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4 Der Film Vitus und seine Entstehung

4.2 Entstehungsgeschichte und filmische Gestaltung

„‚Vitus‘ ist eine universelle Geschichte, eine Liebeserklärung an die Kindheit und an die Musik, leichtflüssig, humorvoll und poetisch erzählt. Mit seinem Thema eines mit vielen Talenten versehenen (kleinen) Menschen, der sich den gesellschaftlichen Konventionen widersetzt, und mit seinem kinematographischen Interesse an der Welt der Sinne ist es ein ‚Typischer Murer-Film‘, und mehr noch der Film, den der vielfach ausgezeichnete, heute 65jährige Regisseur ‚schon immer einmal machen wollte‘.“ (Lütz 2006, S. 7)

In der Tat hatte Fredi M. Murer bereits über zwanzig Jahre vor Veröffentlichung des Films erstmals die Idee, „eine realitätsnahe Menschwerdungsgeschichte mit utopischem Einschlag zu erzählen“ (Lütz 2006, S. 7). So entstand Vitus über eine außerordentlich lange Zeit hinweg in den Überlegungen des Regisseurs, bis der Film letztendlich in der vorliegenden Form umgesetzt werden konnte. Ab dem Jahr 1999 wurden verschiedene konkrete Drehbuchversionen erstellt, wobei Murer anmerkt, dass sich seitdem „an dieser fiktiven Kindheitsgeschichte so ziemlich alles x-Mal radikal verändert“ hat (ebd., S. 9). Diese drastischen Wendungen in der Entwicklung der filmischen Umsetzung sind allerdings auch eng mit der Finanzierungsproblematik des Projekts verknüpft. Ausgangspunkt ist dabei die generelle Tatsache, dass die Produktion eines Schweizer Films zugleich die eines Nischenprodukts ist. Murer nimmt dazu selbst in einem Interview Stellung:

„Als Filmemacher in der Schweiz 'anständig' zu überleben ist schon deshalb schwierig, weil die Schweiz für eine kommerzielle Auswertung eines Films ein extrem kleines Land ist, das dazu noch in vier Sprachregionen aufgeteilt ist. […] Das bedeutet, dass der einheimische Film ohne Subventionen oder öffentliche Filmförderung nicht überleben kann. […] Dennoch ist das einheimische Filmschaffen eine kulturell sehr wichtige Sache. Auf der Kinoleinwand vertraute Bilder zu sehen und sein eigenes Idiom zu hören, vermittelt den Bewohnern eines Landes einen Hauch von Identität und Identifikation.“ (Düblin 2008, o. S.)

Im Fall des Films Vitus kam bei der Frage der Geldbeschaffung zudem das Problem auf, dass Murer sich bei den Ansprechpartnern der Filmförderungsgremien nicht mehr auf bekannte Kontakte stützen konnte, sondern hier mittlerweile ein Generationenwechsel vollzogen und

er für die dort Verantwortlichen ein Unbekannter war (vgl. Baumann 2006a, o. S.). Um die ursprünglich vorgesehenen Produktionskosten über ca. sieben Millionen Franken zu decken, wäre es notwendig gewesen, diverse „Forderungen und Ansprüche der europäischen Co-Produzenten zu erfüllen“, was Murer wiederum aufgrund seiner Erfahrungen aus seinem vorherigen Filmprojekt nicht eingehen wollte (ebd.). Daraufhin ergab sich eine Finanzierung, die ausschließlich Schweizer Fördermittel beinhaltete, womit allerdings auch nur ein Budget von maximal 2,8 Millionen Franken erreicht werden konnte (vgl. ebd.). Murer war es wichtig, seine Idee nicht aus Finanzierungsgründen nach den Wünschen anderer zu verändern. Daher wurde aus dem ursprünglich ersonnenen Porträt

„über den Wechsel vom analogen zum digitalen Zeitalter“ in den Neunzigerjahren (ebd.) ein zwar ebenfalls völlig veränderter Film, jedoch konnte er sich hierbei seinen eigenen Überlegungen treu bleiben, wenngleich die Umsetzung mit ungleich geringeren Finanzmitteln erfolgen musste. Für ihn hat sich im Rückblick „die Abmagerungskur als Glücksfall erwiesen“ (ebd.), denn Vitus wurde – was bei dessen Entstehung noch nicht vorauszusehen war – einerseits in der Schweiz selbst zum Erfolg; das Publikum setzte sich dort „aus allen Alters- und Gesellschaftsschichten zusammen“ (Düblin 2008, o. S.).

