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3 Musik, Geräusch und Stille im Film Der Pianist

3.1 Die Musik im Film

3.1.1 Diegetische Musik

3.1.1.6 Henryk Wars und Emanuel Szlechter: Umówiłem się z nią na dziewiątą

für Filme, welche seinerzeit in der polnischen Bevölkerung sehr beliebt waren und auch außerhalb des jeweiligen Films populär wurden. So auch der Song „Umówiłem się z nią na dziewiątą“71, der erstmals in der Komödie Piętro wyżej (1937)72 von dem damals in Polen sehr bekannten Schauspieler Eugeniusz Bodo (1899-1943) gesungen wurde. Den Text des Liedes verfasste Emanuel Szlechter (1906-1943), von dem auch das Drehbuch zum Film stammt.

In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass bereits in Spielbergs Schindlers Liste, einem der bedeutendsten Filme seines Genres, ein Song von Wars, “Miłość ci wszystko wybaczy”73, verwendet wurde; zuerst diegetisch in einer Szene, in der eine Sängerin das Lied vorträgt, während Schindler mit Offizieren in einem Lokal zu sehen ist. Dann geht die Musik in die nächste Szene über, in der Göth seiner jüdischen Haushälterin zeigt, dass er sie begehrt, und sie dann schlägt. Schubert stellt hierzu die Tatsache heraus, dass Wars ein polnischer Jude war, der der Verfolgung durch die Nationalsozialisten entkommen konnte.

69 Auch mit dieser Aussage zieht Kramer eine weitere Verbindung zwischen der Ballade und der Sonate: Wird in der Szene des Klaviervorspiels vor dem Offizier zwischendurch der Blick auf die nächtliche Straßenansicht vor dem Haus eingeblendet, sieht er darin die Entsprechung zum Blick auf die zerstörte Stadt in Sequenz 45.

70 Eigentlich hieß der jüdisch-polnische Komponist Henryk Warszawski, er kürzte jedoch seinen Namen ab und nannte sich Henryk Wars. Nach seiner Emigration in die USA im Jahr 1947 änderte er den Namen erneut um in Henry Vars (vgl. hierzu auch Schubert 2001, o. S.). So wie Szpilmans Musik auch, war die Musik Wars‘ zu seiner Zeit in Polen überaus beliebt und ist dort auch heute noch bekannt. Außerhalb des Landes weiß man jedoch (abgesehen von seiner Filmmusik z. B. für Flipper) nur wenig über ihn.

71 Der englischsprachige Wikipedia-Artikel über Henryk Wars liefert eine Übersetzung des Titels: „I Have a Date With Her at Nine“ (vgl. Wikipedia 2015).

72 Englischsprachiger Filmtitel: Upstairs (vgl. Schubert 2001, o. S.).

73 Der Song stammt aus dem Film Szpieg w masce (1933) und heißt in englischer Übersetzung „Love Will Forgive You Everything“ (vgl. Schubert 2001, o. S.).

Für die Verbindung zum Filminhalt und dem entsprechenden Einsatz des Liedes in Schindlers Liste ist diese Tatsache durchaus von Bedeutung (vgl. hierzu Schubert 2001, o. S.).

Für den Film Der Pianist wiederum ist der Song „Umówiłem się z nią na dziewiątą“ in ähnlicher Weise prägend. Er taucht im Laufe des Films mehrmals in unterschiedlichen Situationen auf, doch jedes Mal in Form eines Klaviervortrags ohne Gesang, d. h. der Text des Liedes kommt nicht vor und spielt für den filmischen Kontext dementsprechend auch keine weitere Rolle.

Abbildung 6: Melodie des Liedes „Umówiłem się z nią na dziewiątą“ (eigene Transkription aus dem Film)

Das Lied wird in beiden Szenen eingesetzt, in denen Szpilman als Ghetto-Pianist im Restaurant zu sehen ist (Sequenzen 11 und 15). Es ist dort im Stil einer beiläufigen Unterhaltungsmusik zu hören und wird von den Gästen des Restaurants nicht weiter beachtet. In der ersten dieser Szenen soll Szpilman sein Klavierspiel zwischenzeitlich unterbrechen, damit einer der wohlhabenden Juden im Restaurant Münzen auf ihre Echtheit überprüfen kann. Der Charakter der Beiläufigkeit wird damit unterstrichen. Bei dem Song handelt es sich um ein recht einfaches Musikstück und so trägt Szpilman es auch vor. Er verziert die Melodie zwar, aber lässt es in Anbetracht des Vortragsrahmens, in dem virtuoses Spiel unangebracht wäre, ruhig erscheinen und benutzt einfache Begleitmuster in der linken Hand. Seine Gestik hebt zusätzlich hervor, dass das Musikstück nicht seinem eigentlichen Können entspricht, denn sein Blick schweift beim Spielen fast gelangweilt im Raum umher und er spielt während der kurzen Unterhaltung mit seinem Chef ebenso weiter. Auch in der zweiten Restaurantszene spielt Szpilman dieses Lied, wobei er es diesmal nicht unterbricht, sondern in seinem Verlauf ganz abbrechen muss: Seine Schwester kommt zu ihm, um zu berichten, dass der Bruder verhaftet wurde. Bevor seine Schwester bei ihm ankommt, wird zwischenzeitlich die Vorderansicht des Hauses gezeigt, wobei die Musik sehr leise weitergeführt wird, als wenn man sie von draußen tatsächlich

wahrnehmen würde. Diese zweite Szene im Restaurant folgt direkt im Anschluss an die Sequenz, in der das Haus gegenüber der Wohnung der Szpilmans gestürmt und der Mann aus dem Fenster geworfen wird. Der Eindruck, dass das Leben am nächsten Tag mit Szpilmans Arbeit im Ghetto „normal“ weitergeht – weitergehen muss –, wird daher umso drastischer.

