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Die Gleichgültigkeit, die Begierde, der Hass, der Sadismus

1 Liebe, Sprache, Masochismus

2 Die Gleichgültigkeit, die Begierde, der Hass, der Sadismus

Obwohl Sartre mit diesen Begriffen die zweite Haltung gegenüber anderen bezeichnet, weisen sie doch eher auf einen alternativen Weg hin, unser Sein­für­andere zu übernehmen, als auf eine Fortsetzungsmöglichkeit nach dem Misslingen der ersten Haltung. Keine der Haltungen kommt eigent­

lich zuerst. Wieder geht es um meinen Versuch, die Kontrolle über die Freiheit des Anderen zu gewinnen, soweit sie meine eigene Objektivität begründet. In diesem Fall benutzt das Subjekt unmittelbarere Mittel als die Verführung, um seine Transzendenz zum Ausdruck zu bringen, ohne jene des Andern zu zerstören, was, wie wir wissen, das Projekt unterminie­

ren und es [das Subjekt] seiner eigenen Objektivität beraubt zurücklassen würde. Obgleich Sartre es nicht explizit erwähnt, lässt sich eine gewisse Progression in diesen vier Formen der zweiten Haltung aufspüren: Von der Gleichgültigkeit über die Begierde zum Hass und schliesslich zum sadistischen Entwurf.

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Sartre beschreibt Gleichgültigkeit gegenüber anderen als „eine Art von faktischem Solipsismus“ (SN 665; EN 449). Es ist eine sich selbst auferlegte Blindheit gegenüber der Realität des Anderen, die unbestimmt lange auf-rechterhalten werden kann. Ich streife Menschen, an denen ich auf der Strasse vorbeigehe, wie ich eine Wand streife. In einem gewissen Sinn gemahnt dies an Martin Bubers ‚Ich/Es‘-Beziehung; ich betrachte solche Menschen als Funktionen und lerne die ‚Zauberworte‘, die ihre Mechanis-men freisetzen. Aber wie alle Zustände der Unaufrichtigkeit, versieht uns die Gleichgültigkeit auch mit Motiven, damit wir ihr entkommen, „denn die Blindheit gegenüber dem andern lässt gleichzeitig jedes erlebte Er-fassen meiner Objektivität verschwinden“ (SN 667; EN 450).

Die sexuelle Begierde wird von Sartre beschrieben als: „Mein ursprüng-licher Versuch, mich der freien Subjektivität des andern über seine Objek-tivität-für-mich zu bemächtigen“ (SN 669; EN 451). Vorausgesetzt, dass das spezifische Geschlecht für die empirische Wissenschaft eine kontin-gente Sache ist, verbunden mit der Folgerung, dass es keine ontologische Relevanz hat – eine Behauptung, die viele Feministinnen vehement be-streiten (vgl. Irigary 1984) – beharrt Sartre darauf, dass „die Begierde und ihre Umkehrung, der sexuelle Abscheu, fundamentale Strukturen des Für-Andere-seins sind“ (SN 670; EN 452). Er beginnt seine Untersuchung damit, dass er uns an die „affektive Intentionalität“ erinnert, die Scheler und Husserl beschreiben und die er in diesem Werk auch diskutiert hat.

Tatsächlich hatte Sartre die Intentionalität des affektiven Bewusstseins auch schon in seinen früheren psychologischen Studien analysiert, haupt-sächlich in Skizze einer Theorie der Emotionen. Die intentionale Begierde strebt nach einem transzendenten Objekt. Das Objekt der sexuellen Be-gierde ist Körper-in-Situation, d. h. ein Körper, der ein eigenes Bewusst-sein enthüllt: „Ein lebender Körper als organische Totalität in Situation mit dem Bewusstsein am Horizont: das ist das Objekt, auf das die Begierde sich richtet“ (SN 675; EN 455).

Um Sartres Bemerkungen über das entweder affektive oder imaginative Bewusstsein richtig einschätzen zu können, gilt es zu erkennen, dass er an die Grenzen der traditionellen Intentionalitätsdoktrin stösst. Das bedeutet z. B., dass wir uns ein Bild oder ein Gefühl nicht als ein inneres Phänomen vorstellen, das mit seiner externen Quelle durch eine kausale Verbindung verknüpft ist.

