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Subjektivität und Wert

2 Die Faktizität

3 Subjektivität und Wert

Im Verlauf einer relativ komplexen Ausarbeitung (SN 181–99; EN 127–39) wagt sich Sartre daran, zu zeigen, „dass die menschliche­Realität das ist, wodurch der Wert in die Welt kommt“ (SN 195; EN 137). Nach unserer vorherigen Darstellung bedeutet dies: Die menschliche­Realität, ständig in einem Spannungsfeld zwischen Naturalisierung (Verdinglichung) und Sub­

jektivierung, „bestimmt sich fortwährend selbst dazu, das An­sich nicht zu sein“ (SN 183; EN 128). Demnach lässt sich das Bewusstsein durch den Mangel definieren: Das An­sich, welches das ist, was es ist, „verlangt nichts für sich, um sich zu vervollständigen“ (SN 185; EN 130), aber dem Für­sich wird eigentlich verweigert, sich als vollständig, als vollendet (wie in sich geschlossen) zu denken. Diese kontinuierliche Bejahung der Unfertigkeit impliziert gerade, dass die „menschliche­ Realität“ als Mangel gelebt wird:

Als ein Mangel an dem, was sie als Totalität erfüllen würde, oder auch als Wunsch in dem Sinne, dass der Wunsch von dem Sein, das ihm fehlt,

„heimgesucht“ wird: Da sich die „menschliche­Realität“ als „unvollständi­

ges Sein“ begreift – aber auch als das seiend, was sie ist (Bewusstsein, also Mangel in dem Sinne, keine Totalität zu sein, die zwar angestrebt, doch nie erreicht wird) – ist sie „dauerndes Überschreiten auf eine Koinzidenz mit sich hin, die niemals gegeben ist“ (SN 189; EN 133).

Die völlige Übereinstimmung oder die reine Immanenz mit sich ist dagegen das Kennzeichen des An­sich (im Gegensatz zum Für­sich, das Transzendenz ist). Besagt das nun, dass das Für­sich, indem es diese „Koin­

zidenz mit sich“ anstrebt, sich im An­sich zu verneinen sucht? Sartre prä­

zi siert (und hier wird seine Argumentation ein wenig verwickelt und ver­

dient eine aufmerksamere Analyse), dass die Totalität, die vom Bewusstsein angepeilt wird, tatsächlich nicht das reine und simple An­sich sein kann.

Denn wäre es so, suchte das Bewusstsein ja seine Vernichtung durch die Auflösung im An-sich, wo sich doch seine ganze Anstrengung darauf rich-tet, sich vom An-sich loszureissen. Doch was kann das Bewusstsein anstre-ben, wenn es sich nicht im An-sich verlieren will? Sartres Antwort, so wird man wohl zugeben müssen, besticht nicht gerade durch Klarheit: „Für das Für-sich als solches beansprucht das Für-sich das An-sich-sein“ (SN 190;

EN 133).

Betrachten wir die Argumentation näher. Über seine dauernde Subjek-tivierungsbemühung strebt das Bewusstsein eine vollkommene Koinzidenz mit der Dimension des Für-sich – d. h. mit der Dimension des Losreissens, der Transzendenz oder der Nichtung (des nicht-zu-sein, der Nicht-Koinzi-denz) – an, das es als solches konstituiert. Kurz: Es zielt auf das reine Für sich, auf ein Koinzidieren mit der Nicht-Koinzidenz. Dieses Streben könnte indessen nur ein Fortschreiten ins Unendliche eröffnen, denn er-stens müsste ein Abschluss eine unablässige Nichtung der Kontingenz vor-aussetzen, wie auch eine Fähigkeit, sich nie mit der mindesten Dimension der Faktizität identifizieren zu lassen. Zweitens würde der Abschluss dieses Fortschreitens die Nichtung (das Für-sich) zum Sein (zum An-sich) herab-setzen. In diesem Sinn ist das Für-sich immer Mangel an sich selbst als absolutem sich: „Dieses dauernd abwesende Sein, von dem das Für-sich heimgesucht wird, ist somit es selbst als zu An-Für-sich erstarrt“ (SN 190;

EN 133).

Die anvisierte Koinzidenz mit sich als Für-sich müsste auch wie „die unmögliche Synthese des Für-sich und des An-sich“ (SN 190; EN 133) erscheinen, da eine solche Synthese, wenn sie möglich wäre, der Erschei-nung des Für-sich ohne Faktizität gleichkäme (die genau aus diesem Grund vielleicht Gott, aber nicht mehr Für-sich wäre). Sartre nennt das Produkt dieser unmöglichen Synthese das Sich: „Was das Für-sich verfehlt, ist das Sich – oder Sich-selbst [d. h. das Für-sich, A. R.] als An-sich“ (SN 188;