Im Vergleich zu den Szenen, in denen Szpilman Chopin rezitiert, wirkt die Musik hier, als wäre sie für ihn belanglos. Auch bei seiner Arbeit im Rundfunk vor und nach dem Krieg und als Konzertpianist verdient er mit dem Klavierspiel sein Geld. Hier ist das Spielen im Ghetto jedoch eher als reiner Broterwerb dargestellt, weniger als Beruf und erst recht nicht als Berufung. Er spielt Kaffeehausmusik zur Unterhaltung der Gäste, was ohne Zweifel in der entsprechenden Situation dennoch von großer Relevanz ist: für die Gäste, wenn auch lediglich beiläufig, doch aber zur Aufheiterung in einer überaus schwierigen Lage; für den Musiker selbst, um seine Familie durchbringen zu können.74 Dass diese Szenen das Musikleben im Ghetto aber etwas einseitig darstellen, geht aus dem bereits in Abschnitt 2.3. angeführten Zitat von Marcel Reich-Ranicki hervor. Durchaus wurden neben allgemein beliebten Schlagern wie dem im Film eingesetzten auch anspruchsvolle Konzerte gespielt.

Auch Szpilman selbst erwähnt seine Ghetto-Konzerte und Engagements in unterschiedlichen Kaffeehäusern an mehreren Stellen seiner Aufzeichnung (vgl. 2005, z. B.

S. 66f. oder S. 80ff.). Allerdings erläutert er ebenfalls ausführlich, wie seinem Klavierspiel im Lokal „Nowoczesna“ keinerlei Beachtung geschenkt wird und stellt dabei fest: „Dort wurde ich auch um zwei Illusionen ärmer: um die von einer allgemeinen Solidarität und die von der Musikalität der Juden.“ (ebd., S. 64) Seine Ausführungen sind in der Filmszene, in der es auch um das Prüfen der Münzen geht (Sequenz 11), exakt wiedergegeben (vgl. hierzu ebd., S. 65).

Als Szpilman nach der Flucht aus dem Ghetto in seinem ersten Versteck untergebracht ist, erscheint das Lied im Film erneut. Hier wird auf andere Weise deutlich, dass die Melodie in der gesamten Bevölkerung Warschaus und nicht nur im jüdischen Getto beliebt ist. Sie ist in dieser Szene diegetisch eingesetzt, die Quelle der Musik ist aber nicht zu sehen: Hinter der Wand übt die Nachbarin Klavier, indem sie das Lied spielt (Sequenz 29/Subsequenz 1). Es wird in einer spielerisch recht unsicheren und sehr viel schlichteren bzw. langsameren Version dargeboten als zuvor von Szpilman – den Fertigkeiten der Übenden entsprechend.

74 Die Tatsache, dass in Verbindung mit den Kaffeehausszenen beide Male dieses eine Lied eingesetzt wird – und nicht, wie es der Realität vielleicht eher entsprechen würde, verschiedene Stücke – betont seine Funktionalität im Film und den Wiedererkennungswert bzw. die Möglichkeit der Zuordnung für den Zuschauer. Darüber hinaus wird der oben erläuterte beiläufige Charakter des Klavierspiels in diesen Szenen zusätzlich verstärkt.

Hier erklingt die Musik auch in tieferer Tonlage als in den Szenen, in denen Szpilman den Song vorträgt. Sie bricht ab, als sie vom Geräusch eines Bombeneinschlags übertönt und abgelöst wird. In Sequenz 33 übt die Frau in der Nachbarwohnung erneut Klavier, während Szpilman im Bett liegt und danach etwas zu Essen sucht. Auch hier wird die Musik plötzlich von einem Geräusch abgelöst, als auf Szpilmans Suche nach Nahrung ein Stapel Teller aus dem Schrank fällt und auf dem Boden zerschellt. Das Geräusch ist so laut, dass die Nachbarn aufmerksam werden und das Klavierspiel abgebrochen wird. Durch diese musikalischen Szenen wird deutlich, dass Szpilman in den einsamen Phasen im Versteck durch die gehörte Musik kleine Momente der Erheiterung erfährt. Diese Eindrücke werden dann zunichte gemacht, wenn die Teller zu Boden fallen und ebenjene Klavier spielende Frau ihn entdeckt, ihr wahres Gesicht zeigt und für ihn zu einer großen Gefahr wird.

Die Melodie des Liedes ist in den jeweiligen Szenen so deutlich herausgestellt, dass sie für den Zuschauer sehr gut wiedererkennbar und einprägsam ist. Außerdem wird durch den Einsatz der Musik in diesen Szenen ihre Popularität im damaligen Warschau offensichtlich, wobei sie im Film die Aufgabe übernimmt, einerseits das kulturelle Leben im Ghetto und andererseits auch im Warschau der nichtjüdischen Polen anschaulich zu machen.