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3 Musik, Geräusch und Stille im Film Der Pianist

3.1 Die Musik im Film

3.1.1 Diegetische Musik

3.1.1.1 Frédéric Chopin: Nocturne cis-Moll, Posthum

Wie auch zu Zeiten Szpilmans war Polen bereits in den Jahren vor Frédéric Chopins (1810-1849) Geburt von großen politische Umwälzungen und Unsicherheit geprägt. Ab dem Jahr 1772 gab es mehrere Teilungen des Landes, wobei die dritte Teilung 1795 mit einer Auslöschung des Staates Polen in Verbindung stand. Die Nachbarstaaten übernahmen die Fremdherrschaft über das Land. In dieser Situation verließ Chopin im Jahr 1830 Warschau zum Zweck von Konzertreisen und hielt sich in Wien auf, als er dort vom Warschauer

Novemberaufstand erfuhr; und als dieser von zaristischen Truppen niedergeschlagen wurde, befand Chopin sich in Stuttgart. Seine Reise führte ihn weiter nach Paris. Anders als geplant kehrte er später nicht mehr zurück nach Warschau.

Im Jahr 1830 entstand auch die Nocturne in cis-Moll (KK IVa Nr. 16, Lento con gran espressione) als letztes Stück, bevor Chopin Warschau verließ. In diesem Sinne, so merkt es Kramer an, könne man diese Nocturne als sein polnischstes Werk verstehen (vgl. 2007, S. 73). Chopin komponierte sie als zweites Stück dieser Art und überarbeitete sie mehrmals über die folgenden Jahre hinweg (vgl. Stein 2004, S. 760). Die Gattung der Nocturnes in dieser Form wurde zwar vor allem durch Chopin bekannt und geprägt, sie geht aber auf den irischen Komponisten John Field (1782-1837) zurück. Nocturnes sind Charakterstücke für Klavier mit ruhiger Melodielinie und arpeggierter Begleitung (vgl. hierzu z. B. Lotz 2000, S. 112f.). Dabei steht der nachdenkliche Gefühlsausdruck mit Nuancen wie Wehmut, Mattigkeit oder Trost im Vordergrund und weniger die Virtuosität (vgl. Samson 1991, S. 116), wobei allerdings das in Chopins Musik häufig vorzufindende „Tempo rubato“ auch bei diesen Stücken eine große Rolle spielt. Vor allem diese Nocturne in cis-Moll wirkt durch die gegebene Tonart melancholisch und nach innen gekehrt.

Abbildung 2: Beginn der Nocturne cis-Moll von Frédéric Chopin (Henle c 1980)

Im Film Der Pianist ist die Nocturne gleich zu Beginn in der Eröffnungssequenz zu hören. Es werden Aufnahmen aus den 1930er-Jahren gezeigt, die von diesem Stück begleitet werden;

es wird also zuerst kurz als Hintergrundmusik eingeführt. Während im Bild die Szene gegen Ende des 7. Taktes wechselt, wird die Musik weitergeführt. Man sieht nun Władysław Szpilman am Klavier in der Aufnahmekabine des Rundfunkgebäudes. Die Quelle der Musik taucht damit auch im Bild auf und wird Teil der Handlung. Der Musiker wird bei seiner Arbeit vorgestellt, als er dieses Stück spielt. Von draußen ist im Verlauf der

Aufnahmesituation ein erster Bombeneinschlag zu hören, den Szpilman noch ignoriert. Der zweite Einschlag trifft das Gebäude direkt und lässt den Raum erschüttern. Szpilman wird davon kurz unterbrochen, spielt daraufhin jedoch trotzdem weiter. Erst als er selbst durch einen erneuten Einschlag zu Boden stürzt, muss er sein Klavierspiel abbrechen (zu Beginn des Taktes 29). Das Geräusch des Bombeneinschlags wird abgelöst von Sirenenalarm, der in die nächste Einstellung übergeht. Mit dieser Szene wird dem Filmzuschauer einerseits das Leben und die Arbeit Szpilmans vorgestellt, andererseits deutet die Bombardierung die politische Situation in Warschau und die damit verbundenen Konsequenzen bereits an. Die Unterbrechung seines Klavierspiels zeigt ebenfalls, dass er von einem Moment auf den anderen aus seinem gewohnten Umfeld als Musiker herausgerissen wird.

Zum Ende des Films, nachdem Szpilman die Kriegsgräuel überlebt hat, wird er in der gleichen Situation erneut gezeigt (Sequenz 52)61. Er spielt wieder die Nocturne, die bereits zum Ende der Sequenz 51 eingeleitet wird, also auch hier wieder für kurze Zeit ein anderes Geschehen im Bild begleitet, ohne sichtbaren Zusammenhang zur Quelle der Musik, bevor die Einstellung mit Blick auf Szpilman erscheint (zu Beginn der Wiederholung des Taktes 1).

Der Protagonist spielt die Nocturne demzufolge auch diesmal von Beginn an, mit dem Unterschied, dass er sie jetzt nicht abbrechen muss, sondern die zwangsläufige Unterbrechung zu Kriegsbeginn nun vollenden kann. Im Film selbst erklingt jedoch nicht die ganze Nocturne, sondern sie wird in Takt 24 ausgeblendet bzw. verschmilzt mit dem Geräusch der nächste Szene (Vogelgezwitscher), wird also davon abgelöst. Im Vergleich zum abrupten Ende durch den Einschlag in der ersten Filmszene, erfolgt hier eine besonders sanfte Ablösung durch die folgende Szene – vor allem, wenn man sich vor Augen hält, dass im vorherigen Verlauf des Films als angenehm zu empfindende Naturgeräusche wie Vogelgezwitscher nicht existieren. Auch wenn der Zuschauer somit das Stück nicht in voller Länge zu Gehör bekommt, entsteht für ihn dennoch der Eindruck, dass Szpilman es diesmal beendet.

