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3 Qualität und Quantität, Potentialität, Utensilität

4 Die Weltzeit

In der kurzen Einführung zum vierten Paragraphen verwendet Sartre die zwei Phrasen „die universelle Zeit“ und „die universelle Zeitlichkeit“. Er macht also offenbar einen Unterschied zwischen „Zeit“ und „Zeitlichkeit“.

Die Frage erhebt sich deshalb: Welchen Unterschied macht er zwischen beiden?

Nur das Für-sich kann als Ekstase Zeitlichkeit sein, aber auf dem nicht-thetischen Bewusstseinsniveau ist es nicht Bewusstsein von dieser Zeitlich-keit. Nein, das Für-sich entdeckt die Zeitlichkeit am Sein, z. B. an den verschiedenen Dieses und an deren Permanenz, Wesen, Potentialität und Utensilität, wie wir vorhin schon gesehen haben. Das An-sich kann keine Zeitlichkeit sein, weil es ist, was es ist. Das Für-sich, das auf nicht-theti-schem Niveau die Zeitlichkeit draussen am Sein entdeckt, ist auf dem selben Niveau imstande, diese Zeitlichtkeit als universelle Zeit, als Vergan-genheit, Gegenwart und Zukunft, zu erleben. In dieser Interpretation ist die universelle Zeit eigentlich die auf nicht-thetischem Niveau entdeckte (ent-hüllte) Zeitlichkeit. Als entdeckte Zeitlichkeit ist die universelle Zeit Vergan-genheit, Gegenwart und Zukunft. Deshalb kann ein An-sich als entdecktes (enthülltes) Dieses, obwohl es als nicht-entdecktes Dieses selbstverständlich ist, zwar nicht wie ein Für-sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sein, diese aber wohl haben.

Auf diesen zweideutigen Charakter des Dieses, an dem einerseits die Zeitlichkeit entdeckt wird, und das andererseits ist, was es ist, kommen wir im Nachstehenden zurück. Allererst sei festgestellt, dass ein Dieses, so bald ich es in der Wahrnehmung als solches zur Erscheinung bringe, seine drei zeitlichen Dimensionen schon hat, weil ich als Für-sich Zeitlichkeit bin.

Diese drei Dimensionen des Dieses sind, so könnte man sagen, die

Korre-late der zeitlichen Dimensionen, die das Für-sich ist. Wir haben ja gesehen, dass die Knospe von mir als zukünftige Blüte wahrgenommen (erlebt) wird, weil ich von meiner Vergangenheit heraus weiss, dass die Knospe Blüte sein wird. Das heisst aber nicht, dass die Knospe seine Zukunft und seine Vergangenheit ist (wie das für das Für-sich der Fall ist) – es ist ja als Dieses das, was es ist – sondern nur, dass ihre Zukunft – ontologisch betrachtet – auf eine merkwürdige Weise schon existiert. Der ontologische Status der Potentialitäten ist ja – wie wir schon sahen – wieder der Permanenz ein An-sich als Nichts. Das ist denn auch der Grund, aus dem ein Dieses den vorhin schon erwähnten zweideutigen Charakter hat. Es ist – wenn man die Wahrnehmung ausser Betracht lässt – was es ist und zugleich ist es durch die Wahrnehmung verzeitlicht worden und als solches ist es ein Nichts.

Die Gegenwart

Am Ende des vorigen Paragraphen wurde festgestellt, dass ich der univer-sellen Zeitlichkeit u. a. durch die Gegenwart entgehe. Diese Entgehen ist eine transzendierende Aktivität. Wieso? Weil ich eine Grenze zum Nicht-Sein überschreite. „Die Gegenwart des Für-sich ist Anwesenheit beim Sein, und als solche ist sie nicht“ (SN 384; EN 259, Hervorhebung von L. F.). Aber zugleich ist dieses Sein Erscheinung und als solche ist es in der Gegenwart seiend. „Aus diesem Grund bietet sich die Gegenwart antino-misch dar als nicht seiend, wenn sie erlebt wird, und als einziges Mass des Seins, insofern es sich als das seiend enthüllt, was es in der Gegenwart ist“

(SN 384; EN 260, Hervorhebung von L. F.).4

Ebenso wie Sartres Meinung nach das „Verschwinden und Erscheinen“

(vgl. die Grenzpotentialität des Dieses) vom Sein her kommt, so wird be-hauptet, dass die Ruhe und die Bewegung, die in „dialektischem Bezug zueinander stehen“, auch vom Sein her zur Gegenwart kommen. Sartre macht einen Unterschied zwischen Bewegung und Veränderung, denn die Bewegung „setzt […] die Permanenz der Quiddität voraus“ (SN 384;

EN 260), während die Veränderung „Änderung der Qualität des Dieses“

(SN 384; EN 260) ist. Die Frage erhebt sich, wenn die Bewegung weder vom Für-sich noch vom An-sich (sei es eine Dieses oder das An-sich en bloc) abgeleitet werden kann, was ist denn – ontologisch betrachtet – der

4 In diesem Zitat wird zweimal das Pronom „es“ verwendet, wo „sie“ hätte stehen müssen.

(cf. den französischen Text: „que le Présent […] lorsqu’il est vécu […] en tant qu’il se dévoile.“)

131 7 Die Transzendenz

Grund dafür, dass es Bewegung gibt. Selbstverständlich bringt das Für-sich die Bewegung zum Erscheinen, das heisst aber nicht, dass es auch die Be-wegung erschafft. Diese kommt vom Sein selbst her, sie ist eine ontologische Tatsache („Faktum“), „sie hat teil an der ganzen Kontingenz des Seins und muss als ein Gegebenes hingenommen werden“ (SN 385; EN 260).