Gerade so wie der Umstand, sich Bewusstsein vorzustellen, ein potentiell wahrnehmbares Objekt „derealisiert“, demgegenüber es deshalb eine neue Haltung einnimmt, so gilt auch hier: „Wer begehrt, existiert seinen Körper auf eine besondere Weise und begibt sich dadurch auf eine besondere Existenz-ebene“ (SN 676; EN 455). Sartre nennt diesen Modus „getrübt“ oder

„aufge-wühlt“ – wie Wasser, das seine friedliche Durchsichtigkeit verliert. Aber im Unterschied zur körperlichen Aufgewühltheit des Leibes, z. B. beim Hunger-gefühl, hat die sexuelle Begierde ihr Ziel im sexuell erregten Körper des Andern, den sie durch die eigene Erregung zu liebkosen versucht, d. h. da-durch, dass sie sich bewusst zum Leib macht. Sartres Wort für diesen erregten Körper ist „Fleisch“ (la chair), und er zieht den Schluss, dass „ich mich in der Begierde zu Fleisch mache in Anwesenheit des Andern, um mir das Fleisch des Andern anzueignen“ (SN 680; EN 458). (Für eine aufschlussreiche Illustration dieses Phänomens vgl. Nagel 1979). Wenn der Körper des Andern ursprüng-lich Körper in Situation ist, wie Sartre insistiert, erscheint „das Fleisch dagegen […] als blosse Kontingenz der Anwesenheit“ (SN 681; EN 458). In einem der besser bekannten Abschnitte des Buches unternimmt Sartre eine phänomeno-logische Analyse der Liebkosung: „Die Begierde drückt sich durch Streicheln aus wie das Denken durch Sprechen“ (SN 682; EN 459). Das Streicheln ist dabei ebensowenig eine innere Realität, die einen Ausdruck oder ein Freisetzen durch einen äusseren Akt sucht, wie Denken ein inneres Phänomen ist, das die Worte zu finden versucht, um seine Bedeutung der äusseren Welt mitzuteilen.

Eine solche Innen/Aussen-Ontologie oder -Epistemologie ist durch Sartres strenges Festhalten am husserlschen Prinzip der Intentionalität und an seiner eigenen Ontologie des In-Situation-seins von Anfang an ausgeschlossen. Eine Welt der Begierde taucht auf, korrelativ zu meinem begehrenden Bewusstsein und dem Fleisch, das es enthüllt. Zuvor hatte Sartre den Leib charakterisiert als

„das Instrument, das ich nicht mittels irgendeines Instruments benutzen kann“

(SN 600; EN 406); d. h. als die Bedingung der Möglichkeit dafür, überhaupt irgendein Instrument benutzen zu können. Aber als Fleisch ist meine Bezie-hung zu den Objekten in der Welt nicht länger nur eine des instrumentellen Gebrauchs. „Ich entdecke […] so etwas wie ein Fleisch der Objekte“. Diese Objekte „sind dann die transzendente Gesamtheit, durch die mir meine Fleischwerdung enthüllt wird“ (SN 685; EN 461). Wie es Sartre beschreibt:

„Von diesem Gesichtspunkt aus ist die Begierde nicht nur die Verklebung eines Bewusstseins durch seine Faktizität, sie ist korrelativ die Verklebung eines Körpers durch die Welt; und die Welt macht sich klebrig; das Bewusstsein versinkt in einem Körper, der in der Welt versinkt“ (SN 685–6; EN 461–2).

Aber diese Veränderung in der Welt geschieht um des begehrten Anderen willen: „Die Begierde ist ein ursprünglicher Modus der Beziehungen zum Andern, der den andern als begehrenswertes Fleisch auf dem Hintergrund einer Welt der Begierde konstituiert“ (SN 687; EN 462).

Mit einer deutlich maskulinen Voreingenommenheit, die viele feministi-sche Kritikerinnen abstösst (vgl. Collins und Pierce 1973), fügt Sartre hin-zu, dass die Begierde sich dem eigenen Misslingen stellen kann, wenn sie

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nimmt und eindringt, statt einfach streichelt. In diesem Mass hört mein Körper auf, Fleisch zu sein, und gleitet in die Instrumentalität seiner ur-sprünglichen Beziehung zur Welt zurück; der Andere ist einmal mehr ein Ding-unter-Dingen, oder, im äussersten Fall, eine transzendierte Trans-zendenz. Diese Bedingung ist der Ursprung des Sadismus, den Sartre als

„ein Bemühen, den Andern mit Gewalt Fleisch werden zu lassen“, be-schreibt. Und er fügt hinzu: „Diese ‚gewaltsame‘ Fleischwerdung muss bereits Aneignung und Benutzung des andern sein“ (SN 697; EN 469). Mit einer Bemerkung, an der Foucault Anstoss nehmen würde (vgl. Foucault 1994, IV, 331–2), behauptet Sartre, der Sadist fürchte den Zustand der Erregung bei sich selber; er wolle diesen Zustand im Andern bewirken, kontrollieren und benutzen. Während die Begierde auf gegenseitige In-karnation abziele, beabsichtige der Sadismus die Nicht-Reziprozität.