Andererseits lief der Film ebenfalls im europäischen Ausland und sogar in amerikanischen, australischen und asiatischen Kinos (vgl. ebd.).

Murers Grundgedanke, der zum Film Vitus führte, war „ein Kind, das mit einer genetischen Konstellation zur Welt gekommen ist, durch die es sich bereits mit zwölf Jahren das Wissen eines gebildeten Erwachsenen aneignen konnte, aber emotional dennoch ein ganz normales Kind ist“ (Köhler 2006, o. S.). Ihn interessierte für seine filmische Erzählung insbesondere, „was mit so einem Jungen passiert“, der innerhalb ganz gewöhnlicher familiärer und gesellschaftlicher Strukturen aufwächst, inwiefern er sich entfalten kann oder eingeengt wird (ebd.). Demzufolge war damit zwar von Beginn an in gewisser Weise das Themenfeld der Hochbegabung verknüpft, jedoch soll der Film keineswegs „als Aufklärungsfilm über Hochintelligente verstanden“ werden (Genhart 2006, S. 10). Murer stellt in den Vordergrund, dass die Handlung eine fiktive ist und ihre Märchenhaftigkeit den Film charakterisiert. Wie genau diese Märchenhaftigkeit aufzufassen ist, erklärt der Regisseur folgendermaßen:

„Auch wenn der Film die utopisch anmutende Geschichte eines märchenhaft begabten Kindes erzählt, ist der Film für mich kein Märchen im unverbindlichen Sinne, sondern ein heiteres und realitätsnahes Zerr-Spiegelbild unserer Zeit. Oder wenn schon, dann ein hintergründiges, sehr verbindliches Märchen. Wer allerdings radikale Gesellschaftskritik sucht, wird wohl enttäuscht: Der Kommentar zur Zeit

findet eher zwischen als auf den Zeilen, und wenn, dann ironisierend denn attackierend statt.“ (Lütz 2006, S. 9)

Die behandelte Thematik in ihrer fantastischen Form ist besonders auch durch Murers eigene Kindheit inspiriert. Für ihn war dies „die geheimnisvollste, abenteuerlichste und authentischste Zeit“ seines Lebens (Herzog 2006b, S. 46). Denn er war wie Vitus „ein Traumwandler, irgendwo zwischen Wirklichkeit, Phantasie und Wunsch“, der sich selbst in vielerlei Hinsicht ausprobieren konnte: er überquerte in seiner Phantasie mit einem Floß den Ozean, der in Wirklichkeit der Urnersee war, oder baute da Vincis Flugmaschine nach, stürzte damit ab und erlitt einen Schädelbruch (Düblin 2008, o. S.). Somit band er im Film autobiographische Züge ein – „wenn auch zum Teil im spiegelverkehrten Sinne“ – und erfüllte sich in gewisser Weise mit der Umsetzung von Vitus die in der eigenen Kindheit unerfüllt gebliebenen Träume (ebd.). Auch bereits in seinen vorherigen Filmen (z. B.

Höhenfeuer oder Vollmond) verarbeitete Murer wiederholt das Thema der Menschwerdung und setzte Kinder und Jugendliche als Protagonisten ein, um eine kindliche Sichtweise in Abgrenzung zur Welt der Erwachsenen darzustellen. Immer wieder beschäftigte ihn die Frage, wie die Potenziale aus der Kindheit, in der einem noch alle Möglichkeiten offenstehen, ins Erwachsenenalter mit seinen Anpassungszwängen hinüber zu retten seien – und immer wieder waren auch seine eigenen Kindheitserlebnisse Grundlage dafür (vgl.