Wenn also die Ableitung der Bewegung nicht möglich ist, so ist aber ihre Beschreibung nicht allein möglich, sondern auch notwendig. Es ist für Sartre gewiss, dass in der Bewegung „die Quiddität des Dieses unverändert bleibt“

(SN 385; EN 261). Diese Selbstverständlichkeit ist s. E. der Grund dafür, dass die Theorien von z. B. Einstein auf einen so grossen Widerstand gestossen sind. Aber die Bewegung ist in diesen Theorien, sagt er, ein

„völlig entsubstantialisierter Bezug“ (SN 386; EN 261) und ist deshalb als solcher nicht von dieser Kritik betroffen.

Die Tatsache aber, dass das Bewegte beim Start und beim Ziel mit sich selbst identisch ist, das heisst bei den beiden Stasen, die die Bewegung einrahmen, besagt nichts über das, was es gewesen ist, als es in Bewegung war. Ebensowenig die Tatsache, dass das Bewegte während seiner Be wegung verschiedene Positionen einnimmt, und „dass es in jeder Position sich selbst gleich erscheint“, denn diese Positionen definieren „denn durchquerten Raum und nicht die Bewegung selbst“ (SN 386; EN 261, Hervorhebung von L. F.). Die Tendenz, das Bewegte wie ein Sein im Ruhestand zu betrachten

„steht am Ursprung der eleatischen Aporien“ (SN 386; EN 261).

Zusammenfassend könnte man sagen, dass Sartre zwei Thesen ver teidigt:

(1) Bewegung ist nicht gleichbedeutend mit Veränderung, und (2) Sein in Bewegung verändert nicht, die Quidditäten verändern nicht, nur die Seins-weise der Qualitäten dieser Quidditäten verändern.

Die Zukunft

Als Gegenwart bin ich Anwesenheit bei einem realen An-sich. Deshalb bin ich als Zukunft auch Anwesenheit bei einem An-sich, das in enger Verbin-dung mit dem An-sich steht, bei dem ich als Gegenwart anwesend bin. Wir stellen fest, dass (1) ich in meiner Zukunft „Transzendenz“ bin, insofern ich jenseits des realen An-sich bei einem modifizierten An-sich anwesend bin, und (2) dass meine Zukunft und die Zukunft der Welt nicht als zwei Zukünfte, sondern als eine Zukunft gedacht werden. Diese eine Zukunft nun wird schon gedacht, wenn ich mich mit der Potentialität oder der Utensilität eines Dieses beschäftige, „weil eben seine Permanenz und seine Utensilität als Tisch oder als Tintenfass [Tisch und Tintenfass sind zwei

Beispiele eines Dieses] uns auf die Zukunft verweisen“ (SN 393; EN 266).

Und dann: „Vom Erscheinen der Welt und der ‚Dieses‘ an gibt es eine universelle Zukunft“ (SN 393; EN 266). Was haben wir unter einer univer-sellen Zukunft zu verstehen? Sobald die Welt und die Dieses erscheinen gibt es die universelle Zukunft, aber es gibt mehrere Zukünfte der Welt, die sich durch Chancen definieren und autonome Wahrscheinlichkeiten werden.

Sartre meint, dass die universelle Zukunft als Rahmen dieser verschiedenen Zukünfte zu betrachten sei. Dass es eine Zukunft gebe und geben werde

„gleich welches Wahrscheinliche sich durchsetzen muss“, und dass die universelle Zukunft eigentlich ein Behälter sei von diesen wahrscheinlichen Zukünften.

Was hat nun die Zeit und die Zeitlichkeit mit der Transzendenz zu tun?

Die Beantwortung dieser Frage ist von grösster Wichtigkeit für das zen-trale Thema des ganzen Kapitels. Sartre antwortet: „Insofern sich die Zeit einer ek-statischen Zeitlichkeit entdeckt, ist sie überall Transzendenz zu sich und Verweis vom Vorher auf das Nachher und vom Nachher auf das Vorher. Aber insofern sich die Zeit am An-sich erfassen lässt, hat sie die Transzendenz zu nicht zu sein, sie wird in ihr geseint. Die Kohäsion der Zeit ist ein blosses Phantom“ (SN 395; EN 267). Also: Die Zeit ist Trans-zendenz, aber die universelle Zeit ist eigentlich, wie wir vorhin sahen, entdeckte Zeitlichkeit. Die Zeit existiert eigentlich nur, insofern sie entdeckt wird. Das meint Sartre unserer Meinung nach, wenn er schreibt: „Hat sie [= die Zeit] die Transzendenz zu sich nicht zu sein, sie wird in ihr geseint“.

Das heisst, dass nur, insofern sich das Für-sich als Zeitlichkeit realisiert und so die Zeitlichkeit als Zeit entdeckt, i. e. nur insofern das Für-sich sich als Zeitlichkeit in ihr (= die Zeit) manifestiert, die Zeit transzendent ist, d. h.

dass die Zeit ihre Transzendenz nur dem Für-sich verdankt und dass eine Hypostasierung dieser Transzendenz ein Phantom ergibt, wie in den Wor-ten „Die Kohäsion der Zeit ist ein blosses Phantom“ ausgedrückt wird.