit der Variation 29 wird dennoch klar, dass Vitus noch immer auf seinem früheren Niveau Klavier spielen kann und eben nicht durch einen vermeintlichen Sturz seine Fähigkeiten verloren hat.

Durch das Quodlibet dagegen, das er ebenfalls selbst spielt, entsteht, auch wenn die wiederkehrende Aria im Film danach nicht mehr erklingt, ein Bezug zu ihr. Mit dieser letzten Variation schafft Vitus einen Bogen und gleicht den oben zitierten Höhenflug der vorhergehenden Variation wieder aus. Es gelingt ihm nun, nach einem Ausflug ins hoch Virtuose auch wieder anzukommen, vor allem endlich bei sich anzukommen und geerdet zu sein. Wie die „Goldberg-Variationen“ durch ihre geniale Anlage und die zahlreichen enthaltenen Symbole und Bezüge selbst ein großes Ganzes sind, so wird auch ihr Einsatz im Film zum Symbol. Vitus macht damit seine verschiedenen Blickwinkel auf die Musik deutlich und stellt zum ersten Mal eine vollständige Persönlichkeit dar, ist musikalisch gesehen

„ganz“. Er ist zwar äußerlich noch nicht an dem Punkt angekommen, den er später innerhalb der Flugszene bzw. im abschließenden Konzert erreicht; aber schon jetzt hat er sich seinen Weg zurück zum Klavierspiel aus eigenem Antrieb gebahnt, ohne den Druck oder Anstoß durch die Eltern. Natürlich hat er auch ab hier noch eine lange Entwicklung vor sich, die konkrete Richtung dafür wird aber mit dieser Szene offensichtlich.

Insgesamt bedeuten die „Goldberg-Variationen“ innerhalb der Szene außerdem Vitus‘

Offenbarung vor dem Großvater, die auch im anschließenden Gespräch direkt angesprochen wird. Diese Wendung vollzieht sich aber zuerst nur über die eingesetzte Musik selbst und wird allein durch das Klavierspiel ausgedrückt. Insofern stellt sie auch die Schlüsselszene des Films überhaupt dar, denn Vitus hört und spielt einerseits ganz privat für sich selbst und er dringt damit tief in die Musik ein, schafft sich damit seinen eigenen Kosmos. Er kann den Drang, auf das Gehörte hin selbst wieder wirklich zu musizieren, nicht mehr unterdrücken. Aber ihm ist dabei auch klar, dass sein Großvater zuhören und erkennen wird, was tatsächlich mit ihm los ist. Daher ist es somit im Grunde auch eine geplante Handlung in dem Bewusstsein, dass er sich mit dem Klavierspiel seiner Vertrauensperson gegenüber öffnet. Er kann sich beim Großvater sicher sein, dass dieser seinen Beweggrund für den simulierten Sturz und das Schweigen darüber verstehen wird, denn er legte im Gespräch am Bach den Ursprung für Vitus‘ Handeln. Und auch wenn für Vitus selbst in seinem Entscheidungsprozess der Herbeiführung einer gewissen Normalität eigentlich der Sturz vom Balkon entscheidend ist, bildet die Spielszene beim Großvater den wesentlichen Wendepunkt für die filmische Dramaturgie, denn erst hier erlangt Vitus‘

Vertrauter und im gleichen Maße auch der Zuschauer die Erkenntnis zum tatsächlichen Sachverhalt. Somit nimmt auch der Zuschauer gewissermaßen die Perspektive des Großvaters ein, denn er weiß ab diesem Zeitpunkt im Gegensatz zu Vitus‘ Eltern und dem übrigen Umfeld genauso viel. So wie der Großvater war der Zuschauer bis dahin davon überzeugt, dass Vitus durch seinen Sturz auch seine Hochbegabung verloren habe, und nun begreifen beide, was den Jungen wirklich antreibt. Auch Beretta erwähnt, dass die

„Goldberg-Variationen“ für diese Szene eingeplant waren, „um das Coming-out zu provozieren“, noch bevor genauere Absprachen mit Teo Gheorghiu zur Auswahl der Klavierstücke erfolgten. Gezeigt werden sollte damit auch, dass Vitus sich beim Spielen auf die zuvor gehörte Aufnahme des verdienten Künstlers Alexey Botvinov bezieht: „Ich wollte ihm die Latte möglichst hoch legen und der Kleine kann da zeigen, dass für ihn eigentlich nichts ein Problem ist.“

5.1.2.10 Charles Valentin Alkan: Zwölf Etüden in den Durtonarten – Erste Suite, op.

35 – Nr. 5: Allegro barbaro

Charles Valentin Alkan (1813-1888) ist im Vergleich zu seinen berühmten Zeitgenossen wie Frédéric Chopin oder Franz Liszt, mit denen er befreundet war, insbesondere außerhalb Frankreichs eher unbekannt geblieben. Dies lag wohl mitunter an „seinem labilen Gesundheitszustand und seinem zur Passivität neigenden Charakter“ (Schilling 1986, S. 42).

