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5 Die auditive Ebene im Film Vitus

5.1 Die Musik im Film

5.1.4 Filmmusik von Mario Beretta

Wie im Verlauf der vorherigen Abschnitte bereits ausführlich erläutert wurde, sind im Film Vitus nicht nur speziell für den Film komponierte Stücke als extradiegetische Musik eingesetzt. An zahlreichen Stellen des Films bilden bereits existierende bekannte Werke – zumeist Klavierstücke – den musikalischen Hintergrund. Gleichwohl war für verschiedene Szenen eine ergänzende Gestaltung des Hintergrunds in Form einer herkömmlichen Filmmusik vorgesehen. Diese auf den Film zugeschnittene Musik schuf der Schweizer Komponist, Dirigent und Pianist Mario Beretta (*1942), der, wie bereits erwähnt, auch

128 Siehe dazu Abschnitt 5.1.4.

maßgeblich bei der Auswahl und Szenenanpassung der bereits existierenden Musikstücke beteiligt war. Beretta hat auch für andere Regisseure zahlreiche Bühnen- und Filmmusikstücke verfasst und darüber hinaus Werke für unterschiedlichste musikalische Besetzungen komponiert. Zu Fredi M. Murer besteht für ihn jedoch eine besondere Verbindung: Er kennt den Regisseur bereits seit der Studienzeit sehr gut und war bis hin zur Produktion von Vitus für die Musik zu allen Filmen Murers verantwortlich. Infolge der vorangegangenen Zusammenarbeit innerhalb mehrerer Filmprojekte basierte das aktuelle Projekt Vitus auf einer gegenseitigen vertrauten Arbeitshaltung. Während des mit Beretta geführten Telefoninterviews gibt dieser Auskunft darüber, dass sich die Planung und Abstimmung bezüglich der Filmmusikeinsätze vor allem darauf konzentrierte, wo genau Musik zu verwenden sei. Sie waren sich einig, dass bestimmte Szenen – wie beispielsweise Vitus‘ Umherlaufen im Garten des Großvaters mit den selbst angefertigten Holzflügeln – unbedingt eine filmmusikalische Begleitung erforderten. Die Frage, wie die Musik jeweils sein solle, wurde hingegen rein musikdramaturgisch besprochen. Für beide war klar, dass diese Musik „Vitus in seiner Virtuosität, in seiner jugendlichen, in keinem Moment stören“

darf. Sie sollte daher nicht die geringste „musikalische Dominanz“ vermitteln:

„Es musste eine ganz schlichte, stille Musik sein. Das habe ich natürlich vorgeschlagen, weil als Filmmusiker war mir das sofort klar. Das war auch deshalb eine der schwierigen Filmmusiken, die ich geschrieben habe, weil ich mich eigentlich um den Jungen rumschreiben musste.“

Um mit seiner Musik nicht in Konkurrenz zu der im Vordergrund stehenden Klaviermusik und dem Orchesterklang des Klavierkonzerts von Schumann zu kommen, aber dennoch eine Brücke zum Klavier herstellen zu können, verwendete Beretta selbst auch Klavier, allerdings in Form eines künstlichen Klangs. Er entschied sich ganz bewusst dafür und produzierte überhaupt alle Filmmusikstücke für Vitus „zum ersten Mal auch nur rein elektronisch“. Für die Komposition der jeweiligen Musikeinsätze war ihm generell wichtig, dass sie „wirklich wie auf einer anderen Ebene gemacht“ sind, aber gleichzeitig

„musikalische Bezüge zum Geschehen“ wie auch zu Vitus‘ Klaviermusik herstellen.

Aus diesem Verständnis heraus und in Anbetracht der Tatsache, dass der gesamte Film nicht nur thematisch, sondern auch in quantitativer Hinsicht deutlich durch die im Vordergrund stehende Klaviermusik geprägt ist, bleibt die Menge der für den Film komponierten Musik überschaubar. Auch für den Zuschauer wird deutlich, dass ausdrücklich diejenigen Szenen ausgewählt wurden, die einer zusätzlichen musikalischen Untermalung im herkömmlichen Sinne bedürfen. Die Hintergrundmusik wird dadurch nicht

zum ständigen akustischen Begleiter, erfüllt aber in vollkommen ausreichendem Maße ihre hauptsächliche Funktion der Vermittlung von Stimmungen oder Befindlichkeiten innerhalb eines konventionell gestalteten Unterhaltungsfilms.

Der erste für Vitus komponierte filmmusikalische Einsatz erscheint innerhalb der Sequenz 2, als Vitus sich an das Versprechen der Erwachsenen erinnert und endlich ein richtiges Klavier bekommen möchte. Helen verweist ihn in diesem Anliegen auf Leo, wozu ein ruhiger, ausgedehnter Streicherakkord erklingt, über dem ein dazu dissonanter einzelner Klavierton angeschlagen wird. Die Klänge werden vom Öffnen der Schiebetür übertönt und ein neuer Streicherakkord wird sofort aufgenommen, sobald Vitus den Raum betritt, in dem Leo sich befindet. Wieder wird er weiterverwiesen – diesmal an seine Patentante – und wieder erscheint zum Akkord ein Einzelton des Klaviers, der diesmal eine deutlich höhere Tonlage einnimmt.129 Leos Antwort nimmt Vitus hin und befasst sich im direkten Anschluss mit dem Prototypen einer Hörgerät-Entwicklung seines Vaters, welcher auf dem Schreibtisch liegt.