EN 132). Das Sein, welches das Für-sich anstrebt, ist „das Sich“, das „nur als dauernd schwindender Bezug existieren kann“ (SN 190; EN 133), das aber, wenn es substantiell würde, in sich die „unvereinbaren Eigenschaften des An-sich und Für-sich“ (SN 191; EN 133) vereinen würde. Nun weist die Fortsetzung der Analyse (SN 195; EN 136) darauf hin, dass wir auch sagen können, „das Sein des Sich“ sei „der Wert“. Dieses Sich, das nicht als eine Substanz zu denken wäre (da die Synthese unmöglich ist), sei dasselbe wie das, was die Moralisten Wert nennen: Ein Absolutes, das aber kein Sein hat, denn „der höchste Wert, auf den hin sich das Bewusstsein in jedem Moment selbst übersteigt“, ist „das absolute Sein des Sich mit seinen Iden-titätsmerkmalen der Reinheit, der Dauer, usw. und insofern es Grund von

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sich ist“; das, was wir die Werte nennen, entspricht korrelativ einfach der Aufzählung der Merkmale von diesem Sich, von dieser „verfehlte[n] Tota-lität, zu der hin ihn ein Sein sich sein macht“ (SN 197; EN 138).

Da die Nichtung das Sich anstrebt, d. h. im Grunde die Freiheit als reine Autonomie (da sie absolute Selbst-Gründung ohne Faktizität ist), ist der Wert dieses „Sein, welches das (Für-sich) hat, um zu sein, insofern es der Grund seines eigenen Nichtssein ist“ (d. h. insofern seine Freiheit darin besteht, sich von dem, was es ist, loszureissen). Es genügt auch nicht zu sagen, dass der Wert „durch das Für-sich gesetzt wird“; der Wert ist diesem vielmehr „konsubstantiell“, so dass es nur „von seinem Wert heim-ge sucht[es]“ Bewusstsein gibt (SN 198; EN 138). Kurz: Der Wert ist weder das, was das Für-Sich setzt, noch ein Objekt, das ihm gegenüber existiert und das es zu kennen hätte; vielmehr bedeutet, als Bewusstsein oder als Für-Sich zu existieren, den Wert als diese Art von Mangel sichtbar werden zu lassen, der mich konstituiert. Sobald ich nicht mehr nach dem Modus einer Sache bin, was ich bin, sondern als ein Bewusstsein existiere – d. h.

indem ich als Reflexion auf das zurückkomme, was ich bin, und indem ich mich auf Distanz zu ihm [dem Bewusstsein] setze (was, laut Sartre, der wahrhaftige Sinn des Cogito ist) –, enthülle ich die Werte. „So kann das reflexive Bewusstsein [d. h. das Bewusstsein bezüglich dessen, was es Spezi-fisches hat, A. R.] eigentlich moralisches Bewusstsein genannt werden, da es nicht auftauchen kann, ohne zugleich die Werte zu enthüllen“ (SN 199;

EN 139).

Damit ist auch der Grund aufgedeckt, weshalb die Ontologie der

„mensch lichen-Realität“ von selbst zur Ethik führt: Das Bewusstsein ist eigentlich moralisches Bewusstsein, die Subjektivität ist eigentlich prak-tische Subjektivität – ob sie nun ihre Aufmerksamkeit ausdrücklich auf die Werte richtet oder nicht. Da die philosophischen Konsequenzen dieser Beweisführung ziemlich erheblich sind, verdienen sie die Mühe, in ihrem Umfang gut überdacht zu werden.

Die Konsequenzen dieser praktischen Vertiefung der Subjektivität wer-den darüber hinaus durch eine letzte Bestimmung unterstrichen, die Sartre dem Für-sich zuerkennt, und mit der er den Abriss seiner Theorie des Sub-jekts abschliesst. Das Für-sich, schreibt er, sei „ein Sein, das seine eigene Möglichkeit ist“ (SN 206; EN 144). Die Formel ist so zu verstehen, als ob das Subjekt das Wesen wäre, für das es (in seinem Sein) eine Beziehung zu Möglichkeiten gäbe. Lässt man Sartres Ausführungen über den allgemein-en Status des Möglichallgemein-en einmal auf der Seite, ist diese letzte Bestimmung des Subjekts kaum geheimnisvoll: Insofern das Für-sich Nicht-Koinzidenz mit sich ist, lässt das Entreissen von dem, was es ist (die Subjektivierung)

ständig Möglichkeiten auftauchen, die es nicht ist, auf die hin es sich aber ununterbrochen entwirft. Anders gesagt: Das Mögliche ist hier nur „ein neuer Aspekt der Nichtung des An-sich durch das Für-sich“ – in dem Sinne, dass zu sein für das Subjekt bedeutet, seine eigene Möglichkeit als solche zu sein, als einfaches Mögliches. Allerdings ist klar, dass das An-sich das Für-sich vollständig aufsaugte, wenn alle Möglichkeiten real würden (da ja das erstere, weit davon entfernt, nicht das zu sein, was es ist, dann alles wäre, was es sein kann – wie es der Fall für das Ding ist). Um diese letzte Bestimmung mit der vorhergehenden zu verbinden, kann man sagen, das Mögliche sei „das, woran es dem Für-sich mangelt, um sich sein zu können“