Er führte ein recht isoliertes Leben, war jedoch ein herausragender Klaviervirtuose und

komponierte ausgesprochen schwierige, technisch enorm herausfordernde Werke für Klavier. Dazu gehören auch seine Etüden in Dur- und Molltonarten (op. 35 und op. 39), die sich der verschiedenen Besonderheiten der Spieltechnik annehmen und jeweils ihren eigenen, klar definierten Charakter aufweisen (vgl. Smith 1987, S. 109). Die Etüde bei Alkan ist „mehr noch als bei anderen Klavierkomponisten seiner Zeit, zum Ausdruck einer die vielfältigsten Stile und Formen in sich vereinenden kompositorischen Gattung mit größtmöglichem Freiraum geworden“ (Schilling 1986, S. 243). Bei der im Film von Vitus gespielten Etüde handelt es sich um die fünfte der zwölf Dur-Etüden, überschrieben mit dem Titel „Allegro barbaro“, welcher bereits auf die ungestüme und kraftvolle Unmittelbarkeit (vgl. hierzu auch Eddie 2007, S. 58) des Stücks hinweist. Es ist „eine temperamentvolle Oktavenstudie“ (Schilling 1986, S. 256), bei der ausschließlich auf weißen Tasten musiziert wird. Schilling bezeichnet diese als „die charaktervollste und bedeutendste Etüde dieses ersten Heftes der in zwei Folgen unterteilten Dur-Etüden“

(ebd.).

Abbildung 27: Ausschnitt aus der Etüde “Allegro barbaro” von Charles Valentin Alkan (Braun o. J., Nr. 4789)

Neben der Beschäftigung mit Werken wie den „Goldberg-Variationen“ übt Vitus nach seiner musikalischen Offenbarung auch weiter an Stücken, die insbesondere auf technischer Ebene äußerst kompliziert sind. So entwickelt er sich in verschiedenen musikalischen Aspekten kontinuierlich weiter. Alkans Etüde übt er, nachdem er ein unausgebautes Appartement angemietet und sich einen Flügel angeschafft hat (Sequenz 46/Subsequenz).

Das Appartement wird zum Zentrum seines Parallellebens, von dem nur sein Großvater weiß. Zuerst ist der große Raum leer, nur der Flügel und ein Kleiderständer stehen darin.

Dementsprechend gestaltet sich die Raumakustik, wenn Vitus Klavier spielt. Die Musik dieser Szene erklingt bereits zum Ende der vorherigen Szene und wirkt damit zuerst für einen Moment extradiegetisch. Zu hören ist ein Ausschnitt aus dem letzten Teil der Etüde („furiosissimo“),118 der ungemein kraftvoll und stürmisch klingt: Vitus befindet sich mitten im Übeprozess, verspielt sich, spielt langsamer und daraufhin wieder schneller weiter.

Daher spiegelt diese Szene vor allem den Stand seiner musikalischen Entwicklung wider und zeigt, dass er nun im Verborgenen selbst aktiv ist, um sich eine geeignete Umgebung zum Üben zu schaffen. Er bringt sich in dieser Phase die Klavierstücke selbst bei, ist sich somit sein eigener Lehrer. Wie in späteren Szenen gezeigt wird, kauft er sich zahlreiche CDs und hört sich diese im Appartement an. Dies bringt neben einer Übungssituation wie dieser zum Ausdruck, dass er sich hier auf vielfältige Weise mit Musik beschäftigt und danach strebt, die Werke nicht nur technisch einwandfrei spielen zu können, sondern auch durch verschiedene Aufnahmen interpretieren zu lernen. Damit wird deutlich, dass sogar die Weiterentwicklung ohne einen Klavierlehrer kein Problem für ihn zu sein scheint.