Dokumentation Die Vitusmacher zum Film auf DVD). Aus dieser Perspektive heraus sieht Murer mit seinem Film Vitus ein universelles Thema aufgegriffen, mit dem sich jeder Zuschauer identifizieren kann:

„Da die meisten Leute dazu neigen, ihre eigene Kindheit entweder zu verklären oder zu verdrängen, bietet mein Film eine Art Projektionsfläche an. Man kann sich in den Filmfiguren leicht wiedererkennen, entweder als verhindertes Genie oder als einsames oder missverstandenes Kind. Andere erkennen sich wieder in der liebenden und überforderten Mutter oder im kauzigen Grossvater.“ (Düblin 2008, o. S.)

Universalität kommt im Film zudem mit der thematisierten Beschaffenheit der heutigen genormten Leistungsgesellschaft zum Ausdruck, in der es unentwegt um das Befolgen von Konventionen geht. Aber so universell Murer seinen Film auch durch die Thematik der Menschwerdung verstanden wissen möchte und so gut generalisierbar Vitus durch seine märchenhafte Umsetzung sowie der Einbettung tatsächlich vorherrschender Gesellschaftsstrukturen sein mag, wird mit dem hochbegabten Protagonisten doch gleichzeitig wiederum ein sehr spezifisches Themenfeld im Film eingeführt. Dem Publikum

wird detailliert vor Augen geführt, wie die Lebenswelt eines Hochbegabten aussehen kann, die aller Wahrscheinlichkeit nach nicht das Umfeld des Zuschauers wiederspiegelt. Im Film

„werden die Spannungsfelder, mit denen sich Hochbegabte und ihr Umfeld konfrontiert sehen, auf eindrucksvolle Weise geschildert. Denn zwischen ‚Genie‘ und ‚Problemkind‘ liegt oft nur eine Gratwanderung“ (Demarmels 2012, o. S.). Dies wird insbesondere in der ersten Filmhälfte, bevor Vitus endgültig die Gestalt eines Märchens annimmt, realistisch und anschaulich dargestellt.

Eine große Schwierigkeit liegt wohl bei vielen hochbegabten Kindern darin, ihre Besonderheit überhaupt erst zu erkennen. Es ist davon auszugehen, dass nur zwei Prozent der Bevölkerung eine Hochbegabung vorweisen (vgl. hierzu z. B. Trautmann 2011, S. 153).

Demzufolge ist dies im Erziehungsalltag auch kein allgegenwärtiges Thema, das eine unmittelbare Auseinandersetzung von Eltern mit möglichen Erkennungsmerkmalen mit sich bringt. Dieser Sachverhalt wird auch im Film aufgegriffen. Die Eltern sind zwar darauf bedacht, zur Entwicklung ihres Kindes alle zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zu nutzen und ihm ein förderndes Umfeld zu ermöglichen; sie geben ihm Raum, seine vielseitigen Interessen zu verfolgen. Allerdings erkennen sie erst aufgrund der Hinweise der Erzieherin im Kindergarten, dass Vitus viel weiter ist als seine Altersgenossen. Und sein musikalisches Talent fördern sie zwar schon früh; seine außerordentliche Begabung wird ihnen jedoch erst im Gespräch mit Leos Arbeitskollegen vor Augen geführt.

Ein weiterer Grund für die Schwierigkeiten beim Erkennen einer Hochbegabung kann darin liegen, dass hochbegabte Kinder häufig als Minderleister gelten. Dann zeigt das Kind vor allem im Schulunterricht nicht seine wahre Leistung, sondern diese lässt mehr und mehr nach: „Chronische Unterforderung kann bei Hochbegabten zu Leistungsschwäche, Motivationslosigkeit oder Stören des Unterrichts führen.“ (Demarmels 2012, o. S.) Ausprägungen eines Minderleisters werden im Fall von Vitus nicht thematisiert. Er bringt jedoch deutlich zum Ausdruck, wie sehr die mit seiner Hochbegabung verbundene kontinuierliche Unterforderung Erscheinungen des Gelangweilt-Seins und provokativen Verhaltens nach sich zieht. Offensichtlich wird dies vor allem dann, wenn Vitus mit erheblich älteren Schülern in einer Klasse sitzt. Er wird einerseits von seinen Schulkameraden verspottet, nicht ernst genommen und ist der Außenseiter; andererseits zeigt er ihnen wie auch dem Lehrer bei jeder Gelegenheit seine klare Überlegenheit. Seine Provokationen gipfeln darin, dass ihn an seiner Schule keiner der Lehrer mehr unterrichten möchte und den Eltern nahegelegt wird, dass dieser Zustand unhaltbar sei und sie sich um eine andere Lösung kümmern sollten.