Für den Film bildet das Musikstück damit eine „narrative Klammer“ (Volk 2002, S. 10), da es abschließend im gleichen Rahmen verwendet wird wie in der Eingangssequenz, allerdings jeweils unter verschiedenen Bedingungen. Das Gleichgewicht wird durch diesen filmischen Rückgriff jedoch wieder hergestellt. Kramer spricht in diesem Zusammenhang von einer symbolischen Gleichartigkeit der beiden Rundfunkaufführungen: „Live radio broadcasts by Szpilman that devote the power of the mass media, the Nazis‘ favorite propaganda tool, to the dissemination of music as high art.“ (2007, S. 67) Der Film scheine damit zwei Gedanken

61 Die Nummerierung der Sequenzen beruht auf dem im Anhang A eingefügten Sequenzprotokoll.

zu bestätigen, die oft aufgrund des Holocaust selbst geleugnet werden. Damit meint Kramer, dass Kunst und vor allem Musik eine universelle Sprache spreche und ebenso eine zutiefst zivilisatorische Kraft sei (vgl. ebd.). Des Weiteren merkt Kramer zum erneuten Erscheinen der Nocturne allerdings an, dass sie in diesem Kontext als zu schön oder aufgedonnert und auch als zu leicht wirkt (vgl. ebd., S. 73). Lesser hingegen bemerkt zu dieser Schlussszene folgendes, indem sie Bezug auf eine Aussage von Piotr Pazinski in einem jüdischen Monatsmagazin nimmt:

„Er sitzt dort, spielt Chopin und lächelt sogar – als sei in den vergangenen sechs Jahren nichts geschehen, als hätten die Nazis nicht seine ganze Familie ermordet, seine Freunde, Bekannten, Nachbarn. Während die meisten polnischen Kritiker Polanski ein billiges Happyend vorwerfen, ist für Pazinski klar, dass diese Szene für die vermeintliche Normalität steht, in der sich Juden nach dem Überleben der Ghettos und Konzentrationslager einrichten mussten. Dass Szpilman ein Gezeichneter ist, dem die Außenwelt dies nicht unbedingt ansieht.“ (Lesser 2002, o. S.)

Lesser fügt hinzu, dass laut Pazinski die Szene möglicherweise größere Bedeutung habe, als der Zuschauer sie einschätzt. Man müsse bedenken, dass Szpilman, nachdem er seine Erinnerungen niedergeschrieben hatte, nie mehr darüber gesprochen habe; auch Polański hat sich mit seiner Vergangenheit in Krakau öffentlich nicht mehr direkt auseinandergesetzt. Daher sei die Szene symbolisch gemeint, „als ein Triumph des Lebens und der Kunst über den Tod und die Vernichtung“ (Piotr Pazinski, zit. n. Lesser 2002, o. S.).

Einige Filmkritiker (vgl. hierzu z. B. Rumpf o. J. sowie Volk 2002, S. 19)62 gehen ohne weiteren Zweifel davon aus, dass Szpilman tatsächlich die Nocturne spielte, während das Rundfunkgebäude bombardiert wurde. Auch Biermann erwähnt in einer seiner Anmerkungen zu Szpilmans Memoiren die Nocturne cis-Moll: „Er war es, der den Sendebetrieb nach dem Kriege mit demselben Stück von Chopin wieder eröffnete, das er am letzten Tag im Hagel der deutschen Geschosse und Bomben live im Radio gespielt hatte“ (Anmerkung 37 des Essays von Wolf Biermann als Nachwort zu Szpilman 2005, S. 225). Szpilman selbst spricht in seinem Buch jedoch lediglich ein „Chopin-Recital“ (2005, S. 25) an, das er spielte, als er zum letzten Mal vor Schließung des Rundfunks arbeitete – Einschläge gab es laut seiner Schilderung durchaus, allerdings in unmittelbarer Umgebung des Funkhauses, nicht direkt in das Rundfunkgebäude. Demzufolge wurde auch die

62 Mike Rumpf stellte sich im Rahmen dieses Forschungsprojekts als einer der befragten Experten zur Verfügung. Bei dieser Gelegenheit konnte geklärt werden, welche Quelle er für seine Aussage diesbezüglich benutzt hatte. Besagte Aussage ist Teil seiner Rezension zur CD Wladyslaw Szpilman.

The Original Recordings of the Pianist; die zugehörige Information entnahm er direkt dem Booklet-Text ebenjener rezensierten CD.

Bombardierung des Gebäudes zum Zeitpunkt, als Szpilman sich noch darin befand, zu filmdramaturgischen Zwecken eingearbeitet: als „plötzlichen gewaltsamen ‚Einbruch‘ des Krieges“ (Jacke 2010, S. 226). Welches Stück er nach dem Krieg erstmals im Rundfunk spielte, erwähnt Szpilman selbst ebenfalls nicht, jedoch führt er die Nocturne in einem anderen Zusammenhang an: Sie war das Stück, welches er dem deutschen Offizier vortrug (vgl. Szpilman 2005, S. 173).