Obwohl Sartre in seinen Überlegungen zum Sadismus den üblichen Bezug auf das Zufügen von Schmerz macht, liegt sein eigener Beitrag bei dieser Diskussion eigentlich in seiner Phänomenologie des Obszönen.

Er versteht darunter eine Art des Für-andere-seins, das zur Gattung des Nicht-Anmutigen zählt. Wenn das Anmutige das „bewegliche Bild der Not wendigkeit und der Freiheit“ ist (SN 699; EN 470), dann ist das Nicht-Anmutige die Abwesenheit jeder dieser Komponenten. Nach Sartres Auf-fassung macht die Anmut, indem sie das Fleisch des Andern sowohl enthüllt als auch verbirgt, des Andern Fleisch unzugänglich. Der Sadist dagegen

„sucht die Anmut zu zerstören, um eine andere Synthese des andern real zu konstitutieren. […] bei der Anmut enthielt und verhüllte die Freiheit die Faktizität; bei der zu schaffenden neuen Synthese enthält und verbirgt die Faktizität die Freiheit“ (SN 702; EN 472).

Sartre bestreitet, dass Sadismus bloss der Ausdruck eines Willens zu dominieren oder eines Machtdurstes sei. Das seien abgeleitete Erklärun-gen. Was erläutert werden müsse, sei der eigentliche Wille selbst, und dieser habe seine ontologischen Wurzeln, folgert Sartre, in der „Unruhe gegenüber dem andern“ (SN 704; EN 473). Das sei sowohl die Grundlage des Sadismus wie der Liebe. Sie teilten dasselbe Ziel: Die Selbst-Ver-sklavung der Freiheit.

In einer Beobachtung, mit der sich Sartre in Das Sein und das Nichts noch am ehesten einer positiv reziproken Beziehung annähert, kontrastiert er das Fleisch-als-Instrument des Sadisten mit dem Fleisch als unbrauchbarer Faktizität, dem eigentlichen Objekt der Begierde. Dieser Widerspruch von Fleisch und Instrumentalität signalisiert das letztendliche Misslingen des sadistischen Projekts. Die reziproke Inkarnation der Begierde liess wenig-stens jede Partei mit der Realisierung ihrer absoluten Kontingenz zurück,

sogar als sie vergebens danach trachtete, diese Kontingenz in der gefessel-ten Freiheit des Andern zu begründen. Der Sadist dagegen bleibt mit einem Fleisch zurück, das er nicht gebrauchen, dessen Hülle er nur phy-sisch besitzen kann. Darauf wird er unmittelbar aufmerksam, wenn der Andere ihn anblickt. Der Spiess wird nun umgedreht: Seine eigene Trans-zendenz wird transzendiert, und in diesem Moment realisiert er, dass ihm die Freiheit, die er zu versklaven wünschte, entglitten ist.

Sartre versichert uns, dass er nicht versuche, alle Haltungen gegenüber dem Anderen auf diese sexuellen Haltungen zu reduzieren; als ob er eine gewisse Libido voraussetze, die alle unsere Beziehungen durchdringe. Aber er insistiert darauf, dass sie fundamental sei und dass „alle komplexen Ver-haltensweisen der Menschen zueinander nur Bereicherungen dieser beiden ursprünglichen Haltungen [vermutlich Begierde/Sadismus und Liebe/Ma-sochismus: T. F.] sind (und einer dritten des Hasses, die wir bald beschreiben werden)“ (SN 710; EN 477). Was als ein Pansexualismus erscheinen könnte, wird durch Sartres Hinweis abgeschwächt, dass die meisten unserer Haltun-gen geHaltun-genüber anderen nicht „bloss der Sexualität entlehnte VerkleidunHaltun-gen sind“ (SN 710; EN 478). Darüber hinaus gebe es, ohne Freud zu nahe zu treten, keine Notwendigkeit, einen sexuellen Entwurf vorauszusetzen, der in einem unbewussten Zustand in uns verharrt: „Ein Entwurf des Für-sich kann nur in bewusster Gestalt existieren“ (SN 711; EN 478).