Wie in Abschnitt 4.1 bereits angedeutet, fußt auch die Darstellung von Vitus‘

Hochbegabung in unterschiedlichen Bereichen – obwohl zur Inszenierung des Märchens deutlich überspitzt – auf der Wirklichkeit vieler Hochbegabter. In der Literatur zum Thema Hochbegabung oder auch in Ratgebern für Lehrer und Eltern stößt man immer wieder auf Checklisten, die mögliche Merkmale und Fähigkeiten von hochbegabten Kindern zusammenfassen.80 Ein Merkmal für sich genommen macht allerdings keineswegs einen Hochbegabten aus, denn ein außerordentlich begabtes Kind wird auch in mehreren Merkmalen überdurchschnittlich gut sein. So muss ein hochbegabter Musiker „auch über überragende psychomotorische Fähigkeiten und Sensibilität verfügen“ (Heinbokel 2001, S. 23). Jeder Hochbegabte wird allerdings eine Kombination verschiedener Merkmale in ganz individueller Ausprägung vorweisen können. Bei Vitus kommen eine Menge an typischen und häufig auftretenden Merkmalen zusammen: Er lernt früh zu lesen – dies hat er sich offenbar auch weitgehend selbstständig beigebracht – und spielt bereits im Kindergarten Schach. Er interessiert sich für diverse Themen, insbesondere für die Fledermaus, und hat dazu auch bereits im Kindergartenalter ein differenziertes Verständnis auf hohem Niveau. Zudem scheint er schnell Interesse am Weltgeschehen zu haben und liest die Tageszeitung. Da er auf intellektueller Ebene seinem Alter mehrere Jahre voraus ist, interessiert er sich nicht für Gleichaltrige (vgl. hierzu auch Heinbokel 2001, S. 42f.). In musikalischer Hinsicht beginnt Vitus ohne Vorwissen mit mehrstimmigem Spiel auf einem Keyboard. Sobald er Klavierunterricht erhält, entwickelt er dieses Talent in hohem Tempo weiter – in der Zeit nach seinem „Unfall“ auch völlig eigenständig. Später im Film nutzt er außerdem seine mathematischen Fähigkeiten zur Spekulation an der Börse. Hier weiß er beim Auftauchen eines Problems sofort, wo er ansetzen muss und welches Wissen er sich dazu aneignen sollte, um eine zügige und umfassende Lösung zu erhalten. Zur Förderung seiner mehrfach ausgeprägten Hochbegabung werden eine Reihe von Maßnahmen umgesetzt: natürlich steht hier die musikalische Förderung im Vordergrund und er geht bereits als Sechsjähriger zum Unterricht ans Konservatorium. Aber auch seine Schulbildung durchläuft er überaus schnell, überspringt mehrere Klassen und soll bereits mit zwölf Jahren seinen Schulabschluss machen.

