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3 Musik, Geräusch und Stille im Film Der Pianist

3.1 Die Musik im Film

3.1.1 Diegetische Musik

3.1.1.2 Frédéric Chopin: Ballade Nr. 1 in g-Moll, op. 23

Bombardierung des Gebäudes zum Zeitpunkt, als Szpilman sich noch darin befand, zu filmdramaturgischen Zwecken eingearbeitet: als „plötzlichen gewaltsamen ‚Einbruch‘ des Krieges“ (Jacke 2010, S. 226). Welches Stück er nach dem Krieg erstmals im Rundfunk spielte, erwähnt Szpilman selbst ebenfalls nicht, jedoch führt er die Nocturne in einem anderen Zusammenhang an: Sie war das Stück, welches er dem deutschen Offizier vortrug (vgl. Szpilman 2005, S. 173).

Bevor die Ballade in der Szene der Begegnung Szpilmans mit dem Offizier gespielt wird, erscheint bereits ein Fragment davon (Takte 29-38 der Originalballade), als Szpilman sich im verlassenen Krankenhaus versteckt hält. Hier erklingt die Musik als imaginäres Klavierspiel des Protagonisten: Sie beginnt zuerst sehr leise und wie aus der Ferne in Sequenz 43, wobei Szpilman selbst noch nicht zu sehen ist, sondern die Räume und Flure des Krankenhauses gezeigt werden. Hier verhalten sich Bild und Musik, als wären sie unterwegs zum Raum, in dem sich Szpilman aufhält; das Bild nähert sich dem Raum, während die Musik lauter wird.

Auf diese Weise wird sie in die folgende Sequenz 44 weitergeführt, in der Szpilman zu sehen ist, wie er in Gedanken Klavier spielt, ohne jedoch an einem Instrument zu sitzen.

Man sieht lediglich seine Fingerbewegungen in der Luft. Der Klang der Musik hat also keine Quelle im Bild, sondern lediglich in Szpilmans Gedankenwelt. Es wirkt – insbesondere im Kontrast zu den vorherigen Szenen –, als wäre er ganz in seiner gedanklichen Musik versunken und würde die Gegenwart ausblenden. Das Bild zeigt im Anschluss eine leere Straße mit umherwehenden Blättern und eine weitere Einstellung, in der Szpilman in einem Bett ohne Matratze liegt. Mit diesen Einstellungswechseln klingt die Musik aus, bzw.

scheint sich in ihrem Hall zu verlieren. Der Zuschauer bekommt dadurch den Eindruck, sie werde in Szpilmans Kopf noch weitergeführt. Mit dieser Szene wird einerseits das deutlich, was Szpilman selbst auch in seinem Buch direkter beschreibt: Auch ohne Instrument beschäftigt er sich in der Zeit des Sich-Versteckens mit seiner Musik, wenn auch nur gedanklich (vgl. Szpilman 2005, S. 163). Andererseits greift das Erscheinen der Ballade an dieser Stelle schon auf die Begegnung Szpilmans mit dem Offizier vor. Szpilman weiß nichts davon, dass er gerettet werden wird, aber bereits hier in seiner äußerlich eher aussichtslosen Situation wird durch den musikalischen Vorgriff auf das spätere Vorspiel in Form dieses Fragments angedeutet, dass die Musik ihm die Kraft zum Überleben gibt.

Auch in Sequenz 46, als Szpilman von dem deutschen Offizier Hosenfeld entdeckt wird und diesem die Ballade vorspielt, handelt es sich nicht um das vollständige Musikstück, sondern um eine gekürzte Version. Allerdings wird die Musik hier nicht im Verlauf ausgeblendet, sondern als Szpilman aufgefordert wird zu spielen, beginnt er mit dem Stück und schließt es so ab, wie auch die Ballade im Original anfängt und endet. Für den Film wird sie jedoch aus einzelnen Teilen zusammengesetzt, wobei der gesamte Mittelteil des Originals fehlt.63 Somit wird die Musik im Filmzusammenhang dennoch als ein in sich abgeschlossenes Stück

63 Die gekürzte Version der Ballade in g-Moll wird im Film folgendermaßen zusammengesetzt: Nach dem Beginn des Originals erfolgt in Takt 40 ein Sprung zu Takt 44 und ein weiterer in Takt 47, worauf die Musik ab Takt 208 (Presto con fuoco) bis zum Schluss des Originals weitergeführt wird. Demnach ist ein großer Teil der Ballade, der von feierlichem und lyrischem Charakter gezeichnet ist und der einen umfassenden Wandel beinhaltet, im Film nicht zu hören (vgl. hierzu Kramer 2007, S. 80).