Damit klingt der kurze Musikeinsatz leiser werdend aus. In dieser Szene wird Vitus vertröstet und seine Frage betreffend im Unklaren gelassen. Dementsprechend wirkt auch die begleitende Musik: Sie bleibt schwebend, deutet lediglich an und wird noch nicht zu einem zusammenhängenden Thema entwickelt.

In Sequenz 5 ist Vitus‘ neues Kindermädchen Isabel zum ersten Mal in der Wohnung der Familie, während die Eltern abends weggehen. Nachdem Helen die Wohnung verlassen hat, beendet Vitus seine Übungen am Klavier und geht in sein Zimmer; Isabel ignoriert er vorerst. Mit Schließen der Zimmertür setzen wieder leise ausgedehnte Streicherakkorde ein. Diesmal bilden sie die Grundlage für ein sich darüber entfaltendes Klavierthema, das ruhig, klar und gleichermaßen melancholisch klingt. Es begleitet den übrigen Verlauf der Szene, in der Isabel interessiert zu Vitus ins Zimmer kommt, von ihm aber zuerst abgewiesen wird. Sie versucht, ein Gespräch aufzunehmen und so gelingt es ihr langsam, Vitus‘ Vertrauen zu gewinnen. Ebenso zögernd und zart, fast zerbrechlich, wirkt das Thema des Klaviers, das sehr langsam in hoher Tonlage über den recht tiefen Streicherklängen gespielt wird. Zuerst ist die Melodielinie einstimmig und Vitus alleine in seinem Zimmer.

Erst als Isabel sich Vitus trotz seiner abweisenden Entgegnungen nähert, wird die Melodie zweistimmig. Damit spiegelt es den zaghaften Beginn einer engen Freundschaft zwischen den Kindern musikalisch wider und klingt mit dem Ende der Szene aus.

129 Der zu Beginn einsetzende relativ tiefe Streicherakkord, basierend auf F-Dur, wird durch ein fis‘‘

des Klaviers ergänzt. Der zweite Akkord, ebenfalls in tieferer Lage, diesmal basierend auf D-Dur, bezieht sich nun auf das vorher angeklungene fis, darüber kommt nun als Klavier-Einzelton ein e‘‘‘

hinzu.

Abbildung 32: Thema in Sequenz 5 (eigene Transkription aus dem Film)

Nachdem Vitus auf Wunsch seiner Eltern den „Wilden Reiter“ vor den Gästen dargeboten hat, verkriecht er sich kurzerhand in einer Ecke des Wohnzimmers, um nicht weiter im Mittelpunkt stehen zu müssen (Sequenz 7/Subsequenz 2). Verängstigt belauscht er mithilfe des Hörgerät-Prototyps seines Vaters die Gespräche der Erwachsenen, die sich ausschließlich um ihn drehen. Was Vitus hier hört, wird entsprechend laut wiedergegeben.

In Kombination mit der Kameraführung, die vor allem Vitus‘ Perspektive zeigt, entsteht für den Zuschauer ein Eindruck der Subjektivität, als nähme er die Sicht des Kindes ein. Kurz nachdem Vitus das Hörgerät anlegt, wird das Geschehen zusätzlich mit leiser Musik unterlegt und somit kommt das Empfinden des Jungen verstärkt zum Ausdruck. In ähnlicher Weise wie bei den vorherigen Musikeinsätzen erklingen auch hier ein ausgedehntes Streicherfundament und eine darüber geführte Klavierstimme. Spätestens jetzt wird offensichtlich, dass die Verwendung einer Hintergrundmusik, welche in der jeweiligen Szene Vitus‘ momentane Empfindung vermittelt, wiederholt von eher tiefen Streichern verbunden mit einem Klaviermotiv in hoher Tonlage geprägt ist. Zwar handelt es sich bisher nie um genau die gleichen Klangfolgen – die eingesetzten Motive sind in jeder Szene anders gestaltet –, dennoch kann ihr Ausdrucksgehalt durch die gleiche Art der Instrumentierung in einen Zusammenhang gebracht werden. Innerhalb der Sequenz 7 wird ein eher düsteres Motiv eingeführt: Die einstimmige Melodielinie des Klaviers weist dissonante Tonbeziehungen auf und klingt in Bezug auf die Grundlage der Streicher bedrückend.

Wieder ist es ein langsam und ruhig vorgetragenes Motiv, das Vitus‘ Furcht nicht panisch wirken lässt, sondern der Situation eher eine gewisse Schwere verleiht. Die Musik wird leiser werdend in die folgende Subsequenz übergeleitet und klingt mit Blick auf die Eltern aus, die nun nach Ende der Feier im Bett liegen. Sie unterhalten sich noch immer darüber,