Mit Vitus wird hier ein Hochbegabter mitsamt seinen alltäglichen Herausforderungen also durchaus authentisch dargestellt. In Verbindung mit der für Murer ebenfalls im Vordergrund stehenden Märchenhaftigkeit erscheint die behandelte Thematik allerdings nicht im Licht eines Dramas, wie in zahlreichen anderen Filmen, die sich mit Hochbegabung

80 Siehe dazu z. B. Kap. 4 bei Heinbokel 2001. Eher kritisch befasst sich Trautmann mit der Aufstellung derartiger Checklisten (2011, Kap. 11).

auseinandersetzen. Davon entfernt sich Vitus in seinem Verlauf, indem die bereits erwähnte Ebene des Träumerischen und Leichten einbezogen wird. Murer schafft dadurch einen Film, der sich zuerst durch seine fantastischen Züge offenbart, gleichzeitig aber immer auch Authentizität vermittelt und dadurch dennoch Glaubwürdigkeit ausstrahlt. Dies wird wie oben erläutert mit der wirklichkeitsgetreuen Darstellung der Hochbegabung deutlich, aber genauso durch die eingesetzten Darsteller, insbesondere durch Teo Gheorghiu, der den zwölfjährigen Vitus spielt und zum Zeitpunkt des Filmdrehs bereits selbst ein talentierter Jungpianist ist.

Die Rolle des Vitus wollte Murer unbedingt glaubhaft verkörpert wissen, denn ihm war bewusst, dass eine erfolgreiche filmische Umsetzung nur mit geeigneter Besetzung möglich sein würde; und darüber hinaus ist seine generelle Überzeugung, „dass Spielfilme immer auch ein wenig Dokumentarfilme über die Darsteller“ sind (Lütz 2006, S. 11). Daher suchte er nach einem Kind, das „überdurchschnittlich Klavier spielt und gleichzeitig schauspielerisch begabt ist“ (Düblin 2008, o. S.). Nachdem die Casting-Büros dies nicht für möglich hielten, fand der Regisseur selbst einen passenden Hauptdarsteller an der Purcell School in London, einer Schule für musikalisch hochbegabte Kinder. Teo Gheorghius Profil erwies sich als ideal zur Besetzung des Vitus, denn der Junge mit rumänischen Wurzeln ist vor seinem Wechsel an die englische Schule in der Schweiz aufgewachsen und spricht dementsprechend Schweizerdeutsch, sein Alter passte zu Murers Vorstellungen für den Film, zudem wies der bei der Suche noch Elfjährige auch schauspielerisches Talent auf. (Vgl.

z. B. Düblin 2008, o. S. oder Lütz 2006, S. 11) Gheorghiu hatte als Fünfjähriger mit dem Klavierspiel begonnen und bereits vor seiner Rolle als Vitus verschiedene Meisterkurse besucht, zahlreiche Konzerte gegeben und Preise gewonnen. Dennoch unterscheidet er sich deutlich von der Figur im Film. Er selbst beschreibt den Umgang mit seinem Talent innerhalb der Familie folgendermaßen:

„Ich hatte tolle Eltern. Sie zwangen mich zu nichts, ermöglichten mir aber alles. […]

Meine Mutter sagte mir, dass ich sehr gut sei – aber welche Mutter macht das nicht? Mit 9 fand man heraus, dass ich das absolute Musikgehör habe. Ich bekam ein Stipendium, auf das ich mich selbstständig vorbereitete.“ (Dorer 2012, S. 13)

Natürlich sollte der Darsteller des sechsjährigen Vitus dem ausgewählten Zwölfjährigen ähnlich sehen, aber auch für diese Rolle hatte Murer bei der Auswahl den Anspruch, einen überaus begabten Jungen einzusetzen, denn um die Kinder „mit Hilfe eines Schauspielpädagogen auf ein professionelles Niveau zu bringen“, waren lediglich drei Wochen Zeit zur Verfügung (Herzog 2006b, S. 47). Der Regisseur fand dafür Fabrizio

Borsani. Dieser spielt zwar nicht alle Klaviereinsätze im Film selbst, vermittelt aber durch sein Schauspiel ebenfalls überzeugende Authentizität (vgl. hierzu auch Dokumentation Die Vitusmacher zum Film auf DVD).