präsentiert. Der Charakter der Musik verändert sich in ihrem Verlauf stark: Der Beginn ist noch zögernd, unsicher und eher eine Folge von Noten, so als würde man ein Instrument testen (vgl. Chion 2007, S. 91). Er ist außerdem geprägt von Unterbrechungen und Stille (vgl. ebd., S. 93). Damit erinnert er eher an ein Fragment, das sich im Verlauf zu einem fließenden Stück entwickelt (vgl. hierzu auch Chion 2007, S. 92). Aus der anfänglichen Unsicherheit und Melancholie kann man mehr und mehr die Entwicklung hin zu einem lebendigen, stürmischen und entrüsteten Ausdruck erkennen. Die Kraft, die vor allem in den schließenden Oktavläufen frei wird, wirkt geradezu gewaltsam. Dieser charakterliche Verlauf der Ballade im Film spiegelt das innere Wesen und die Veränderung Szpilmans wider, die er beim Vortrag des Stücks durchmacht. Sein anfänglicher Kummer, seine Zurückhaltung und auch seine Angst werden aufgelöst in Charaktereigenschaften wie Wut, Empörung, Trotz, aber auch Verzweiflung.

Die Aufforderung Hosenfelds, etwas zu spielen, ist für den Juden Szpilman ein Befehl, wobei er nicht weiß, ob dies seine letzte Darbietung am Klavier sein wird – erst danach wird die Menschlichkeit des Offiziers und sein Wohlwollen gegenüber Szpilman offensichtlich.

Vorher verband er mit deutschen Soldaten nur Begriffe wie Demütigung oder Zerstörung und er muss davon ausgehen, dass er nach seinem Vorspiel getötet wird. Dementsprechend spielt er um sein Leben und durchlebt die Gefühle, die durch das Wesen der dargebotenen Musik dem Zuschauer überhaupt erst zugänglich gemacht werden können. Im Verlauf des Spiels versinkt er in seiner Gefühlswelt und der dazugehörigen Musik; anfangs noch ängstlich und unwissend, was mit ihm geschehen wird, zeigt er mit dem technisch komplizierten Stück einerseits, was er kann, andererseits trotzt er damit seiner Lage, als Jude verfolgt und nun von einem Deutschen entdeckt worden zu sein. Außerdem spiegelt sich in dieser Szene all das wieder, was er zuvor erleben musste; der traumatisierte Pianist findet in der Musik eine Ausdrucksmöglichkeit seiner inneren Verfassung und dementsprechend fungiert sie für ihn als Bewältigungsmechanismus (vgl. hierzu Stein 2004, S. 756). In gewisser Weise ersetzt die Musik hier eine Schilderung in Worten, wobei Szpilmans gegenwärtige Verfassung und all das, was er erleiden musste, in diesem Moment in Worten auszudrücken gar nicht möglich wäre. Im Hinblick auf eine sogenannte

„Stummheit“, die mit der zu hörenden Musik an dieser Stelle des Films einhergeht, erläutert Chion sehr ausführlich einen überaus interessanten Aspekt (vgl. 2007, S. 89ff.): Ein Zuhörer im 21. Jahrhundert nimmt womöglich Instrumentalmusik aus der Zeit Chopins nicht mehr so wahr, wie sie vom Komponisten beabsichtigt war und seinerzeit wahrgenommen wurde. Heute wird diese Musik schnell als reine oder absolute Musik verstanden. Chopin und andere Komponisten seiner Epoche schufen ihre Klavierwerke jedoch in dem

Verständnis einer Musik, die unausgesprochene Worte andeutet. Insbesondere auf Chopins Balladen bezogen merkt Chion an: „[…] we can still hear in them something like a declamation without words – mute music. Romantic music for piano […] is, in fact, often similar to the voice of someone humming a poem or a melody with mouth closed: a melody with unheard words.” (Ebd., S. 89f.) Zudem merkt Chion an, dass Szpilman die Ballade in der Tat nach Hosenfelds Aufforderung zu spielen vorträgt, ohne ein Wort darüber zu verlieren, was er genau darbieten wird. Und auch nach dem Vorspiel wird nicht ausgesprochen, um welche Musik es hier geht. Chion beschreibt den Beginn der Musik, die weder von Szpilman noch von Hosenfeld in Worten thematisiert wird, sehr detailliert und stellt fest:

„It is no accident that Polanski chose that particular piece from among all the ones Szpilman could have played. The G-minor Ballade does not begin with a strong affirmation that it’s music; it begins tentatively, as if feeling its way, like a poem that begins with disconnected words.“ (Ebd., S. 91f.)

Darüber hinaus ist es nicht nur der Ausdruck seiner Gefühlswelt, sondern die umfassende Erneuerung von einer hungernden, völlig verwahrlosten Gestalt hin zum wieder erlangten Menschsein; das Leben in ihm kehrt allmählich zurück. Nachdem er das Stück beendet hat, zieht er allerdings seine Hände von der Klaviatur weg, als wäre er erschrocken darüber, was er mit diesem Vorspiel angerichtet hat (vgl. Kramer 2007, S. 71).