So sind wir einmal mehr mit einem Zirkel konfrontiert, nicht unähnlich dem Zirkel der Selbstheit, und aus einem ähnlichen ontologischen Grund:

Das Für-sich bezieht sich auf das An-sich durch eine nichtende und trans-zendierende Beziehung. Durch das Auftauchen einer anderen Freiheit wird diese Beziehung modifiziert, weil das, was transzendiert wird, nun eine andere Transzendenz ist. Aber der Zirkel dreht sich weiter: Entweder trans-zendiere ich den Andern oder ich werde von ihm transzendiert; eine Syn-these ist nicht möglich. Als ob er die Lösung, die er selbst später mit der Einführung der Gruppe-in-Fusion (le groupe en fusion) in der Critique an-bieten wird, ausschliessen wollte, insistiert Sartre: „Aber keiner dieser bei-den Zustände genügt sich selbst, und wir können uns nie konkret auf eine Gleichheitsebene stellen, das heisst auf die Ebene, wo die Anerkennung der Freiheit des Andern die Anerkennung unserer Freiheit durch den An-dern nach sich zöge“ (SN 712–3; EN 479).

Sartre erwägt kurz eine Haltung, die er als eine Alternative zu den zwei Grundhaltungen von Liebe und Begierde betrachtet – nämlich den Hass, den er als ein Trachten nach dem Tod des Andern beschreibt. Hass bedeu-tet, von den zwei bisher diskutierten Haltungen der Liebe und der Be-gierde abzulassen. Statt zu versuchen, die Freiheit des Andern einzufangen,

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strebe ich im Hass danach, mich vom Andern und von meinem entspre-chenden Objekt-sein völlig zu lösen. Das aber impliziert, dass ich von allen andern befreit werden will, weshalb ich mich auch durch den Hass eines Anderen bedroht fühle, selbst wenn dieser unmissverständlich auf jemand anders gerichtet ist. Im Unterschied zur Verachtung, die durch ein Übel, dem ich zum Opfer gefallen bin, verursacht wird, kann Hass bei Gelegen-heit einer Liebenswürdigkeit entstehen, weil letztere meinen Objekt-Zu-stand in Bezug auf die Freiheit des Andern betont. Deshalb, so argumen-tiert Sartre, sei die Dankbarkeit dem Hass so nahe.

Aber auch diese dritte Haltung schlägt fehl. Sogar wenn es mir gelänge, mich von allen anderen zu befreien, könnte ich nicht der Faktizität ent-fliehen, in der Vergangenheit durch das Auftauchen der anderen entfrem-det worden zu sein. Das bleibt das untilgbare Kennzeichen meines Für-andere-seins als einer permanenten Möglichkeit meines Seins. Angesichts dieses Misslingens „bleibt dem Für-sich nichts weiter übrig, als in den Zirkel zurückzukehren und sich endlos zwischen der einen und der andern der beiden grundlegenden Haltungen hin und her werfen zu lassen“

(SN 719; EN 484). Und weiter: „Diese Überlegungen schliessen nicht die Möglichkeit einer Moral der Befreiung und des Heils aus. Aber diese muss am Ende einer radikalen Konversion erreicht werden, von der wir hier nicht sprechen können“ (ebd., Anmerkung). Obwohl die Natur dieser radi-kalen Konversion viel diskutiert worden ist, scheint der Hinweis auf die Möglichkeit einer solchen Konversion die These zu bestätigen, dass die in Sartres Werk konstruierte phänomenologische Ontologie auf eine Gesell-schaft vor einer solchen Konversion – oder vielleicht auch Revolution – zutrifft. Und Sartres spätere Überlegungen zu einer Ethik der Nicht-Ent-fremdung und der authentischen Liebe in Cahiers pour une morale (vgl.

Cahiers 523), wie auch die in der Kritik der dialektischen Vernunft (vgl. Kritik 309 ff. [t. I, 397 ff.]) aufgestellte soziale Ontologie, dienen dazu, die vorher-gehende Diskussion über konkrete Beziehungen zu anderen zu kontex-tualisieren und zu historisieren.