Murer war es neben der Besetzung der Kinder für die Figur des Vitus ebenso wichtig, den Film auch mithilfe der übrigen Darsteller möglichst glaubwürdig erscheinen zu lassen. Für die Rolle des Großvaters hatte er bereits Jahre vor der Realisierung des Films Bruno Ganz vorgesehen, welcher sich sofort mit der Figur identifizieren konnte und Interesse am Projekt zeigte. Hierbei war es Ganz ein Anliegen, viel über Murers Bild des Großvaters zu wissen. Murer wiederum wollte Ganz größtmöglichen Spielraum lassen, damit dieser sich in seiner Rolle wohlfühlen und entsprechend authentisch erscheinen konnte. (Vgl.

Dokumentation Die Vitusmacher zum Film auf DVD) Allerdings hatte Murer für die Großvater-Figur klare Vorbilder:

„Der versponnene, leicht verschrobene Robert Walser; und mein Vater, der nicht nur ein erfinderischer Schreiner war, sondern auch ein Gebrauchsphilosoph, der immer in Bildern sprach. Von ihm weiß ich, dass man manchmal einen Baum fällen muss, um die Früchte zu retten. Und dass man in auswegloser Not einen Hut über den Bach werfen muss.“ (Lütz 2006, S. 12)

Die Rollen der Mutter und des Vaters besetzte Murer mit Julika Jenkins und Urs Jucker, die er beide als etablierte Theaterschauspieler kannte und die zuvor keine bzw. wenig Erfahrung mit Film hatten. Auch in diesem Aspekt sieht er die Authentizität erfüllt, die er sich für den Film wünschte (vgl. Dokumentation Die Vitusmacher zum Film auf DVD). Zudem ist Murer ein Bewusstsein für die Sprache der Filmfiguren enorm wichtig, denn er ist der Überzeugung, dass „die Glaubwürdigkeit eines Films […] entscheidend mit dem Ton zu tun [hat], der in der Sprache der Schauspieler mitschwingt“ (Düblin 2008, o. S.). Insbesondere in der Schweiz mit ihren regional stark voneinander abweichenden Dialektfärbungen kommt dies deutlich zum Ausdruck. Bedeutsam wird dieser Gesichtspunkt auch bei Vitus. Hier imitiert Vitus‘ Vater beispielsweise die Aussprache seines Chefs, als ihm nicht wie erwartet dessen Position in der Firma zugesprochen wird. Nach Vitus‘ „Unfall“ trifft seine Mutter im Krankenhaus auf eine Neurologin, die Deutsche ist, „was häufig der Realität entspricht“

(ebd.). Vor allem aber suchte Murer für die Rolle der Mutter eine englischsprachige Schauspielerin, die ebenfalls Deutsch spricht, denn bereits die Urfassung des Drehbuchs sah Vitus‘ Mutter als Engländerin vor (vgl. Dokumentation Die Vitusmacher zum Film auf DVD).

Auch aus diesem Grund fiel seine Wahl auf Jenkins, die seine Vorstellung der Mutter somit

ideal verkörpern konnte: „Wenn sie emotional wird, spricht sie Englisch“ (Düblin 2008, o. S.).

Der Film Vitus verbindet folglich über verschiedene Aspekte hinweg seine authentische und glaubwürdige Erscheinung mit derjenigen der Märchenhaftigkeit und einer traumhaften Ebene, die immer wieder auch Spielräume zur Interpretation lässt, wenn die Bedeutungen von Szenen wie Vitus‘ Sturz vom Balkon oder der Flug des Großvaters kurz vor seinem Tod allein aus der direkten filmischen Aussage heraus noch eher undeutlich bleiben. Diese für den Zuschauer zwar im Nachhinein gut deutbaren, aber im Filmmoment nicht gleich erkennbaren und doch eher umfassender begreifbaren Zusammenhänge tragen ebenso wie die zahlreich verwendeten Symbole und Metaphern zum Charakter des Fantastischen bei.