Die Veränderung Szpilmans, die in der Musik ihren Ausdruck findet, hat auch eine bildliche Entsprechung. Nicht nur nach Beendigung des Vorspiels zeigen seine Hände seine Gemütslage an, sondern während des ganzen Vortrags. Anfangs ungelenkig und klauenähnlich, befreit Szpilman seine Hände aus ihrem Zustand und attackiert damit zunehmend die Tasten mit wachsendem Vertrauen, aber auch zunehmender Gewalt (vgl.

Kramer 2007, S. 77f.).

Im Verlauf des Stücks werden die Hände immer wieder eingeblendet, abwechselnd mit dem Blick auf den Offizier. Dieser lässt Szpilman musizieren, obwohl er die verbotene Musik Chopins vor einem Deutschen spielt – im Bild findet dieser Zwiespalt seine Entsprechung, wenn Uniformmantel und Hut des Offiziers, auf dem Klavier liegend, eingeblendet werden.

Der Offizier prüft einerseits, ob es stimmt, was Szpilman über sich erzählt, andererseits genießt er die erklingende Musik. Hosenfeld als einziger guter Deutscher im Film erkennt Szpilman als Mensch und rettet ihn (vgl. hierzu Kramer 2007, S. 68). Er verkörpert somit den Überrest eines ehemals gutgearteten Landes, das Kunst von Menschen wie Goethe und

Beethoven hervorbrachte und das durch die Nationalsozialisten verwüstet wurde (vgl.

hierzu Kramer 2007, S. 68f.).

Vor allem Szpilmans Zustand zu Beginn des musikalischen Vortrags macht jedoch deutlich, wie unmöglich es tatsächlich ist, in dieser Lage ein so virtuoses Stück wie die Ballade zu spielen. Dies drückt Szpilman in seinen Memoiren selbst aus, wenn er über die Situation der Begegnung schreibt:

„Als ich meine Finger auf die Klaviatur legte, zitterten sie. Diesmal hatte ich also zur Abwechslung mein Leben mit Klavierspiel zu erkaufen. Ich hatte zweieinhalb Jahre nicht geübt, meine Finger waren steif, mit einer dicken Schmutzschicht bedeckt, die Fingernägel ungeschnitten seit dem Brand des Hauses, in dem ich mich versteckt hielt. Dazu stand das Klavier in einem Zimmer ohne Fensterscheiben, so daß der Mechanismus vor Feuchtigkeit aufgequollen war und auf den Tastendruck widerspenstig reagierte.“ (2005, S. 173)

Dass Polański sich hier nicht an historische Tatsachen hält und anstatt der tatsächlich von Szpilman vorgetragenen Nocturne im Film die Ballade verwendet, ist sinnbildlich zu verstehen: Die im Vergleich relativ leicht zu spielende Nocturne ist ein melancholischer Appell, die Ballade dagegen trotzige Bekräftigung (vgl. Kramer 2007, S. 79). Auch durch die unzweifelhafte Unmöglichkeit entfaltet die Szene ihre gewaltige Wirkung (vgl. hierzu auch Kramer 2007, S. 79). Außerdem wird für die Zeit des Vorspiels in einer Weise sogar das Machtverhältnis zwischen Szpilman und dem Offizier ausgeglichen (vgl. Beckerman 2003, o. S.), wie es mit dem Charakter der Nocturne nie so zum Ausdruck kommen könnte.

Gleichzeitig sind, wie Kramer feststellt, jedoch Musik und Anlass von Zwiespältigkeit gekennzeichnet. Die Ballade ist kein kurzer Auszug, aber auch nicht vollständig; es ist eine gekürzte Version: „a whole that is not whole“ (2007, S. 74). Und auch Beckerman merkt zur Kürzung der Ballade an:

„Although a range of cinematic techniques are available to suggest a lapse of time, none were used here. The entire middle section of the ballade, featuring a sotto voce theme of innocence morphing into a song of triumph, one of the most glorious moments in all of piano literature, disappears into the black hole of moviemaking.”

(2003, o. S.)

Er geht jedoch davon aus, dass das eingesetzte Klavierstück dennoch nur aus Zeitgründen gekürzt ist. Kramer hingegen bemerkt, dass man hier zwar ein kürzeres Stück hätte einsetzen können, das ganz durchgespielt worden wäre, wodurch aber nicht die hier entstehende Unvollkommenheit zur Geltung käme: „In a broken world there is nothing but

broken music“ (2007, S. 74). Kramer fügt hinzu, dass daher nicht nur das wichtig ist, was man von der Musik an der Stelle hört, sondern ebenso das, was man nicht hört (vgl. ebd., S. 80). Ein Hörer, der die Ballade im Original kennt, wird somit durch diese Unvollständigkeit einen tiefen Schnitt erleben. Aber auch jemand, der die Musik nicht kennt, wird die Wirkung der Zerrissenheit spüren: den Ausdruck des Überlebens um jeden Preis, der durch die Musik zur Geltung kommt, und die sprunghafte Bewegung vom Kummer hin zur Wut (vgl. ebd., S. 82). Auch durch die Unvollständigkeit dieser Musik wird der Verlust, den Szpilman ertragen muss, für den Zuschauer erst in diesem Maße greifbar.