(SN 211; EN 147), und das, auf das hin es sich entwirft, indem es sich von dem losreisst, was es ist. Auf das Thema der Möglichkeiten wird Sartre am Schluss seines Werkes wieder zurückkommen, wenn er einen Über-gang zur Moralphilosophie skizziert und dabei hervorhebt, wie wir in der Angst entdecken, dass wir aus Möglichkeiten der „menschlichen-Realität“

konstituiert seien, welche nur „auf der Grundlage der Möglichkeit anderer Möglichkeiten“ (SN 1071; EN 722) möglich seien. Diese klare Neuinter-pretation der Angsterfahrung in Begriffen der Offenbarung von Freiheit lässt, da sie uns vor eine Wahl stellt, das Bewusstsein gerade als eine eigen-tliche Verantwortung und damit als moralisches Bewusstsein auftauchen.

Die Ontologie des Für-sich macht, indem sie die Errungenschaften der husserlschen Intentionalitätstheorie in einer Untersuchung sui generis ein-setzt, mit grosser Schärfe sichtbar, wie es, ausgehend von dieser Neuinter-pretation des Bewusstseins als moralischem Bewusstsein (oder des Cogito als praktischem Subjekt), nur natürlich war, Das Sein und das Nichts als eine ethische Untersuchung zu verstehen. Wenn die Freiheit die Quelle jedes Wertes ist (d. h. wenn sie das ist, wodurch der Wert in die Welt kommt), muss sie dann „sich selbst als Wert nehmen“ (SN 1072; EN 772), wie die letzten Zeilen des Werkes logischerweise fragen, und muss man erwägen, dass das letzte Prinzip der Moral nichts anderes ist als „eine Freiheit, die sich als Freiheit will“ (SN 1072; EN 772)? Ein bedrängendes Problem!

Liess sich wirklich auf dem Unterbau der Gesamtcharakterisierung der

„menschlichen-Realität“, wie sie das Kapitel über die Strukturen des Für-Sich ausarbeitete, eine Moral aufbauen? Die weitere Lektüre des Werkes sollte es erlauben, sich diesbezüglich eine Überzeugung zu bilden, aber schon jetzt ist zumindest Folgendes klar: Wenn das Prinzip der Ethik als eine „Freiheit, die sich als Freiheit will“ verstanden werden soll, würde die Annahme dieses Prinzips erfordern (um nur schon mit der Existenz einer Moral vereinbar zu sein), dass diese sich selbst wollende Freiheit in Begriffen der Willensautonomie zu verstehen ist. Machte indessen Sartres

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neue Ausarbeitung des Cogito von dieser Möglichkeit Gebrauch? Zumin-dest Zweifel sind angebracht, wenn man beobachtet, wie die Analyse der verschiedenen „Für-Andere“-Modalitäten im dritten Teil des Buches die Beziehungen zum anderen als Bedrohungen für die Freiheit des Subjekts erscheinen lässt. Wie sollte man unter diesen Bedingungen nicht befürch-ten, dass diese Freiheit, die sich als Freiheit will und in der Sartre den höch-sten Wert erblickt, sich bloss auf die pure einfache Individualität in ihrer nicht weiter zurückführbaren Eigenart reduziert? Wenn das der Fall ist, gibt es einige gewichtige Gründe für eine skeptische Einschätzung: Die in diesem Kapitel ausgeführte Neubestimmung der Philosophie des Subjekts hat sich trotz allem, was sie im Hinblick auf gewisse Ausrichtungen zeitge-nössischer Theorien der Subjektivität vorwegnimmt – was nicht alle Mittel in die Hand gegeben, um ihre Versprechungen im Bereich der prak tischen Philosophie einlösen zu können.

Aus dem Französischen übersetzt von Peter Mosberger.

Literatur

Jeanson, Francis 1965: Le problème moral et la pensée de Sartre, Paris, Seuil.

Renaut, Alain 1993: Sartre. Le dernier philosophe. Paris, Grasset.

Der wesentliche Inhalt Der Gang, den Sartres Zeitkapitel1 nimmt, kehrt die Sachordnung in gewisser Hinsicht um. Das Kapitel beginnt mit einer Phänomenologie der drei Zeitdimensionen (I), die man Modi zu nennen pflegt und die Sartre auch als Ekstasen bezeichnet. Aber von vornherein ist dem Verfasser be-wusst, dass diese Dimensionen – Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft – ihren vollen Sinn aus einer ursprünglichen Zeitlichkeit empfangen, die erst eine die Phänomenologie fundierende Ontologie aufdecken kann (II) und gegen ihre psychische Erscheinung abgrenzen muss (III). Auch die Bin-nengliederung des ersten Teils folgt nicht dem Aufbau der Sache. Der nicht eigens begründete Anfang mit der Vergangenheit lässt zumindest einen gewissen Vorrang der Gegenwart unberücksichtigt.2

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