Hier sind insbesondere der Traum vom Fliegen, der im Film in vielerlei Gestalt thematisiert wird, und die Symbolik auf musikalischer Ebene81 zu nennen. Aber auch andere Sinnbilder wie der vom Großvater über den Bach geworfene Hut geben der Aussage des Films und dem folgenden Verlauf der Geschichte weitere Bedeutung. Auch Vitus‘ Börsengeschäfte und die Tatsache, dass er als Kind mit dem Flugzeug schließlich wirklich abhebt, sind nüchtern betrachtet kriminelle Handlungen, aber im Filmkontext auf ganz anderer Ebene zu verstehen und lassen die Geschichte daher ein filmisches Märchen werden. Vitus‘ Sturz vom Balkon markiert diesbezüglich für den Filmverlauf einen Wendepunkt, der seinen Ursprung bereits in der Szene am Bach findet, wenn der Großvater Vitus den Hinweis gibt, die Umsetzung seines Herzenswunsches selbst in die Hand zu nehmen. Diese zweite Filmhälfte kann wiederum in zwei Teile getrennt werden, da für den Zuschauer vorerst nicht offensichtlich wird, dass Vitus seine Normalität nur vorspielt. Erst wenn sich Vitus dem Großvater am Klavier offenbart, ist es auch dem Zuschauer möglich, dessen Sturz zu deuten und zu verstehen, dass der gesamte Verlauf Teil seines Plans war. Innerhalb dieses Abschnitts nimmt der Zuschauer bezüglich seines Wissensstandes sozusagen auch die Perspektive des Großvaters ein. Dass mit dem vermeintlichen Sturz auch die Ikarus-Thematik – eine weitere Metapher innerhalb der filmischen Handlung – aufgegriffen wird, zeigt im Nachhinein noch klarer auf, wie Vitus es meistern konnte, seinen Weg eigenständig zu finden. Auch wenn Vitus an manchen Stellen des Films übermütig erscheint und es zunächst danach aussieht, als würde er wie Ikarus abstürzen und damit seine Genialität verlieren, ist das Gegenteil der Fall. Erst durch die Vortäuschung eines solchen Sturzes schafft er es, sich aus den Zwängen seines Umfelds zu lösen und sich den notwendigen Freiraum zu nehmen, um daraufhin sich selbst in seiner Besonderheit sowie innerhalb der vorgegebenen Strukturen zu finden und zu akzeptieren.

81 Siehe dazu Kap. 5.

Darüber hinaus ist der gesamte Film durch verschiedene Zeitebenen geprägt, die einerseits viele der angesprochenen Zusammenhänge über den Verlauf der Geschichte hinweg verdeutlichen, aber gleichzeitig teilweise nur innerhalb des Gesamtkontexts nachvollziehbar sind, eben weil sie nicht in chronologischer Folge erscheinen. Andererseits kann durch die Darstellung Vitus‘ in verschiedenen Altersstufen natürlich auch seine Entwicklung überaus plastisch vermittelt werden. Am auffälligsten erscheint zu Beginn die Vorwegnahme der Flugszene, die sich erst rückwirkend vom Schluss her vollständig erklären lässt. Zudem gibt es zeitliche Rückgriffe in Form von innerhalb der Handlung abgespielten Videoausschnitten, wenn Vitus als Baby gezeigt wird oder bei seinem fünften Geburtstag.

Auch Vitus‘ und Isabels Rockinszenierung im Wohnzimmer der Familie wird vom Vater heimlich gefilmt und findet später wieder Verwendung, wenn der zwölfjährige Vitus sich mithilfe dieser Aufnahme gegenüber der erwachsenen Isabel zu erkennen gibt. Außerdem ist über alle Zeitebenen hinweg wiederholt die Rede von einem Horoskop, das Vitus‘

Patentante für ihn zu seiner Geburt erstellt hatte und zusätzlich Vitus‘ Lage als Hochbegabten erklärt: Im Verständnis seiner Familie ist ihm sein Talent in die Wiege gelegt.

Wenn Vitus seinem Umfeld Normalität vorspielt und das Horoskop vor den Augen seiner Patentante zerreißt, tritt dadurch nur noch deutlicher sein Gefühl hervor, für seine Familie als Wunderkind herhalten zu müssen, über das ständig verfügt wird. Mit dem Zerreißen hebt er diese Manifestierung auf. Für den Zuschauer verständlich ist diese Szene jedoch nur aufgrund der zuvor in die Handlung integrierten Videoausschnitte der Geburtstage.

Auch wenn Vitus somit vielschichtigen Bedeutungsgehalt sowie hintergründige Gesellschaftskritik vermittelt, ist es doch vor allem ein Unterhaltungsfilm. Einerseits gibt dieser vielleicht nicht unbedingt nachhaltig zu denken und wirkt an manchen Stellen gar überzeichnet; andererseits hebt er auch nicht einfach nur das Wunderkind hervor, sondern stellt in den Mittelpunkt, mit welchen Herausforderungen eine Hochbegabung verbunden ist, und setzt sich kreativ mit der Problematik auseinander: „Es gibt nicht viele Regisseure, die sich dem Thema Hochbegabung aus der Sicht des talentierten Kindes nähern und das mit so viel Humor und Verständnis unternehmen, wie es Fredi M. Murer in ‚Vitus‘ gelingt.“

(Hoffmann 2006a, S. 20) Für Murer selbst ist sein Film in erster Linie eine Liebeserklärung an die Kindheit und ebenso „an die inspirierende und versöhnliche Kraft der Musik“ (Lütz 2006, S. 9). Die zahlreichen Rezensionen zu Vitus spiegeln eine ausgedehnte Bandbreite an Bewertungen wider. Gelobt wird durchweg vor allem die Leistung der Kinderschauspieler und die authentische Darstellung des Großvaters durch Bruno Ganz (vgl. hierzu z. B. Hippen 2006, o. S.). Allerdings kritisiert z. B. Arentz (o. J., o. S.), dass Vitus in der Konzertszene jünger aussieht als in den Szenen zuvor und dieser Aspekt dazu beträgt, den Film halbgar

wirken zu lassen. Herzog hingegen sieht anerkennend die Menschwerdungsgeschichte in vielerlei Metaphern „dank des durchdachten, schlüssigen Drehbuchs, geschliffener Dialekt-Dialoge und wunderbarer Schauspielerleistungen“ gelungen umgesetzt (2006a, S. 40).

Dennoch werde insgesamt damit zu dick aufgetragen bzw. seien die Metaphern „in ihrer Geballtheit“ doch etwas übertrieben (ebd.). Auch Rebhan merkt der Dramaturgie und den Dialogen ein „gut gereift[es]“ Drehbuch an, bewertet den Film aber wiederum als „nicht ganz klischeefrei“ (o. J., o. S.). Die Märchenhaftigkeit des Films verbindet Arentz (o. J., o. S.) darüber hinaus mit einem plötzlichen Abdriften ins Absurde, nachdem Vitus zu Beginn eine durchaus glaubhafte Geschichte erzählt. Insgesamt spiegeln die Rezensenten mit ihrem ambivalenten Aussagen das wieder, was der Film tatsächlich vermittelt: während er in verschiedenen Aspekten herausragende Qualität aufweist und als „genialer Unterhaltungsfilm mit Tiefgang“ (Stalder o. J., o. S.) wirkt, zeigt er an anderen Stellen auch deutlich Schwächen auf und wird in seiner Märchenhaftigkeit abschnittsweise klischeehaft.

Und mit einer derartigen Zwiespältigkeit gestaltet sich auch in der filmischen Erzählung selbst die Situation für die Hauptfigur:

„Der ‚harmonische Schlussakkord‘ des Films beantwortet die im ersten Teil des Films ernsthaft gestellten Fragen […] nur bedingt. Dabei spielt das Motiv der Freiheit von Anfang an die zentrale Rolle. Im Traum vom Fliegen, den Vitus vom Großvater übernimmt, findet es seine Verkörperung. Bumerang, Hut, Fledermausflügel, Luftpost, Flugsimulator, Sportflugzeug – das sind die Stationen, die Vitus am Ende

‚eigene Flügel verleihen‘. Doch diese Freiheit ist in Wahrheit eingebunden in ein Realitätsgeflecht, das im Film auch deutlich angesprochen wird.“ (Marklein 2007, S. 3)